Dienstag, 15. Juni 2010

Wir leben im Augenblick



Nishiijma Roshi sagt in aller Klarheit, dass die Welt, in der wir jetzt leben, genau im gegenwärtigen Jetzt erscheint und verschwindet. Der gegenwärtige Augenblick umfasst demnach eine äußerst kurze Zeitspanne, die eigentlich überhaupt keine Dauer aufweist. Außerdem nehmen wir wie gesagt an, dass der Augenblick vom vergangenen und zukünftigen Augenblick unabhängig ist. Die Augenblicke stehen für sich, sie sind auf sich selbst fokussiert. Deshalb kann man sagen, dass diese Welt, in der wir jetzt leben, genau im gegenwärtigen Augenblick entsteht und vergeht.
Dies ist das verwirklichte Universum. In unserem üblichen Denken und mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand stellen wir uns dagegen vor, dass die Welt sich wie eine Linie von der Vergangenheit zur Gegenwart und von der Gegenwart zur Zukunft bewegt. Aber eine solche Interpretation der Zeit ist aus der Sicht des Buddhismus für das wirkliche Erleben und Handeln völlig unzureichend. Nach der buddhistischen Philosophie erfahren wir wirklich, dass die Vergangenheit nur eine Erinnerung und die Zukunft nur eine Annahme und Erwartung ist.
Zum Thema Augenblicklichkeit fügt Nishijima Roshi hinzu:
„Wenn wir uns die wirklichen Zusammenhänge der Gegenwart genau anschauen wollen, können wir die Augenblicke wie einen Film benutzen. Der Film ist in viele kleine Bilder unterteilt. Daher ist jedes einzelne Bild von dem vorherigen und dem folgenden unabhängig.“

Dieses Beispiel der einzelnen Bilder eines Films mag sehr vereinfachend sein, aber es ist dennoch hilfreich. Da unser Auge und Gehirn mit einer gewissen Trägheit arbeiten, können wir die einzelnen Bilder des Films nicht unterscheiden, sodass sich beim Abspielen eine kontinuierliche Bewegung für uns ergibt. Wie im Kapitel über die Sein-Zeit detailliert behandelt wird, ist in der buddhistischen Lehre und Erfahrung diese Augenblicklichkeit im Jetzt der Gegenwart von zentraler Bedeutung, um aus der Welt der Illusionen und Täuschungen zur Wirklichkeit zu gelangen. So können wir uns selbst auf die Schliche kommen.

Auf der Grundlage dieser Theorie lässt sich Meister Dôgens Aussage verstehen, dass das Feuerholz vollständig von der Vergangenheit und der Zukunft, also der verbrannten Asche, getrennt ist, obgleich es natürlich eine gedachte Vergangenheit und eine Zukunft gibt. Vergangenheit und Zukunft sind abstrakte Aussagen, können aber die wahre Wirklichkeit nicht richtig erfassen.