Samstag, 12. August 2017

Ungläubiges Staunen


Dôgen arbeitet die tiefere Bedeutung der Begriffe „konstant“ und „unveränderlich“ heraus, das ist der Gegensatz zum Prinzip Buddhas der Veränderung, Emanzipation Entwicklung und Innovation. Die Trennung von Subjekt und Objekt sei die Ursache der scheinbaren unveränderlichen Konstanz, bei welcher der Geist vom Augenblick und der Sein-Zeit der Menschen getrennt ist.

Dôgen formuliert dies in der Sprache des Zen-Buddhismus so:
„Zusammengefasst gilt: Dasjenige ohne Konstanz und Dauerhaftigkeit, wie das Veränderliche: das Gras, die Bäume und der Wald, ist genau die Buddha-Natur.“

Denn die Natur, in diesem Fall die nicht-empfindenden Wesen, ist Augenblick für Augenblick genau in ihrem natürlichen Zustand. Die nicht-empfindenden Wesen sind niemals erstarrt und unveränderlich und gleichen nicht einem menschlichen Geist, der von Ideologien, materieller Gier, innerem Zwang und Abhängigkeiten okkupiert ist. Auch Länder, Berge und Flüsse seien niemals konstant und starr, auch sie seien die Buddha-Natur. Wer das erkannt hat, ist auf dem Weg der Erleuchtung und Freude.

Dôgen ist sich bewusst, dass eine solche Aussage in manchen buddhistischen Gruppen ungläubiges Erstaunen hervorruft, weil sie den tradierten Meinungen widerspricht, die sich angeblich auf die Sûtras von Gautama Buddha beziehen. Er drückt sich in diesem Zusammenhang recht drastisch aus:

„Wenn (solche Menschen) erstaunt sind und zweifeln, sind sie Dämonen und keine Buddhisten.“

Der Begriff des bedingten Entstehens wird auch heute noch häufig ausschließlich als prozesshafter Verlauf entlang der linearen Zeit verstanden. Dieser theoretische Gedanke ist zwar nützlich, um zum Beispiel eine ökologisch heile Umwelt für zukünftige Generationen zu erhalten. Mit Recht werden Joanna Macy und andere engagierte buddhistische Umweltschützerinnen und Umweltschützer nicht müde, darauf mit Nachdruck hinzuweisen.[i]

Aber die existenzielle und spirituelle Wirklichkeit ist auch nach meiner festen Überzeugung genau mit dem Augenblick verknüpft. Der existenzielle Augenblick kennt aber keine Aspekte wie Konstanz oder Nicht-Konstanz. Er ist die Existenz-Zeit ohne zeitliche Dauer. Augenblicke entstehen unaufhörlich und vergehen wieder, und genau in diesen Augenblicken ist die Zeit gleichzeitig Wirklichkeit und Existenz.[ii]

Aber die Augenblicke sind absolut isoliert und getrennt voneinander, wie bei einigen Zen-Buddhisten zu hören ist. Das wäre eine metaphysische Doktrin, die in der Wirklichkeit nicht gefunden werden kann. Denn ohne Zweifel sind dies auch Aktivitäten des Gehirns, das keine absolutern Trennungen kennt und permanente Dynamik des neuronalen Netzes kennzeichnet.

Das Geheimnis der Buddha-Natur ist die lebendige Wechselwirkung des Entstehens und die klare überintellektuelle Kraft des Augenblicks. Das sind die Kernaussagen zur Überwindung des Dualismus und des Leidens.



[i] Macy, Joanna: Geliebte Erde, gereiftes Selbst. Mut zu Wandel und Erneuerung
[ii] vgl. Seggelke, Yudo J.: Strahlende Zeit zum Handeln. Im Auge des Zen, Bd. 2