Sonntag, 4. März 2012

Ein Kōan-Gespräch über die Sein-Zeit




Im Folgenden gibt Dōgen ein berühmtes, historisch überliefertes Kōan-Gespräch über die Sein-Zeit wieder, das zwischen Meister Baso und dem späteren Meister Yakusan stattgefunden hat.
Yakusan fragte Baso während eines Besuchs gefragt, was die Absicht von Bodhidharma gewesen sei, als er von Indien nach China kam. Diese Frage wird im Zen-Buddhismus an mehreren Stellen behandelt und meistens so beantwortet, dass eine derartig theoretische und spekulative Frage wenig Sinn mache, weil sie die Fantasie und den Verstand derart okkupiere, dass die Wirklichkeit direkt vor unserer Nase im Hier und Jetzt verschwimmt oder ganz verschwindet. Dōgen erörtert dieses Thema in Kapitel 67 des Shōbogenzō ausführlich. Kommen wir nun aber zum Kōan-Gespräch.


Nach Bodhidharma befragt, sagte Zen-Meister Baso in Form eines Gedichts:


"Manchmal (zur Sein-Zeit) veranlasse ich ihn (mich selbst), eine Augenbraue zu heben oder ein Zeichen mit dem Auge zu geben.
Manchmal (zur Sein-Zeit) veranlasse ich ihn (mich selbst), nicht eine Augenbraue zu heben oder ein Zeichen mit dem Auge zu geben.
Manchmal (zur Sein-Zeit) ist es richtig, ihn (mich selbst) zu veranlassen, eine Augenbraue zu heben oder ein Zeichen mit dem Auge zu geben.
Manchmal (zur Sein-Zeit) ist es nicht richtig, ihn (mich selbst) zu veranlassen, eine Augenbraue zu heben oder ein Zeichen mit dem Auge zu geben.“


Das klingt kompliziert und zunächst etwas banal. Was ist gemeint?
Meister Baso geht zunächst auf die theoretische und recht spekulative Frage zu Bodhidharma scheinbar überhaupt nicht ein. Er beschreibt bestimmte Handlungen aus seinem praktischen Leben als Meister, dass er manchmal die Augenbraue hebt und ein Zeichen mit dem Auge gibt und manchmal nicht.


Welche Bedeutung mag diese alte chinesische Aussage haben, „eine Augenbraue zu heben“? Heißt es einfach, dass man willkürlich, jedoch ohne besonderen Grund, die Augenbraue bewegt? Vielleicht heißt es sogar, dass man die Stirn runzelt und dabei die Augenbraue automatisch hochzieht, zum Beispiel wenn man über etwas nachdenkt? Oder signalisiert diese Geste eine nonverbale Ablehnung gegenüber einem Gesprächspartner?


Aber befragen wir dazu am besten das Shōbōgenzō selbst. Dōgen beschreibt die Geste des Hebens der Augenbraue in Kapitel 59 behandelt. Dort wird über den erleuchteten indischen Mönch Pindola berichtet, der vom König gefragt wurde, ob er Gautama Buddha ganz direkt und persönlich kenne, ob er also die Lehre und Praxis so verwirklicht habe wie der Erwachte selbst. Der ehrwürdige Mönch Pindola bestätigt dies ohne Worte, indem er eine Augenbraue mit seiner Hand anhebt. Die Augenbraue heben bedeutet also, mit Buddha direkt zusammen zu sein.


Dōgen zitiert dazu auch seinen eigenen Meister Tendō Nyojō, der diese Begebenheit in einem Gedicht formuliert:
„Indem er eine Augenbraue hebt, beantwortet (Pindola) den Kern der Frage.
Er ist dem Buddha direkt begegnet, ohne irgendein gegenseitiges Missverständnis.“

Dōgen erläutert, dass man selbst Buddha wird, wenn man „Buddha direkt begegnet“. Damit haben wir die Bedeutung dieser Geste im obigen Text Dōgens gefunden: Eine Augenbraue zu heben heißt, Buddha wirklich zu begegnen und damit selbst Buddha zu werden und erwacht zu sein. Und genau dies ist identisch mit der Sein-Zeit!