Montag, 28. November 2011

Was ist die Vergangenheit der Sein-Zeit?

Wie behandelt Dōgen die Vergangenheit nach dem Verständnis der Sein-Zeit, die damals Wirklichkeit war?


„(Zur Sein-Zeit) ist zu sagen, dass ich dort in jener Zeit war, als ich einen Berg erstieg oder einen Fluss durchquerte. Dort muss Zeit in mir gewesen sein. Ich existiere jetzt tatsächlich, (sodass) die Zeit sich (seit dem) nicht (von mir) entfernt haben kann (, sie hat mich niemals verlassen). Wenn die Zeit nicht die Form des Verlassens und Kommens hat, ist die Zeit des Ersteigens eines Berges (bis jetzt) das Gegenwärtige als Sein-Zeit.“

Das klingt ziemlich kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach: In der damaligen Situation war die Sein-Zeit der Wirklichkeit in mir und mit mir identisch. Das gilt auch für den jetzigen Augenblick, also hat sie mich niemals verlassen. Damals war der gegenwärtige Augenblick die ganze Existenz und Wirklichkeit.



Auch wenn ich daran zurückdenke, ist dies von großer Bedeutung, weil ich den Berg und den Fluss nicht als von mir getrennte Objekte erinnern sollte, die ganz weit von mir entfernt sind. Damals waren sie gegenwärtige Augenblicke der lebendigen Existenz und damit die Sein-Zeit.
Diese Sein-Zeit ist dauernd mit mir identisch gewesen und hat mich niemals verlassen, bis zum Jetzt der Gegenwart. Die Prozesse des Bergsteigens und Durchquerens des Flusses sollte ich also nicht als eine frühere, von mir unabhängige Zeitstrecke ansehen, sondern als frühere existenzielle Augenblicke: Ich war damals in der Sein-Zeit und bin auch jetzt in der Sein-Zeit.
Nishijima erläutert diese fundamentale Lehre:


Das besagt, dass ich damals, in jenem Augenblick wirklich existiert habe, als ich den Berg erstieg und den Fluss überquerte. Daher habe ich genau zu jener Zeit existiert und es war und ist unmöglich für mich, die Zeit zu verlassen“ Und er fasst zusammen: „Ich habe im Augenblick der ganzen Wirklichkeit den Berg erstiegen.“

Dōgen sagt weiter:
„Wenn Zeit nicht die Form des Verlassens und Kommens hat (lineare Zeit), habe ich den gegenwärtigen Augenblick der Sein-Zeit, der genau die Sein-Zeit ist.“

Verlassen und Kommen haben für den Augenblick also keine große Bedeutung. Vereinfacht kann man sagen:

„Der Augenblick ist das Eingangs-Tor zum wirklichen Sein, zum wahren Selbst und damit zur Buddha-Natur. Ohne ethisches Handeln im Augenblick kann die Buddha-Natur ihre ursprüngliche Natur gar nicht verwirklichen“.


Dōgen unterstreicht den fundamentalen Unterschied zwischen der linearen Zeit als Zeitstrecke, die Kommen und Gehen umfasst, und der wirklichen existenziellen Sein-Zeit im Augenblick. Gleichzeitig stellt er den Bezug zum Selbst her, das identisch mit dem Gleichgewicht im Augenblick ist. Und Zazen ist die einzigartige Methode, um die Buddha-Natur zu verwirklichen.
In einer Fußnote des Shōbōgenzō erläutern Nishijima und Cross, dass Dōgen zwar die Sichtweise der Zeit als eine Linie einbezieht, aber der Zeit-Punkt oder Augenblick ist die ursprüngliche Wirklichkeit.

Zweifellos ist die uns bekannte lineare Zeit für viele organisatorische Bereiche des Lebens nützlich, wenn es zum Beispiel um Verabredungen zu einem bestimmten beruflichen oder privaten Termin geht. Aber das eigentliche existenzielle Erleben, das Dōgen als Sein-Zeit bezeichnet, findet nur in der Wirklichkeit der Gegenwart statt. Die lineare Zeit hat zwar die Funktion einer guten Organisation, ist aber kein inhaltlichen Erleben und nicht das wahren Sein.