Freitag, 1. Februar 2008

Die reine buddhistische Praxis bewahren und sie weitergeben (Teil 2)

„Das Bewahren der reinen Praxis“ und deren Weitergabe an die Schüler und Nachfolger wird von Meister Dôgen im Kapitel 30 (Gyoji) behandelt, das in der großen Ausgabe des Shôbôgenzô aus zwei Teilen besteht und das längste und umfangreichste Kapitel ist.

Nishijima Roshi beim Vortrag
Es ist zwar theoretisch nicht so anspruchsvoll wie die großen Grundlagenkapitel, z. B. „Das verwirklichte Universum“ (Genjô Kôan), „Die Sein-Zeit“ (Uji), „Das Sutra der Berge und
Wasser“ (Sansui gyô) oder „Die Buddhanatur „(Busshô).
Aber es handelt sich um außerordentlich kraftvolle und wichtige Aussagen, die auch für den praktischen Weg des Buddha-Dharma eine große Motivationskraft und Leitbild-Funktion haben. In diesem Kapitel wird Wesentliches zur Geschichte des Buddhismus in Indien und China zusammengefasst, und anhand der historischen Beschreibungen bekommen wir einen lebendigen Einblick in das Leben und die Lehren der großen Meister.
Dôgen legt dabei den größten Wert auf eine umfassende Darstellung, die nicht nur die Lehre und Theorie umfasst, sondern vor allem auch das wirkliche Handeln, also die reine Praxis und deren authentische Weitergabe an die Nachfolger, die den wahren Buddha-Dharma oder wie Dôgen es nennt, "die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" mit großer Verantwortung für das Echte weitergeben. Dôgen lehnt sowohl die Überbetonung der Theorie und Lehre als auch eine einseitige Zen-Praxis bestimmter Schulen ab, denn auch die bisweilen zu beobachtende Theorie-Feindlichkeit einiger „Zen-Buddhisten“ führt nicht weiter. Beides gehört unbedingt zusammen.
Ohne tief greifende Kenntnisse der buddhistischen Lehre ist es außerordentlich schwierig, den wahren Buddhismus zu erlernen, sodass Meister Dôgen auch eine zu einseitige Koan-Praxis nicht für fruchtbar hält. Bekanntlich reiste er suchend und hoffend nach China, obgleich die Koan-Praxis bereits in Japan angekommen war, um dort den umfassenden Buddha-Dharma kennenzulernen, zu studieren und zu erfahren.

Dôgen hält die Zazen-Praxis des Shikantaza für unverzichtbar auf dem Buddhaweg, und diese reine Praxis war in seiner Zeit zunächst in Japan unbekannt. Es ist sein großes Verdienst, dass er sie bei seinem eigenen Meister Tendô Nyojô von Grund auf erlernte und diese Praxis dann in Japan einführte und z. B. die erste große Zazen-Halle für Shikantaza errichtete. Er verwendet dafür kräftige und poetische Formulierungen:

"Zazen ist das Tor des Friedens und der Freude zum Buddha-Dharma" oder "beim Zazen lässt man Körper und Geist fallen" aber auch "beim Zazen durchstößt man den Himmel."
Es ist unbestritten, dass es zunächst einiger Willenskraft bedarf, um täglich Zazen zu praktizieren, und nicht nur wenn man an einer Sesshin teilnimmt, dort in der Gruppe zusammen sitzt und ein Lehrer oder Meister die Leitung innehat und motiviert. Auch Nishijima Roshi hält die tägliche Praxis für unverzichtbar und empfiehlt uns dringend, zweimal am Tag Zazen zu praktizieren. Nur dann könne man den Zustand des inneren und äußeren Gleichgewichts in seinem Alltag aufrechterhalten, an der kosmischen Kraft von Ruhe und Gelassenheit teilhaben und mit richtigen intuitiven Entscheidungen schnell und ungehindert handeln.
Am Anfang des zweiten Teils dieses Kapitels beschäftigt sich Dôgen ausführlich mit Meister Bodhidharma, der aus Süd-Indien kommend nach China ging, dort die reine Praxis lehrte und an seinen Nachfolger weitergab. Er sagt dazu:

"Bodhidharma kam in ein unbekanntes Land: Gewöhnliche Menschen, die an ihrem Körper und an ihrem Leben hängen, könnten nicht mal einen solchen Gedanken fassen. Es muss allein das Bewahren der reinen Praxis und das daraus entstandene große Mitgefühl gewesen sein, die Bodhidharma veranlasste, den Dharma (in China) weiterzugeben, um alle fühlenden Wesen von ihren Täuschungen zu erlösen."

Nach Dôgens Verständnis gab es damals in China eine verwirrende Diskussion über theoretische Fragen und Probleme des Buddhismus, obgleich umfangreiche Übersetzungen der Sanskrit-Texte ins Chinesische bereits geleistet worden waren. Es mangelte jedoch an der umfassenden Praxis von Körper und Geist, und vor allem war die Zazen-Praxis in China noch unbekannt. Daher war der Buddhismus theorie-lastig und in rituelle Formen eingezwängt, die zwar eigentlich den buddhistischen Sinn vermitteln sollten, die aber häufig durch ihre erstarrte Form genau das Gegenteil erzeugten. Dôgen fährt dann fort:

"Dies war so, weil das Universum der zehn Richtungen die wahre Wirklichkeit ist. Dies war so, weil (Bodhidharma) selbst das große Universum der zehn Richtungen war und weil das ganze Universum der zehn Richtungen das ganze Universum der zehn Richtungen ist."

Hier wird also die wahre buddhistische Lehre und Praxis mit der Wirklichkeit in der Welt und im Universum gleichgesetzt. Buddhismus kann daher auf keinen Fall spekulative Philosophie sein, so interessant und beeindruckend derartige Glasperlenspiele des Verstandes auch sein mögen. Aber häufig führen sie von der Wirklichkeit fort, und wer sich darin verliert und verstrickt, wird nach Gautama Buddha leiden müssen, weil er sich aus den Verstrickungen und Verfilzungen der Täuschungen nicht mehr lösen kann. Der Verstand wirkt also für psychisches Leiden oft wie eine Sackgasse, aus der man sich oft allein nicht befreien kann. Wer will in seiner psychischen Entwicklung schon ohne Notwendigkeit zurückgehen, um an eine frühere Stelle zu gelangen, wo sich die bessere und richtige Alternative eröffnet und wo dann auch ein neuer Lernprozess auf uns wartet? Dies ist für die meisten nicht einfach! Aber "Zen-Geist“ ist „Anfänger-Geist", wie der berühmte Titel des großen Meisters Shunryu Suzuki lautet.

Bodhidharma war der Erbe und Thron-Nachfolger eines großen und reichen Königreiches in Südindien und entschloss sich dessen ungeachtet die lange, gefährliche und aufwendige Reise nach China zu unternehmen, wie ihm dies sein eigener buddhistischer Lehrer geraten hatte. Es wird berichtet, dass er ein verhältnismäßig großes Schiff mit vielen Mönchen zur Verfügung hatte, um nach China zu reisen, eine damals sehr ungewöhnliche und auch gefährliche Fahrt über viele Tausende von Seemeilen bis zum nördlichen China. Er landete im Jahre 523 in einem Hafen nicht weit von Shanghai entfernt und wurde dort vom zuständigen Gouverneur in aller Form empfangen. Dieser meldete dem Kaiser Bu (oft auch Wu genannt) die Ankunft des Meisters, und da sich dieser außerordentlich stark im Buddhismus engagiert hatte, heißt es, dass er hochbeglückt war und Bodhidharma einen Boten als Geleit entgegen sandte.
Dôgen beschreibt dann im Einzelnen das berühmte Gespräch zwischen dem indischen Meister und Kaiser Bu: Dieser fragte:

"Seit ich den Thron bestieg, kann niemand die Klöster zählen, die ich errichten, die Sutra, die ich kopieren, und die Menschen, die ich Priester werden ließ. Welche Verdienste habe ich damit gewonnen?"
Bodhidharma
antwortete mutig und kurz in seiner ehrlichen Art: "Nicht das geringste Verdienst."
Der Kaiser war natürlich verblüfft und fragte weiter:

"Weshalb sind damit keine Verdienste gewonnen?"

Wir können annehmen, dass der Kaiser damals an eine recht vereinfachte Form der Karma-Lehre glaubte, dass man nämlich durch gute Taten besonders gutes Karma anhäufen kann, sodass man eine ausgezeichnete Wiedergeburt im nächsten Leben erlangt oder vielleicht sogar schon direkt ins Nirwana eingehen kann. Der Meister sagte aber unverblümt:

"All dies sind nur die unbedeutenden Resultate der Menschen und Götter, die das Überflüssige erzeugen. Sie sind wie Schatten, die den Erscheinungen folgen. Obwohl sie existieren, sind sie nicht wirklich."

Dieses Gespräch zeigt, dass sich hier zwei bedeutende Menschen ihrer Zeit begegnen, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen denken, handeln und reden. Bodhidharma stammte aus einem reichen Königshaus, das dem Kaiser Bu sicher durchaus ebenbürtig war, wenn man überhaupt einen solchen Vergleich heranziehen will. Aber er hatte die Welt des äußeren Glanzes, der Macht und des Reichtums verlassen und kam als einfacher Buddhist an den Hof des chinesischen Kaisers. Er wollte dort den wahren Buddhismus und die reine Praxis lehren und hatte die lange und beschwerliche Reise sicher nicht auf sich genommen, um sich bei Kaiser Bu in einen spekulativen Small Talk einzulassen. Dieser ließ jedoch nicht locker und war sicher ein gebildeter Mann, sodass er weiter fragte:

"Was ist wahres Verdienst?" Bodhidharma antwortete:
"Die reine Weisheit, die wunderbar und vollkommen ist. Ein Körper, der aus sich selbst heraus leer und ruhig ist. Ein solches Verdienst ist jenseits dieser (materiellen) Welt."

Sicher konnte Kaiser Bu mit diesen Aussagen überhaupt nichts anfangen und musste seinen ersten Anlauf für ein interessantes und anregendes Gespräch mit dem großen Meister aus Indien wohl abschreiben. Aber er setzte ein zweites Mal an und fragte:

"Welche ist die höchste aller heiligen Wahrheiten?" Bodhidharma antwortete:
"Sie ist strahlend, offenkundig und nicht heilig."

Er wollte sicher damit ausdrücken, dass der Buddhismus die Wirklichkeit selbst ist, während der Zusatz "heilig" von den Menschen vergeben wird und eine Idee ist, die das Wesentliche der Wirklichkeit oft verschleiert und zu schwärmerischen Idealisierungen führt.
Kaiser Bu versuchte es noch ein drittes Mal und fragte:

"Wer (aber) ist der Mensch, der vor mir steht?", und der Meister antwortete:
"Ich weiß es nicht."
Dôgen
schließt dieses Gespräch in seinen eigenen Worten ab:

"Der Kaiser konnte (das Ganze) nicht verstehen und der Meister wusste, dass die Zeit noch nicht reif war."

Dieses berühmte Gespräch wirft ein helles Licht auf den Buddhismus des Jahres 523 in China, bevor Bodhidharma dort die reine Praxis lehren konnte. Es waren zwar bereits sehr umfangreiche Übersetzungsarbeiten geleistet worden und es gab viele Klöster mit Mönchen und Äbten, die übrigens damals vom Kaiser selbst eingesetzt wurden. Der Kaiser Bu war sicher an der buddhistischen Lehre sehr interessiert, hatte eine erhebliche Vorfreude auf die Begegnung mit dem großen indischen Meister gehabt, aber das Gespräch ging dann gründlich daneben. Bodhidharma hat dabei außerordentlich großen Mut bewiesen, überhaupt vor Kaisers Thron offen und unmissverständlich zu reden, obgleich dies dem Kaiser sicher überhaupt nicht gefallen konnte und dieser es sicher nicht gewohnt war, ein offenes Gespräch zu führen. Er war wohl hauptsächlich von Schmeichlern und Ja-Sagern umgeben, denen ihre eigene Karriere und ihr eigenes Leben wichtiger waren als ein direkter ehrlicher Dialog.

Es wird berichtet, dass Meister Bodhidharma dann heimlich den Kaiserhof und die Hauptstadt verließ, sicher auch, weil er um sein Leben fürchten musste. Er wanderte dann weiter in nördliche Richtung in das Reich der Wei-Dynastie und fand im Kloster Shorin Unterkunft, wo er seine Zazen-Praxis unbeirrt, ruhig und kraftvoll fortsetzte.
Es wird berichtet, dass er verleumdet wurde, und dass man ihm nach dem Leben trachtete und ihn vergiften wollte. Dôgen führt hierbei einen Übersetzer indischer Herkunft als potentiellen Mörder an, der etwa zwanzig Jahre früher nach China gekommen war und der offensichtlich fürchtete, dass Bodhidharma seinen Ruhm schmälern könnte. Vielleicht würde er sogar auf Übersetzungsfehler aufmerksam machen Dieser Übersetzer hatte auch nicht die Dharmaübertragung erhalten und war daher selbst kein Meister in einer authentischen Übertragungslinie wie Bodhidharma. Wie einseitige Theorie-Lehrer des Buddhismus können Übersetzer zwar durch ihre Sprachkenntnisse eine Übertragung in eine fremde Sprache leisten, aber wenn sie nicht Teil der reinen Praxis sind, muss ihnen der wahre Inhalt verborgen bleiben. Damit wird auch sicher ein mögliches Problem des Westens bei buddhistischen Übersetzungen angesprochen. Es ist verständlich, dass die Übersetzer dann fürchten müssen, ihr Ansehen und ihren Ruhm zu verlieren, wenn sie in Konkurrenz zu einem echten Meister stehen.

Dôgen führt außerdem einen chinesischen „Lehrer der Gebote“ als weiteren potentiellen Mörder von Bodhidharma an, denn auch dieser soll versucht haben, ihn zu vergiften und damit auszuschalten. Wir können daraus schließen, dass sich damals in China bereits ein umfangreiches Regelwerk mit vielen Geboten und Festlegungen entwickelt hatte und dass es erhebliche formale Vorschriften für Abläufe und Verhaltensweisen gab, die für die Mönche bindend waren und bei Verletzung schwere Strafen nach sich zogen. Ein Spezialist auf diesem Gebiet der formalen Gebote muss sicher ebenfalls den wahren Meister fürchten, weil er die Gebote und Texte für das buddhistischen Verhalten zwar überwacht, aber deren tiefen Sinn und Moral in seinem eigenen Leben und Beruf überhaupt nicht verwirklichen kann.
Auch hier drängt sich ein Vergleich mit der Gegenwart auf: Manche verwechseln formale Vorschriften des Zen-Buddhismus und auch anderer buddhistische Traditionen mit dem wirklichen Inhalt des Buddha-Dharma. Derartige Gebote haben sicher die Funktion, den Buddhaweg zu stützen und der Lehre eine äußere Form zu geben. Aber sie sind in Gefahr, sich zu verselbstständigen und nicht zuletzt dazu benutzt zu werden, um andere bei Regelverstößen zu erwischen, um sie dann bloßzustellen und möglichst auch zu bestrafen.
Nach Dôgen kann es keinen Gegensatz von Form und Inhalt geben, sodass das buddhistische Handeln mit Verständnis, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Sanftheit maßgeblich ist und in seiner Bedeutung wesentlich höher eingestuft werden muss als formale Vorschriften und deren Beachtung. Der Buddhismus ist positiv, lebensbejahend, friedlich und wirklichkeitsbezogen, wie Nishijima Roshi immer wieder betont, und dies darf auch nicht bei Formvorschriften und Regeln für das richtige Verhalten beiseite gelassen werden.

Ein wahrer Meister wie Bodhidharma musste sich also leider den Verleumdungen des Übersetzers und des Gebote-Lehrers aussetzen und sogar um sein Leben fürchten, weil beide Rollenträger einen wahren Meister als gefährlichen Konkurrenten einstuften, den sie unbedingt auszuschalten wollten. Es wird berichtet, dass Bodhidharma sich auf derartige Konkurrenzkämpfe überhaupt nicht einließ, sondern die beiden Herren zwar freundlich behandelte, aber gab sich keinen Illusionen hin, was diese im Schilde führten. So setzte er unbeeindruckt seine Zazen-Praxis fort, weil er wusste, dass es von größter Bedeutung war, sein eigenes inneres und äußeres Gleichgewicht zu behalten, um überhaupt den wahren Dharma und die reine Praxis in China lehren zu können.

Meister Dôgen betont dann die außerordentlich große Bedeutung der Arbeit von Bodhidharma in China und äußert seine tiefe Dankbarkeit, denn ohne diesen wäre die buddhistische Praxis überhaupt nicht nach Ostasien gekommen und hätte auch ihn selbst nicht erreicht. Er sagt:

"Wenn der erste Vorfahre im Dharma (in China) nicht vom Westen gekommen wäre, wie hätten die Menschen der Länder im Osten den authentischen Buddha-Dharma sonst sehen und hören können? Sie hätten sich nur nutzlos mit den Namen und Formen von Sandkörnern und Steinen befasst. Jetzt können sogar (die Menschen) in unserem weit abgelegenen Land (Japan), die sich in Felle kleiden und Hörner auf dem Kopf tragen, den wahren Dharma hören ... Dass wir alle erlöst wurden, ist einzig dem Bewahren der reinen Praxis unseres großen Vorfahren zu verdanken, der den Ozean überquerte."
Er sagte weiter:
"(China) war nicht der Ort, wohin ein großer Heiliger, der den Schatz des Dharma empfangen und bewahrt hatte, gehen würde, es sei denn, er besäße die Kraft großer Beharrlichkeit und unendlicher Güte."

Dôgen lehnt dann wieder den Begriff "Zen"als Unterscheidung von einem "anderen Buddhismus" ab, da es sich hierbei nicht um eine buddhistische Schule handelt, wie er überhaupt die Aufsplitterung in verschiedene Schulen grundsätzlich ablehnte und vor den Folgen der gegenseitigen Abgrenzung und Ideologisierung warnte. Für ihn gab es nur einen einzigen Buddha-Dharma, nämlich die
„Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, die authentisch von einem Buddha zum anderen und von einem Nachfolger zum nächsten übertragen worden ist."

Ohne Meister Bodhidharma wäre der wahre Buddhismus nicht in Ostasien, also in China, Korea und Japan, angekommen und hätte auch uns im Westen nicht von dort erreicht.