Montag, 12. Oktober 2009

Das große Retreat der Sommer-Praxis (Ango), Teil 2

Im dem Gedicht wird die aufrechte Sitzhaltung der Zazen-Praxis auf dem Sitzkissen, dem Zafu, und dem flachen Untergrund beschrieben, wobei das Rückgrat senkrecht nach oben gestreckt ist und das gesamte Knochengerüst des menschlichen Körpers aufgerichtet wird.

Danach wird geschildert, dass wir einen konkreten Raum einnehmen, denn unser Körper hat eine räumliche Ausdehnung, und gleichzeitig sind wir auf diese Weise mit der Umgebung und dem Universum zu einer Einheit verbunden. Dadurch wird der gewöhnliche Dualismus zwischen mir selbst, als dem handelnden ´Subjekt´, und der Umgebung sowie den anderen Praktizierenden aufgehoben. Diese Zazen-Praxis stellt nach Nishijima Roshi die erste Erleuchtung dar, also die Einheit im Gleichgewicht von Körper, Geist und Universum.

In der vierten Zeile des Gedichtes vergleicht Tendô Nyojô die Überwindung dieser Unterscheidungen des Geistes mit einem schwarzen Lackeimer, bei dem keine Trennungen mehr zu erkennen sind. Nishijima Roshi und Cross erläutern, dass durch dieses Gedicht das einfache und klare Handeln des Zazen im gegenwärtigen Augenblick und in der konkreten Situation des Hier und Jetzt genau beschrieben wird.

Zurück zum Retreat: Auch in der heutigen Zeit gibt es bei der Sesshin einen konkreten Tagesablauf mit praktischen Arbeiten im Garten oder im Kloster, zum Beispiel zur Vorbereitung der Mahlzeiten. Diese werden zu bestimmten Zeiten gemeinsam mit dem leitenden Meister eingenommen. Jeder Teilnehmer bekommt dabei seine eigenen Ess-Schalen und Ess-Stäbchen.
Diese Mahlzeiten verleihen dem Tagesablauf zusammen mit den Perioden des Zazen eine klare und gute Ordnung, sie sind Handeln in der Gemeinschaft mit verschiedenen Aufgaben und Rollen und werden mit Achtsamkeit, Ruhe und natürlicher Klarheit durchgeführt. Auch den Speisen selbst wird eine große Aufmerksamkeit zuteil, denn die Zutaten werden mit Bedacht und Sachkenntnis ausgewählt und sorgfältig zubereitet. Daher ist das Essen in den Klöstern und bei den Retreats meist besonders schmackhaft und bekömmlich.

Dôgen beschreibt die 90 Tage des Sommer-Retreats folgendermaßen:

„Sie sind die Gehirne und wirklichen Gesichter der Buddhas und Vorfahren im Dharma und (das Retreat) wurde direkt durch ihre Haut, ihr Fleisch, ihre Knochen und ihr Mark erfahren. Indem wir die Augäpfel und Gehirne der buddhistischen Vorfahren im Dharma aufgreifen, haben wir sie zu den Tagen und Monaten des Sommer-Retreats von 90 Tagen gemacht.“

Mit diesen Worten wird die unauflösbare Verbindung mit den Buddhas und Meistern sehr handfest und konkret ausgedrückt.

Das Sommer-Retreat ist tatkräftiges Handeln und Selbstkontrolle, die Dôgen als „Ring durch die Nase“ bezeichnet. Damit ist das Symbol eines arbeitsamen und friedlichen Wasserbüffels gemeint. Außerdem bezeichnet er das Sommer-Retreat als eine Höhle, die man vor allem dazu benutzt, um in die Freiheit zu springen, nämlich die Freiheit von seinem alten Ich mit dessen „Denknestern“ und Begrenzungen. Für Dôgen sind die Vorfahren im Dharma beim Retreat anwesend und nicht verstorbene alte Meister, die keinen Bezug mehr zum Handeln der Gegenwart haben. Er zitiert einen alten Meister:

„30 Jahre lang gehe ich den Weg eines Bergmönchs, ich sehe 90 Tage als einen Sommer. Es ist unmöglich, einen Tag hinzuzufügen. Es ist unmöglich, einen Tag wegzunehmen.“

Damit will er unterstreichen, dass dieses Retreat das Wichtigste und der Kern des Sommers ist und auf keinen Fall nur als eine bestimmte Zeitstrecke mit gewissen Aufgaben, Verpflichtungen und Aktivitäten erlebt werden sollte. Wenn man die Zeit nur intellektuell versteht und abzählbar in Stunden und Minuten misst, kann man, so Dôgen, den Sinn des Retreats nicht erfassen. Versteht man die Zeit nur linear, dass sie also kommt und geht und aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft wandert, kann man nicht im Hier und Jetzt handeln. Das ist nur möglich, wenn man ganz im Augenblick der Gegenwart lebt. Im Kapitel 11, „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt“, hat Dôgen dies klar herausgearbeitet. Er erläutert:

„(Die 90 Tage) sind jenseits von denkender Unterscheidung, sie sind jenseits von nicht-denkender Unterscheidung. Sie sind nicht auf einen Zustand begrenzt, der jenseits von Denken und Nicht-Denken ist.“

Sie sind daher nur das einfache und natürliche Handeln selbst.