Montag, 27. Juli 2009

Das Gleichnis des intuitiven Verstehens und Handelns, Saindhava (Ōsaku sendaba), Teil 1

Der Sanskrit-Begriff Saindhava, um den es in diesem Kapitel geht, bezeichnet die verschiedensten Dinge und Produkte der fruchtbaren Ebene des großen Indus-Flusses in Indien und bezieht sich auf das wirkliche Alltagsleben in dieser Gegend.
Im Kloster Ehei-ji, Japan
Nach einer alten indischen Überlieferung benutzte ein dortiger König den sehr allgemeinen Begriff Saindhava, wenn er etwas ganz Bestimmtes haben wollte. Er nannte also nicht die Bezeichnung des speziellen Produktes, das gerade in diesem Augenblick und in dieser Situation für ihn wichtig war. Wenn er zum Beispiel Wasser zum Trinken haben wollte, erbat er dies mit dem Wort Saindhava von seinen Dienern.
Wörtlich übersetzt, machte er nur die allgemeine Angabe: „Gib mir das Produkt des Indus-Beckens.“ Nach der Legende bat der König mit dem Ausdruck Saindhava bei anderen Gelegenheiten um das Salz für die Mahlzeit oder um ein Pferd zum Ausreiten. Es war dann die Aufgabe der Diener, diesen allgemeinen Begriff mit intuitivem Verständnis in der besonderen Situation richtig zu interpretieren und entsprechend zu handeln, dem König also genau das zu geben, was er gerade benötigte.

Dōgen untersucht diese gleichnishafte Geschichte, um das intuitive Verständnis und das wechselseitige Handeln zwischen zwei Menschen in der Vielfalt und undurchschaubaren Komplexität der Wirklichkeit zu beschreiben. Er stellt die Frage, wie es überhaupt möglich ist, sich trotz der inhaltlichen Unschärfe von Worten zu verständigen und richtig zu handeln. In den Basis-Kapiteln des Shōbōgenzō erarbeitet Dōgen die Grundlagen für eine umfassende buddhistische Lehre der Wirklichkeit und des Erwachens.
Diese wendet er auf das geschilderte Gleichnis an und geht damit über die damals bekannten Interpretationen hinaus. Tatsächlich gibt es in unseren Sprachen kaum ein Wort, das nicht mehrere und oft ungenaue Bedeutungen haben kann und je nach der Situation gedeutet werden muss. Dass die Kommunikation zwischen den Menschen trotzdem meistens gelingt, liegt daran, dass sie in eine Gesamtsituation eingebettet sind. Dadurch kann trotz ungenauer Bedeutungen der Begriffe eine Verständigung und entsprechendes Handeln möglich werden.

In neuerer Zeit hat sich vor allem der Philosoph Hans-Georg Gadamer eingehend mit der Interpretation von Texten und der Bedeutung von Begriffen beschäftigt und damit die Grundlage für ein neues Verständnis der Hermeneutik gelegt. Die Ergebnisse seiner philosophischen Untersuchungen entsprechen weitgehend den Lehren Dōgens, denn sie belegen, dass es letzten Endes keine Eindeutigkeit von Texten und Begriffen gibt, wenn man nicht den jeweiligen Gesamtzusammenhang und die besondere Situation genau kennt. Gadamer hat mit seinen Überlegungen zunächst bei vielen Kollegen erheblichen Widerspruch hervorgerufen, weil sie der Ansicht waren, dass auf der Basis seines Verständnisses von Sprache die Verständigung im Gespräch beliebig werde und schriftliche Darstellungen viel zu vage seien. Dies sei aber nicht zutreffend. Inzwischen sind die Erkenntnisse Gadamers jedoch weitgehend unbestritten.

Genau um diese Thematik geht es Dōgen in diesem Kapitel. Für ihn stellt die buddhistische Praxis des Zazen die wesentliche Voraussetzung dar, um die Bedeutung der buddhistischen Schriften und die Vorträge der Meister umfassend „verstehen“ zu können. Wer allein in der Theorie verhaftet bleibt und an Worten hängt, könne den wahren Sinn des Buddha-Dharma nicht erfassen. Dazu bedarf es nämlich der situativen, klaren Intuition. Dies gilt sowohl für die Welt der Ideen, als auch für die Wahrnehmung der Dinge und Phänomene, denn es müssen das Handeln und die Intuition im Augenblick hinzukommen, um in den höchsten Zustand des Erwachens oder der Erleuchtung einzugehen.

In der modernen Natur- und Geisteswissenschaft, insbesondere der Sozialwissenschaft – als wichtiger Vertreter ist hier Niklas Luhmann zu nennen –, ist es heute völlig unbestritten, dass die Wirklichkeit eine unendliche Komplexität besitzt, also niemals vollständig erforscht und verstanden werden kann. Das menschliche Denken ist daher einerseits von wesentlicher Bedeutung, um das Leben zu bewältigen, reicht aber andererseits nicht aus, die gewaltige Komplexität gänzlich zu durchleuchten, um sich im Leben zurechtzufinden.
Beim täglichen Handeln müssen wir also sowohl die Ungenauigkeit und Mehrdeutigkeit der Sprache als auch die nicht vollständig beherrschbare Komplexität der Welt und des Lebens in Einklang bringen.