Mittwoch, 5. August 2009

Das Gleichnis des intuitiven Verstehens und Handelns, Saindhava (Ōsaku sendaba),Teil 2


Wir greifen noch einmal die eingangs gestellten Fragen auf: Wie ist es möglich, dass sich die Menschen in einer bestimmten Situation trotzdem verstehen? Wie gelingt es ihnen, in der Praxis richtig und wechselseitig „passend“ zu handeln? Von Dōgen können wir mit Recht erwarten, dass er uns auf der Grundlage der wahren Lehre Gautama Buddhas dafür brauchbare Lösungen anbietet, mit deren Hilfe wir unser Leben glücklicher, klarer und mit weniger Leiden gestalten können. Er zitiert folgendes Gedicht:

„Worte – keine Worte,
Wirkliche Glyzinien und wirkliche Bäume,
Die Esel füttern, die Pferde füttern,
Klares Wasser und durchsichtige Wolken.“

Nishijima Roshi interpretiert diese Zeilen im Sinne der vier buddhistischen Lebensphilosophien, also der Ideen, der materiellen Realität, des Handelns und des höchsten Zustandes des Erwachens. Die Worte unserer Sprache gehören der Welt und Lebensphilosophie der Ideen und der Sprache an. Dies verdeutlicht die erste Zeile: „Worte – keine Worte“.
Danach müssen wir zur nächsten Lebensdimension der materiellen Realität kommen, also zur Dimension der Dinge und Phänomene. Sie wird durch die Glyzinie angesprochen, die als Rankengewächs einen Baum oder eine andere Unterlage benötigt, um zu wachsen und zu blühen. Im alten China gehörte es zum Tagesgeschäft, mit Sorgfalt die Esel und Pferde zu füttern. Dieses wichtige Handeln im Alltag ermöglichte es, dass Menschen und Tiere überlebten.
Klares Wasser und transparente ziehende Wolken werden im Buddhismus häufig als Metapher für den höchsten Zustand der Erleuchtung und Befreiung verwendet. Sie sind die Wirklichkeit selbst und dabei wird nichts Künstliches hinzugesetzt und nichts Wirkliches weggenommen. Die Wirklichkeit ist so, wie sie ist.
Dōgen zitiert dann Gautama Buddha aus dem großen Pari-Nirvāna-Sūtra:

„(...) bringe Saindhava! Saindhava ist ein (einziges) Wort für vier (verschiedene) Produkte. Das erste ist Salz, das zweite sind Gefäße, das dritte ist Wasser und das vierte sind Pferde. Diese vier Sachen haben alle dieselbe Bezeichnung. (Aber) ein weiser Diener ist in der Lage, (die Bedeutung) dieses Wortes (richtig) zu verstehen.“

In diesem gleichnishaften Zitat ist auch ein gewisser Handlungsablauf enthalten: Zum Essen benötigt man Salz, nach dem Essen möchte man Wasser trinken, und wenn der König fortreiten will, braucht er ein Pferd. Obgleich der König diese verschiedenen Wünsche durch dasselbe Wort Saindhava ausdrückt, weiß sein Diener, was er jeweils damit meint. Natürlich kommt ihm dabei auch seine Erfahrung im Umgang mit dem König und dessen Tagesablauf zugute, denn manches ergibt sich aus dem Augenblick der jeweiligen Situation.
Dōgen betont, dass ein ähnliches Handeln bei jedem von uns in der Praxis zu verwirklichen ist, also im eigenen Leben umgesetzt werden sollte. Wichtig ist dabei, dass man je nach Situation rasch und tatkräftig mit dem Handeln beginnt, unabhängig davon, in welchem Zustand sich unser Körper und Geist befinden. Dōgen hebt hervor:

„Diese Bitte des Königs um Saindhava, zusammen damit, dass der Diener Saindhava bringt, ist seit langer Zeit bis zu uns weitergegeben worden. Sie wurden normalerweise zusammen mit dem Dharma-Gewand übermittelt.“

Damit verweist er auf die enge Beziehung dieses Gleichnisses, also der Bitte und deren Erfüllung durch entsprechendes Handeln, und der Lehre des Buddhismus. Es sei so bedeutend wie das Dharma-Gewand und stellt seit der Zeit Buddhas ein wichtiges Gesprächs- und Lehrthema dar, das auch von seinen Nachfolgern immer wieder behandelt wird. Dōgen fährt fort:

„Wir können vermuten, dass diejenigen, die denselben Zustand wie den des Welt-Geehrten selbst erfahren haben, Saindhava zu ihrer eigenen Praxis gemacht haben.“

Mit dieser Aussage unterstreicht er erneut seine große Wertschätzung des Saindhava, also des wechselseitigen Handelns zweier Menschen, bei dem einer um etwas bittet und der andere diese Bitte gerne erfüllt. Die hierarchische Beziehung des Königs und seines Dieners tritt hier in den Hintergrund, denn es geht Dōgen nicht um den Befehl und den unbedingten Gehorsam, sondern er betont die enge, vertrauensvolle Übereinstimmung der beiden Handelnden in einer komplexen, vieldeutigen Welt mit ungenauen sprachlichen Begriffen. Dieses Handeln kann nur bei intuitivem Verständnis, gegenseitiger Hochachtung und wechselseitigem Wohlwollen in Übereinstimmung und Harmonie gebracht werden. Dazu führt Dōgen aus:

„Für jene, die nicht im selben Zustand wie der Welt-Geehrte sind (sage ich): Wenn du irgendwelche Strohsandalen kaufst und zu Fuß einen Schritt vorwärts gehst, hast du schon (Saindhava) bekommen!“

Damit möchte er wohl ausdrücken, dass wir uns auf den Buddha-Weg begeben, indem wir wie im alten China und Japan die Schuhe (Strohsandalen) besorgen und dann auf diesem Weg immer einen Schritt weiter nach vorne gehen. Dadurch sei das Wesentliche bereits begonnen. Ebenso ist es mit der Zazen-Praxis: Indem wir uns in der richtigen Sitzhaltung auf das Kissen niederlassen, haben wir bereits den wichtigsten Schritt getan. Denn nach Nishijima Roshi ist das sitzende Handeln im Zazen schon die erste Erleuchtung und wir lassen dabei Körper und Geist fallen und sitzen ganz in der Wirklichkeit.