Freitag, 26. November 2010

Der Pflaumenbaum als Gleichnis des Lebens

Der alte Pflaumenbaum hat verwinkelte knorrige und unregelmäßige Äste, auf denen die Blüten erscheinen und sich geöffnet haben. In dem Gedicht heißt es, dass diese Blüten genau das Gesicht und das Aussehen des Frühlings haben, sie sind der Frühling! Sie umfächeln das Gras und die Bäume. In der Beschreibung des Gedichtes werden dann die Mönche in ihren aus Flicken zusammengesetzten Roben beschrieben, die mit glatten, rasierten Köpfen zur Wirklichkeit der Blüten des alten Pflaumenbaum gehören.

Dann wird geschildert, dass sich bei heftigem Wind der Regen in Schnee verwandelt, der die Landschaft um das Kloster bedeckt, so weit das Auge reicht. Es heißt, dass sich die Erde in ein weißes Gewand hüllt, das mit Drachen kunstvoll bestickt ist und den prächtigen Gewändern der damaligen Kaiser gleicht.

Der Drache ist in China ein glückbringendes Fabeltier, das in vielen alten Gleichnissen und Geschichten vorkommt. Dem wirklichen Drachen zu begegnen, heißt dass man der Wirklichkeit und Wahrheit des Universums und des Lebens begegnet und dass man nicht an Bildern und Vorstellungen haftet, sondern diese überschritten hat.

Inmitten dieser Schneelandschaft und bei heftigem Schneefall, von dem in dem Gedicht die Rede ist, ist der alten Pflaumenbaum frei, ungezwungen und unbeeindruckt vom Wandel der Witterung. Aber den Menschen sticht die Kälte schmerzhaft in die Nase, für sie ist der Winter nicht einfach zu ertragen. In dem gesamten Gedicht überwiegt die Beschreibung der Pflaumenblüten und deren feiner und zarter Duft. Der alte knorrige Pflaumenbaum ist von dem kalt gewordenen Wintertag trotz Schneefall ganz unbeeindruckt.

Dieses Gedicht kann ohne Zweifel als Gleichnis und Symbol des menschlichen Lebens und der Natur überhaupt verstanden werden. Es gibt den Frühling, der durch die Pflaumenblüten sich verwirklicht, und diese blühen auf den alten knorrigen Ästen. Das ist neues frisches Leben auf dem alten Baum. Für Menschen ist der Winter oft widrig und die kalte Luft schmerzt in der Nase. Wer aber Augen hat, die Natur wirklich zu sehen, wie sie ist, empfindet diese Schneelandschaft wie ein kostbares besticktes Gewand und lebt in tiefer ungetrübter Übereinstimmung mit der Natur.

In diesen wenigen Zeilen wird wie in einem kostbaren Gemälde die Schönheit und Reinheit der Natur, aber auch die oft knorrige Form des Lebens und die den Menschen schmerzende Kälte eingefangen. Wer behauptet, dass der Zen-Buddhismus ohne Lebendigkeit, Freuden und ohne Poesie sei, wird hier radikal eines Besseren belehrt. Weder geht es um die Dramatisierung der Gewalt der Natur, noch um Übertreibungen der Schmerzen der Menschen durch die Kälte, sondern wir nehmen an dem Leben in den Klöstern des alten China direkt teil und sind von dem Bild des blühenden, knorrigen Pflaumenbaums erfüllt.

Dôgen betont die Freiheit und Zwanglosigkeit des Pflaumenbaums. Seine Blüten entfalten sich natürlich und selbstverständlich in der Mitte des Mond-Winters und sind damit selbst der Frühling. Seine Früchte reifen auf natürliche Weise und sie sind der Herbst. Frühling und Winter sind zunächst nur Worte, die erst durch die konkrete Natur des knorrigen Baumes und der sich entfaltenden Blüten Wirklichkeit werden und uns unmittelbar erfassen. Dazu gehört derWind und der starke Regen, der in Schnee übergeht und die Landschaft wie ein kostbares Gewand bedeckt.