Sonntag, 8. Mai 2011

Zazen-Praxis für Einsteiger und Fortgeschrittene

Die nächste Frage an Dōgen stellt zur Debatte, ob die Zazen-Praxis auch für erfahrene Meister notwendig ist. Dass sie für Anfänger sinnvoll ist, sei ja unbestritten. Dōgen antwortet entschieden:

„Der (falsche) Gedanke, dass Praxis und Erfahrung keine Einheit sind, ist nur die Vorstellung von Nicht-Buddhisten. Im Buddha-Dharma sind Praxis und Erfahrung (der Verwirklichung) vollständig identisch. Die (richtige Praxis) ist daher jetzt auch die Praxis im Zustand der Erfahrung.“

Dass Praxis und die Erfahrung der Verwirklichung im Zazen eine Einheit im Hier und Jetzt bilden, erscheint zunächst nicht so selbstverständlich, ist aber ein zentraler Punkt der wahren buddhistischen Lehre. Die Erfahrung der ersten Erleuchtung tritt danach genau im Augenblick des wahren Zazen auf, ist also nichts, was wir für die Zukunft erstreben, und ist kein Kampf um die erhoffte spätere Erleuchtung. Dies gilt für Ensteiger, Fortgeschrittene und Meister!

Dies ist eine der wesentlichen ganzheitlichen Erkenntnisse, die Dōgen bei seinem Lehrer Tendō Nyojō lernte und die seine eigenen theoretischen Spekulationen zur Frage der Erleuchtung und der Buddha-Natur vollständig beendeten.
Da Körper und Geist nach der buddhistischen Lehre untrennbar miteinander verbunden sind, erfahren wir demnach die Erleuchtung beim Zazen als Gleichgewichtszustand von Körper-und-Geist. Nishijima Roshi erklärt dazu:

„In der buddhistischen Lebensphilosophie des Handelns ist es für uns unmöglich, das Handeln in zwei Bereiche aufzuspalten, nämlich in die Praxis einerseits und das Erfahren sowie Erleben andererseits. Handeln kann und muss immer als unteilbare Einheit existieren, ohne jede Trennung.“

Dōgen fährt mit seiner Antwort fort:

„Das Streben eines Anfängers nach der Wahrheit ist daher genau der (wahre) ganze Körper des ursprünglichen Zustandes der Erfahrung. Dies ist der Grund, warum (die buddhistischen Vorfahren im Dharma) lehren, keine gesonderte Verwirklichungs-Erfahrung außerhalb der Praxis zu erwarten. Sie lehren uns dies mit (ihrer klaren) praktischen Sorgfalt, die sie an uns weitergegeben haben. Der Grund dafür mag sein, dass (die Praxis selbst) einen direkten Zugang zum ursprünglichen Zustand der Erfahrung (der Erleuchtung) gibt.“
In manchen buddhistischen Übertragungslinien besteht die Vorstellung, dass die oft als anstrengend oder sogar als asketisch, aber zumindest entbehrungsreich angesehene Arbeit der Praxis zeitlich vorausgehen müsse, um später die Erleuchtung zu erlangen. Das bedeutet jedoch, dass die Erfahrung der Erleuchtung und die Praxis voneinander getrennt wären. Die Praxis wäre sozusagen nur das untergeordnete Werkzeug, um das ersehnte Ziel der Erleuchtung zu erreichen.

Einer solchen Theorie schieben Dōgen und Nishijima Roshi entschlossen den Riegel vor. Eine derartige Trennung von Praxis und Erfahrung der Erleuchtung kann im wirklichen Handeln nicht stattfinden, sondern nur als gedachte Lehre und Theorie bestehen; als solche kann sie „im Kopf“ sogar plausibel erscheinen.

Nishijima Roshi bezeichnet die Einheit von Praxis und Erfahren in der ersten Erleuchtung auch als Verschmelzen. Dieses Verschmelzen im Augenblick sei bei Anfängern genau dasselbe wie bei erfahrenen praktizierenden oder erwachten Meistern. Wer die Zazen-Praxis richtig ausführt, kann unabhängig davon, wie lange er schon praktiziert, die Erleuchtung unmittelbar erfahren, auch der Einsteiger! Gute Lehrer und die großen Meister der Vergangenheit lehren eine solche Praxis voller Sorgfalt und sie dienen selbst als Beispiel und Vorbild.