„Die Sein-Zeit hat die Tugend (und Eigenschaft), in einer Folge von Augenblicken vorbeizugehen.“
Dabei ist der gegenwärtige Augenblick identisch mit dem wahren Sein und der Existenz, also der Wirklichkeit. In vergangene Augenblicke sind keine Wirklichkeit mehr. Wir müssen uns daher im Geist für sie ganz öffnen, wenn wir die wirkliche damalige Situation nacherleben wollen. Dadurch können wir vermeiden, dass das frühere Erleben unzulässig verkürzt und vielleicht durch Emotionen in die eine oder andere Richtung verzerrt wird.
Die Aussage Dōgens können wir als Verbindung der Augenblicklichkeit und der gedachten Vergangenheit der Zeit verstehen. Zweifellos machen die Aussagen zur gegenwärtigen existenziellen Zeit das Wesentliche des Kapitels 11, Uji aus. Es spricht aber für die Realitätsnähe Dōgens, dass er auch den Ablauf der früheren Zeit grundsätzlich anspricht.
„(Die Zeit) schreitet (in diesem Sinne) vom Heute zum Morgen durch eine Folge von Augenblicken. Sie schreitet vom Heute zum Gestern, vom Gestern zum Heute, vom Heute zum Heute und sie schreitet durch eine Folge von Augenblicken vom Morgen zum Morgen.“
In diesen Sätzen wird die Verbindung der uns geläufigen Tagesangaben – gestern, heute und morgen – durch die Formulierung „die Folge von Augenblicken“ unterstrichen. Dōgen hält fest, dass die heutigen Augenblicke in ihrer Folge die ganze lebendige Wirklichkeit des Tages ausmachen. Dieses Grundprinzip der Sein-Zeit gilt selbstverständlich auch für das Morgen, das jeweils in der Gegenwart des morgigen Augenblicks Wirklichkeit und Existenz ist.
„Weil das Fortschreiten durch einzelne Augenblicke die Tugend (und Eigenschaft) der Zeit ist, werden die Augenblicke der Vergangenheit und Gegenwart weder oben auf einen anderen (vorherigen Augenblick) aufgeschichtet, noch in einer (gedachten) Linie aufgereiht.“
Mit dieser etwas eigenartigen Erklärung will Dōgen meines Erachtens verhindern, dass wir uns die Augenblicke als dinghafte und total isolierte Momente vorstellen, denn dies würde einem theoretischen Modell der Zeit auf der Ebene des Denkens und der Kommunikation entsprechen. Durch eine solche modellhafte Vorstellung der Zeit verfehlen wir die existenzielle Wirklichkeit des erlebten Augenblicks und verlieren uns in theoretischen und philosophischen Gedanken. Die einfache Botschaft ist: Öffne dich ganz der Wirklichkeit des Augenblicks, das ist das volle und wunderbare Leben! Theorien können das unmittelbare Erleben und Handeln in der Gegenwart nicht ersetzen und sind nicht die direkte umfassende Wirklichkeit im Jetzt.
„Aus demselben Grund ist Meister Seigen Zeit. Meister Obaku ist Zeit und die Meister Baso Do-itsu und Sekito sind Zeit.“
Diese Meister lebten in der Zeit zwischen 700 und 850, also in der goldenen Zeit des Zen-Buddhismus in China. Dōgen will mit seinem Beispiel sagen, dass wir diese Meister, die er sehr verehrte, nicht als vergangene historische Persönlichkeiten verstehen sollen, sondern dass sie lebendige existenzielle Gegenwart für ihn und uns darstellen. Ihre Lehren sind nicht nur gedruckte Weisheiten, die man lesen und studieren kann, sondern sie sind wesentlich für die Wirklichkeit und Praxis von uns allen und daher Wirklichkeit im Augenblick.