Nur in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt kann der Mensch nach Dōgen ein erfülltes, freudiges und ausgeglichenes Leben führen. Das bedeutet aber nicht, dass es verboten ist, zu denken und zu überlegen. Es bedeutet schon gar nicht, vernünftige Planungen für die Zukunft zu machen und lebendige klare Erfahrungen einzubeziehen. Ganz im Gegenteil! Ohne Vernunft geht es nicht, aber sie ist kein auf Vorteil bedachtes Kalkulieren.
Wir müssen uns im Klaren darüber sein, wann wir uns Vorstellungen und schönen oder erbaulichen Illusionen hingeben, und wann wir in dieser echten Wirklichkeit leben. Und es geht um die spirituelle Wirklichkeit und nicht um Zahlen, Bankonten und Vorteilslogik. Es geht auch nicht um die eigene „Erfolgs-Ethik“, die ja gerade kein Ethos ist.
Allzu häufig lassen wir nämlich nur unser eigenes „Heimkino“ im Gehirn ablaufen, das wir jedoch nicht mit der Wirklichkeit verwechseln dürfen. Sie besteht zum Beispiel aus den 24 Stunden des Tages, dem goldenen Körper Buddhas und ist die Zeit als die wahre Sein-Zeit selbst. Das ist die wahre spirituelle Existenz, nach der sich heute so viele Menschen sehnen, weil sie sich nicht mehr gängeln und bedrohen lassen.
Dōgen erläutert das Gedicht (vgl. früherer Block) folgendermaßen:
„In diesen Worten ‚manchmal, zur Sein-Zeit‘ ist Zeit schon genau Existenz und jede Existenz ist Zeit. Der 16 Fuß goldene Leib ist selbst Zeit. Weil er Zeit ist, ist er der strahlende Glanz der Zeit. Wir sollten sie als die 24 (wörtlich: zwölf) Stunden des Tages erlernen.“
Ein Hinweis vorab: In China wurde der Tag in zwölf Stunden eingeteilt und so erscheint es wörtlich im obigen Zitat. Gemeint sind damit aber nach unserer heutigen Zeiteinteilung die 24 Stunden des ganzen Tages.
Die Bedeutung der Sein-Zeit als wahre Existenz beinhaltet, dass Zeit und Existenz immer und in jedem Falle eine Einheit bilden. Es gibt also keine wirkliche Existenz außerhalb der Zeit! Wichtig: Hier ist nicht die gedachte, vorgestellte oder berechnete Zeit – also die sogenannte lineare Zeit – gemeint. Es geht um das existenzielle Jetzt der Gegenwart, das mit der Wirklichkeit zusammenfällt.
Dōgen betont, dass wir nicht an die lineare Zeitstrecke von 24 Stunden denken sollten, sondern an die jeweiligen Augenblicke der gegenwärtigen Zeit, die als Zeitpunkt im Jetzt des Augenblicks erfahren wird. Verkürzt heißt das, dass wir den ganzen Tag und die ganze Nacht mit der Sein-Zeit identisch sind. Das ist unser wahres, offenes und lebendiges Selbst. Dōgen beschreibt diese Zeit als strahlend und leuchtend – sie ist also nicht durch Angstdruck, Pessimismus und Grübeleien oder durch illusionäre Euphorie gekennzeichnet. Dies ist der Gleichgewichtszustand in der Gegenwart! Dōgen stellt eine intuitive Verbindung mit den goldenen Buddha-Statuen her, aber er mahnt uns auch, die Statuen und Bilder nicht oberflächlich mit der Wirklichkeit zu verwechseln, denn nur sie ist die Existenz-Zeit. Er erläutet weiter:
„Die drei Köpfe und acht Arme sind selbst Zeit. Weil sie Zeit sind, sind sie vollständig dasselbe wie die 24 Stunden des Heute.“
Warum? Die Statue des Tempelwächters mit drei Köpfen und acht Armen stand häufig in den buddhistischen Tempeln und war einerseits ein konkreter Gegenstand mit spiritueller Kraft und andererseits durch sein zorniges Aussehen ein Symbol für Ärger, Abwehr oder sogar Aggressivität. Er sollte einerseits das Böse vom Tempel fernhalten und andererseits als menschlicher Zorn interpretiert werden, der berechtigt oder unberechtigt sein mag. Damit stellt Dōgen klar, dass auch unangenehme emotionale Zustände Teil der Sein-Zeit und der Existenz sind. Aber es gibt das begründetes große Vertrauen, dass wir durch den Buddha-Weg zu Frieden, Verantwortung und echter Menschlichkeit kommen.