Freitag, 19. November 2010

Gedicht der Pflaumenblüten

Meister Dôgen liebte die zarten Blüten der Pflaumenbäume außerordentlich und hat uns viele poetische Beschreibungen und Gedichte über sie geschenkt.

Auch sein eigener Meister Tendô Nyojô stimmte mit Dôgen überein und hat ebenfalls wunderbare poetische Darstellungen der Pflaumenblüten verfasst. Die Tempel lagen damals in größerer Höhenlage in den Bergen, und die Winter waren kalt und schwer zu ertragen. Heizungen im heutigen Sinne gab es in den Tempeln nur in einem Zimmer oder in ganz wenigen Räumen.
Wir können sicher annehmen, dass die Mönche im Winter viel Lebensmut und Ausdauer benötigten, um die schwere Zeit zu überstehen. Umso wunderbarer empfanden sie die ersten Boten des Frühlings, die das Ende des Winters ankündigten und vor allem freuten sie sich über die ersten Blüten auf den Pflaumenbäumen.
Ich vermute, dass an besonders geschützten Stellen, zum Beispiel an der Südseite von Mauern und Wänden, Pflaumenbäume gepflanzt wurden, die schon Blüten trugen, als weite Bereiche der Landschaft noch unter einer Schneedecke lagen. Die Pflaumenblüten kommen vor den anderen Boten des Frühlings hervor und blühen bereits, wenn die Blätter der Bäume noch nicht da sind.
Nishijima Roshi und M. Cross sagen dazu:
„In diesem Kapitel beschrieb Meister Dogen die wirkliche Situation der Natur. Er zitierte Meister Tendô Nyojôs Gedicht und lehrte von den Pflaumenblüten.“
Sein Meister, dessen Tempel in der nördlichen Chekiang Provinz, lag verfasste das folgende Gedicht. Dôgen schätzte ihn außerordentlich und begegnete ihm, als er es schon fast aufgegeben hatte, einen wahren Lehrer und Meister in China zu finden.

„Die erste Verse von Tendô in der Mitte dieses Winters:
Knorrig und verwinkelt ist der alte Pflaumenbaum.
Plötzlich blüht er – eine Blüte, zwei Blüten,
Drei Blüten, vier, fünf Blüten – unzählige Blüten.
Die Reinheit (ihrer Blüten) kennt keinen Stolz.
Ihr Duft kann sich nicht rühmen.
Sie öffnen sich, erschaffen den Anblick des Frühlings,
weben fächelnd durch Gräser und Bäume.
Und Flickenmönche mit blanken, rasierten Köpfen.
Unvermittelt fällt heftiger Wind ein, und kräftiger Regen.
Der Schnee ist ohne Grenzen, während sich die Erde in drachenbestickte weiße Gewänder hüllt.
Der alte Pflaumenbaum ist unbeeindruckt, er ist frei.
Frostige Kälte sticht in die Nasenlöchern, sie schmerzen.“

In diesem wunderbaren poetischen Gedicht von Tendô Nyojô wird ein Wintertag in seiner ganzen Wirklichkeit geschildert. Im Mittelpunkt steht ein alter knorriger Pflaumenbaum, der trotz der Kälte und des starken Windes plötzlich Blüten treibt. Nach dem chinesischen Mondkalender ist dies der mittlere von drei Wintermonaten, bevor mit dem Neujahr der Frühling beginnt.
Es heißt darin, dass diese Pflaumenblüten von großer Reinheit sind, sich dessen aber nicht rühmen und nicht stolz darauf sein können. Sie haben überhaupt nicht die Fähigkeit, selbstgerecht zu sein.
Sie blühen als Teil der Natur ohne Absicht, ohne Stolz auf sich selbst und ohne Selbstinszenierung. Auch ihr reiner wunderbarer Duft ist absichtslos und ohne Ich-Stolz und Selbstgefälligkeit. Damit wird die wahre Natur beschrieben, so wie sie ist, sie wird nicht romantisiert oder dramatisiert. Gerade in den schlichten und kräftigen Worten entwickelt sich die treffende Kraft dieser großen Poesie.