Sonntag, 9. Oktober 2011

Die wesentlichen Augenblicke unseres Leben

Die Gesamtheit der Welt wird durch den höchsten Berg, den tiefsten Ozean, durch den Tempelwächter und die Buddha-Statuen exemplarische beschrieben. Sie alle haben sowohl eine räumliche, konkrete Dimension als auch eine tiefe spirituelle Bedeutung im Buddhismus. Die Gegenstände der buddhistischen Zeremonien, wie Stab und Fliegenwedel, werden ebenso genannt wie die Stützpfeiler des Tempels, die meist außerhalb der Räume des Klosters stehen, und die Steinlaternen, die im Allgemeinen im Klostergarten aufgestellt sind.

Mit den weit verbreiteten chinesischen Familiennamen Chang und Li – vergleichbar mit den Namen Schmidt, Müller oder Schulze bei uns (bitte entschuldigen Sie, wenn Sie so heißen) – bezieht das Gedicht auch das Alltagsleben der normalen Familien ein. Am Schluss werden die Erde und der Raum genannt, wodurch die Aussage der ersten Zeile des Gedichts verallgemeinert wird; der Kreis schließt sich.

Gemeint ist die ganze Welt, die Erde, das Leben und überhaupt alles im Universum. Das heißt, dass die Sein-Zeit im Sinne des Buddhismus unauflösbar mit all diesem verbunden ist und dass das Sein ohne die Zeit überhaupt nicht sein und existieren kann. Auch wir können ohne die Zeit überhaupt nicht leben; es ist wichtig, dass wir uns das wieder klar machen.

Nishijima Roshi sagt dazu: „Nach der buddhistischen Lehre existiert alles wirklich genau im gegenwärtigen Augenblick, daher beschreibt das buddhistische Gedicht (des alten Meisters) genau die wirklichen Situationen unseres menschlichen Lebens.“

Es geht um die wirkliche Existenz-Zeit und die Vielfalt des Lebens. Der Tempelwächter wird meistens mit einem zornigen Gesicht dargestellt, was darauf hinweist, dass sich die Sein-Zeit nicht nur auf heilige und verklärte emotionale Zustände bezieht, sondern genauso auf das wirkliche Leben, in dem es eben auch Zorn und Ärger gibt. Sein und Zeit bilden eine großartige Einheit, die in der erfahrenen und erlebten Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden sind.

Eine Trennung in Zeit und eine sachliche oder spirituelle Welt wird nur in unserem Verstand durch Überlegungen und unterscheidendes, dualistisches Denken konstruiert. Mit solchen Gedankenkonstrukten haben wir dann allerdings die Wirklichkeit und Wahrheit des Buddha-Dharma bereits verlassen. Wir „leben“ nur noch im Bereich des Denkens und der Vorstellungen, die oft psychodynamisch durch unbewusste starke Emotionen oder sogar Gier und Hass gesteuert werden.

Doch es gibt einen Weg zurück zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt: Das ist der Buddha-Weg. Die Zazen-Praxis hilft dabei ganz wesentlich, dass wir uns aus den meist unbewussten, spekulativen und abstrakten „Denknestern“, Täuschungen und Fantasiegebilden sowie den damit verbundenen Emotionen befreien und die Flucht aus der Realität des Lebens radikal beenden. Denn diese Flucht ist nach buddhistischer Lehre eine wesentliche Ursache unseres Leidens, das wir doch gerade überwinden wollen und auch können.