Freitag, 7. Februar 2020

Wer mit der Natur erwacht, fällt nicht zurück


Es gibt viele Geschichten über Erleuchtungs-Erlebnisse in und mit der Natur. Es heißt im ZEN: Wer mit der Natur erwacht, fällt nicht mehr zurück. Warum? Die Natur ist wie sie ist, und die Natur-Energie fließt, wie sie fließt. Die Natur wirkt im Menschen. Und der Mensch wirkt in der Natur: wundervolle Wechselwirkung! Da passt kein Haar dazwischen, wie wir im ZEN sagen. Die Natur verbreitet keine Ideologien, keine fake news und Doktrinen, sie will uns nicht zu irgendetwas überreden, will uns nichts verkaufen und will uns nicht bei einer politischen Wahl beeinflussen: die Natur ist so und fließt so - wirklich[1].

Der Mönch Shikan verließ das Kloster, weil er mit all seinem Studium das Erwachen und die ersehnte Erleuchtung nicht erlangen konnte. Er folgte den Spuren des großen Landesmeisters Daisho. Er zog sich auf einen Berg zurück und lebte dort allein im Einklang mit der Natur. An dem Ort, an dem auch der legendäre Meister gelebt hatte, baute sich Shikan eine einfache Hütte mit einem Strohdach. Er pflanzte Bambus und – wie Dōgen es ausdrückt – „machte ihn zu seinem Freund“.

Eines Tages geschah etwas für ihn völlig Unerwartetes: Als er seinen Weg vor der Hütte fegte, löste sich ein Kieselstein vom Boden, traf den Bambus und erzeugte dabei einen plötzlichen Ton: „Bong“!!  Indem Shikan jäh und unmittelbar den Ton hörte, wirklich und ohne jeden intellektuellen und doktrinären Überbau, war er direkt in der Wirklichkeit angekommen. „Bong“ – das ist es, die Wahrheit zu hören, das ist die Natur: einfach, direkt und unkompliziert! Das ist das reine unverzerrte Hören, die natürliche Wahrnehmung. Kein komplizierter Intellektualismus, kein gestresstes Streben und keine verzerrenden Doktrinen. Leer von Theater-Donner und den Rauchschwaden des Ego-Geistes: Die einfache Wahrheit der Natur ist im Universum und in uns selbst. 

So einfach und wunderbar sind das Leben und das Universum: Bong. Und wir müssen gemeinsam unsere Natur retten. Das ist ZEN!

Gerade intellektuell hochbegabte Menschen mit einem scharfen Verstand und einem hervorragenden Gedächtnis für die buddhistischen Lehren und Kommentare geraten besonders in Gefahr, ihrer eigenen Selbstüberschätzung zu erliegen. Dadurch wird jedoch der direkte Zugang zum Sehen, Hören, zur Wirklichkeit und Natur versperrt, denn diese verwirklichen sich jenseits von analytisch überzogener Kompetenz und ausgefeiltem, aber verengtem Reflexionsvermögen. Dōgen zitiert dazu Shikan:

„Der große Meister Shikan verfasste schließlich die folgenden Verse:
‚Bei einem einzigen Aufprall (des Kiesels) verlor ich das (alte) Denken,
nicht länger muss ich die (erstarrte) Selbstdisziplin üben.
Es gibt keine (doktrinären) Spuren irgendwo:
Wahres Handeln geht über Ton und Form hinaus.‘

Die verhärteten Spuren des angelernten Wissens, der passiv aufgenommenen Doktrinen und verfestigten substanzhaften Bewertungen verschwanden während der fortdauernden Praxis in der Natur. Diese alten Verhärtungen hatte die natürliche fließende Energie (Chi) blockiert. Die materiellen und idealistischen eingeengten Dimensionen von Tönen und Formen wurden im direkten Erleben überschritten. Damit kam die meist schmerzhafte dualistische und fundamentalistische Trennung von Subjekt und Objekt nach Nagarjuna zur Ruhe und wurde aufgehoben.

So schildert Shikan in seinen Versen, dass der Zustand des Erwachens von allen Menschen, die ihn selbst erfahren und erlebt haben, überall in der Welt und in allen Ländern mit Recht gepriesen wird: Wer so erwacht, fällt nicht in Erstarrungen und Ideologien zurück.


Weiterlesen für besonders Interessierte:  Unverzerrten Wahrnehmung




[1] Teilweise entnommen aus meinem Buch: "Sternstunden des Buddhismus", Band 1