Montag, 8. September 2008

Die Wirklichkeit des Raumes (Teil 2)

Das Koan-Gespräch in Teil 1 wird fast im selben Wortlaut auch im Shinji-Shobogenzo Bd. 3, Nr. 49 wiedergegeben. Nishijima Roshi kommentiert es wie folgt:



Teefeld beim Kloster Tokei In

"Um den Raum zu greifen, erfasst Seido die Luft mit seinen Händen. Dieses Verhalten bedeutet, dass der Raum nicht nur eine Vorstellung ist, sondern ganz wirklich. Um den Raum zu ergreifen, sollte unser Handeln auch wirklich sein. Meister Shakkyo wendete eine Methode an, die noch direkter war: Er zog blitzschnell an Seidos Nase und indem dieser das Objekt eines derartigen gewalttätigen Aktes wurde, verwirklichte Seido das, was Raum ist. Diese Geschichte lehrt, dass die buddhistische Lehre kein ausgedachtes Konzept ist, sie verweist auf die Wirklichkeit hier und jetzt."

Vorher hatte Seido gedacht, dass jemand den Raum als ein getrenntes „Objekt“ ergreift, aber plötzlich begegnete er sich selbst. Dôgen sagt dazu:

"Gleichzeitig ist es nicht erlaubt, das Selbst zu verunreinigen: das Selbst muss praktiziert werden."

Dôgen ist allerdings mit dem Handeln des Meisters Shakkyo nicht ganz zufrieden und sagt, dass es nicht seine eigene Erfahrung als Grundlage hat. Der Raum ist Teil des Universums und kann nicht gesondert praktiziert werden. Dôgen bedauert, dass es in den großen fünf buddhistischen Linien nur wenige gegeben hat, die "den Raum ergründet" haben. Er gibt Meister Shakkyo folgenden Rat:

"Du hättest die Nase von dir selbst ergreifen sollen, wenn du den Raum ergreifen wolltest. Dies hättest du tun sollen, bevor du Seidos Nase ergriffen hast."

Gleichwohl gesteht er Meister Shakkyo zu, dass er einiges davon versteht, durch das wahre Verhalten den Raum zu ergreifen. Am Ende dieses ersten Teils des Kapitels sagt Dôgen:

"Wir sollten (die Lehre) bewahren und auf sie vertrauen. Wir sollten mit Anstrengung die Wahrheit suchen und den Geist erwecken, dass sowohl die Praxis-und-Erfahrung und als auch die Lehren und Fragen der Buddhas und Vorfahren im Dharma genau das Ergreifen des Raumes sind."

Damit spricht Dôgen den höchsten Zustand der vierten Lebensphilosophie nach Nishijima Roshi an. Danach ist die Wirklichkeit mit dem Universum unauflösbar verbunden. Dôgen zitiert am Ende dieses Abschnitts einen Ausspruch seines Meisters Tendô Nyojô, den er einen ewigen Buddha nennt:

"Der ganze Körper wie ein Mund, hängend im Raum."

Dieses Zitat, das die Windglocke, die im Raum hängt, mit dem Mund gleichsetzt, ist grundsätzlich der physischen Sichtweise der Form zuzuordnen. Eine Windglocke, die in Asien in der Nähe von Tempeln und Häusern aufgehängt wurde, gibt wohlklingende Töne von sich, wenn sie von den Windströmungen erfasst wird. Diese nehmen wir mit den Ohren wahr. Tendô Nyojô spricht daher von einem Mund, der wie die Windglocke im Raum hängt. Dies ist gleichzeitig eine poetische und weiterführende Formulierung, die in der Tat von der Harmonie und Großartigkeit unserer Welt kündet. Bei Dôgen ist also die materielle Sichtweise keineswegs sinnentleert, oberflächlich und verkümmert, sondern umfasst auch die höchste Wirklichkeit in ihrer natürlichen Poesie.
Im zweiten Teil des Kapitels gibt Dôgen ein Koan-Gespräch des großen Meisters Baso mit einem Theoretiker namens Ryo wieder, der offensichtlich keine eigene Erfahrung der Zazen-Praxis hatte. Der Meister fragte Ryo, welche Lektüre er gerade liest und dieser antwortete, dass er das Herz-Sutra studiert. Auf die Frage, womit er eigentlich lesen würde, sagt dieser: "Ich lese mit dem Geist." Darauf sagt Meister Baso:

"(Es wird gesagt), der Geist ist wie ein führender Schauspieler als Leiter, der Wille ist wie ein unterstützender Schauspieler, die sechs Arten des Bewusstseins sind die begleitende Besetzung: Wie sind diese in der Lage, einen Vortrag über das Sutra (für Dich) zu halten?"

Ryo sagt darauf:
"Wenn der Geist nicht in der Lage ist, einen Vortrag zu halten(, dem ich zuhöre), dann ist der Raum noch weniger in der Lage, einen Vortrag zu halten, nicht wahr?"


Meister Baso antwortete jedoch:

"Der Raum ist in der Tat (wirklich) in der Lage, selbst einen Vortrag zu halten."

Der Theoretiker Ryo schwenkte darauf bedeutsam mit seinen weiten Ärmeln und wollte damit offensichtlich seine Geringschätzung gegenüber dem Meister ausdrücken und sich zurückziehen. Dieser rief ihn jedoch zurück und sagte:

"Von der Geburt bis zum hohen Alter ist es genau dieses."

In diesem Augenblick erlangte der Lehrer Ryo die wahre Einsicht und das Erwachen. Schließlich verschwand er auf einem Berg und man hat niemals wieder von ihm gehört.
Dôgen erklärt, dass jeder buddhistische Meister ein Sutra-Lehrer ist und ein Sutra-Vortrag auf jeden Fall im Raum stattfindet. Ohne Raum ist es nämlich unmöglich, Vorträge über Sutras zu halten. Nishijima Roshi sagt in seinem Kommentar zu diesem Koan (Shinji-Shobogenzo, Bd. 1, Nr. 4), dass es sich nur um einen blassen Schatten oder Geist des Buddhismus handelt, wenn man diesen nur mit dem Intellekt versteht und lehrt. Der Theoretiker Ryo konnte die Kritik von Meister Baso zunächst nicht annehmen und war stolz darauf, eine bedeutende Frage an den Meister zu stellen, ob nämlich der Raum Vorträge über die Sutras halten kann. Aber genau dies bestätigte Meister Baso und fügte noch hinzu, dass dies von der Geburt bis zum Tod genau so ist. Dadurch kam der theoretische Lehrer Ryo schließlich zur Einsicht und zur Wirklichkeit. Gleichzeitig hatte er seinen intellektuellen Hochmut überwunden
Denn in der Tat ist es unmöglich, dass die Wirklichkeit ohne den Raum existieren kann. Dies gilt für Reden, Denken, Erfahren, sowie angeborene und erworbene Intelligenz: "Alles ist im Raum." Dôgen sagt weiter:

"Der Vorgang, ein Buddha zu werden und der Vorgang, ein Nachfolger im Dharma zu werden, muss genau im Raum sein."

Ein alter indischer Meister sagte:

"Der Geist ist dasselbe wie die konkrete Welt des Raumes ..., wenn wir in der Lage sind, den Raum zu erfahren, gibt es nichts Richtiges und nichts Falsches."

Damit wird am Ende dieses Kapitels herausgearbeitet, dass die Bewertungen von Richtig und Falsch in unserer Welt durch die Menschen hinzugesetzt werden und dass es so etwas in der Natur des Raumes nicht gibt. Wenn der Geist nach Dôgen im Gleichgewicht ist, der Mensch die weiße Wand ansieht und die weiße Wand den Menschen ansieht, sind die Zäune und Mauern genauso wie der verdorrte Baum die wirkliche Welt des Raumes. Am Ende sagt er:

"Wir untersuchen nur in der Gegenwart, dass der Raum als der Schatz des wahren Dharma-Auges und der feine Geist des Nirvana so ist wie dies."

Im diesem Zitat des siebten indischen Nachfolgers im Dharma (Vasumitra) wird der Geist als wirkliche Welt des Raumes bezeichnet. Der oft im menschlichen Gehirn "eingesperrte" Geist, der durch unseren Schädel begrenzt ist, öffnet sich sozusagen und wird groß und weit wie der Raum. Er verlässt den Schädel des Ego, befreit sich und durchdringt den ganzen Raum des Universums.