Freitag, 22. Mai 2015

Geist und Essenz: Im Tod bin ich lebendig geworden


Dōgen legt großen Wert darauf, dass die Begriffe Geist und Essenz sehr konkret und real erfahren und begriffen werden müssen. Dies heißt im Umkehrschluss, dass ein Meister oder Lehrer, der selbst zur Wahrheit von Körper und Geist gelangt ist, diese beiden Begriffe mit voller gelebter Wirklichkeit erfüllt und an andere Menschen weitergeben kann. Ein Theoretiker und Gelehrter der Schriften kann also die wahre Bedeutung von Geist und Essenz der buddhistischen Lehre nicht erklären und vermitteln, weil er überhaupt keinen Zugang zur buddhistischen Wirklichkeit hat.

Hierin liegt auch die zentrale Bedeutung dieses Kapitels, denn wenn die buddhistische Lehre und Praxis nicht mit Worten beschrieben und für die Lernenden erklärt worden wäre, hätte sie überhaupt nicht von einer Generation zur anderen bis in die Gegenwart übermittelt werden können. Für diese Weitergabe ist Dōgens Shōbōgenzō, „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“, der beste Beweis. Eine Abwertung aller schriftlichen buddhistischen Lehre ist daher Unsinn.

Ich möchte daher seine Kernsätze zum Thema Geist im Folgenden zusammenfassen: Es gibt die Wirklichkeit des Geistes als Lehre und Praxis in der Einheit von Körper und Geist. Der Geist ist aber mit dem Verstand nicht vollständig zu erfassen. Er kann sich also weder allein auf der idealistischen, noch auf der materialistischen Ebene verwirklichen, sondern wird darüber hinausgehend im Handeln des Augenblicks und auf der höchsten Ebene der Wahrheit erfahren.

Ein solcher wahrer Geist existiert nicht außerhalb der Ethik, und er kann von echten Meistern und Lehrern direkt erklärt und dargelegt werden. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Kapitel „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“  im Shōbōgenzō verweisen.

Dōgen gibt dann ein Kōan-Gespräch zwischen Meister Tozan[i] und Meister Shinzan wieder. Die beiden Meister machten zusammen einen Spaziergang, dabei zeigte Tozan auf einen kleinen Tempel abseits des Weges und sagte:

„Dort drinnen ist jemand, der den Geist darlegt und die Natur (und Essenz des Buddhismus) erklärt.“

Tozan drückte damit aus, dass der Abt dieses Tempels die Einheit von Geist, Materie, Natur und Essenz der Wahrheit lehrte.
Der etwas ältere Shinzan fragte:

„Wer ist es?“

Dies scheint vordergründig betrachtet eine relativ belanglose Frage zu sein, mit der sich Shinzan nur nach dem Namen des Abtes erkundigen möchte.

Aber Tozan antwortete umfassend und tiefgründig:

„(Dadurch dass) eine Frage durch dich, älterer Bruder, gestellt wurde, habe ich direkt den Zustand erlangt, (in dem ich) vollständig gestorben bin.“

Was meint Tozan mit der Formulierung, dass er vollständig gestorben sei? Nishijima Roshi interpretiert das so, und ich folge ihm darin, dass theoretische Vorstellungen und emotionale, sinnliche Eindrücke verschwunden und damit gestorben sind, dass also Meister Tozan in der Situation vollständige Klarheit hat.
Meister Shinzan fügte hinzu:

„Jener konkrete Zustand, den Geist zu erklären und die Essenz (als Wahrheit) darzulegen, ist wer?“ Damit stellt er die Verbindung zu dem Meister in dem kleinem Tempel her, der in der Lage ist, die große Wahrheit zu lehren und zu erläutern.

Tozan fuhr daraufhin fort:

„Im Tod bin ich lebendig geworden.“

Dieses Kōan-Gespräch über die Frage, wie der Geist und das Wesentliche des Buddhismus behandelt und dargelegt werden, ist auch in Dōgens Kōan-Sammlung Shinji Shōbōgenzō[ii] enthalten. Die Formulierungen lauten dort jedoch zum Teil etwas anders, zum Beispiel sagt Meister Tozan, dass er in den Zustand eingetreten ist, der Leben und Tod vollständig übersteigt. Meister Shinzan ergänzt, dass ein Mensch, der Geist und Materie lehrt, selbst unfassbar ist, weil sein Geist nicht erfasst werden kann.

Nishijima Roshi legt bei seiner Interpretation dieses Kōan-Gesprächs den Schwerpunkt auf die Bedeutung des Wortes „wer“, das ganz einfach die Frage nach dem Namen eines Menschen beinhalten könnte. Aber diese Frageform bedeutet im Zen-Buddhismus darüber hinaus, dass der wahre Mensch unfassbar ist, nicht in starre Kategorien eingeordnet werden kann und in keine Schablone passt. Wer Körper und Geist lehrt, hat die Essenz des Buddhismus verwirklicht und kann sie anderen darlegen. Mit einfachen Worten kann man ihn nicht erschöpfend beschreiben.




[i] Meister Tozan lebte von 807 bis 869; er ist der 38. Meister in Dōgens Übertragungslinie.
[ii] Dōgens Kōan-Sammlung „Shinji Shobogenzo“, erläutert von G. W. Nishijima, deutsche und englische Fassung, Bd. 1, Nr. 62