Montag, 23. Januar 2012

Die "halbe Sein-Zeit " ist die spirituelle Kraft der Freiheit

Dōgen gibt sich mit den bisherigen Überlegungen des Zeit-Kapitels nicht zufrieden und untersucht ganz konkret die Realität unseres Lebens, die selten oder nie einem erträumten Ideal entspricht und vielleicht auch gar nicht entsprechen sollte. Denn Ideale schießen meist über die Wirklichkeit hinaus, als Anfangsimpuls sind sie allerdings äußerst wichtig. Daher sollten wir den Kern der Sein-Zeit verwirklichen und keinen unnützen Verzierungen nachjagen. Wir sagen dazu bekanntlich „Weniger ist mehr“:


Weil etwas Zusätzliches genau etwas Zusätzliches ist, ist sogar ein Augenblick der halb vollkommenen verwirklichten Sein-Zeit die vollkommene Verwirklichung der halben Sein-Zeit.“


Das klingt zunächst verwirrend. Was bedeutet der Begriff „halbe Sein-Zeit“? Eine Hilfe für die Erklärung gibt Kapitel 73 des Shôbôgenzô über die 37 Elemente des Erwachens. Dort geht es um die Frage, was aus buddhistischer Sicht getan werden muss, damit das moralisch schlechte Handeln von früher in seinen Wirkungen ausgehebelt wird, und sich eine neue Freiheit für uns eröffnet. Damit entfällt der Zwang einer karmischen Fixierung.



Dōgen stellt das richtige Handeln in der Gegenwart in den Mittelpunkt und sagt, es komme darauf an, wie wir jetzt, genau in diesem Augenblick tatsächlich handeln, denn dadurch haben wir die Freiheit, das Schlechte zu beseitigen:


„Das ganze Geschehen bedeutet das halbe Geschehen. Halbes Geschehen bedeutet, was hier und jetzt geschieht. Was hier und jetzt geschieht, ist nur durch das Geschehen selbst fokussiert.“


Der Ausdruck „halbes Geschehen“ bedeutet im Verständnis Dōgens, dass es sich um das wirkliche Geschehen selbst handelt, das keine Zusätze zum Beispiel durch Täuschungen, Fantasien, Einbildungen oder Vorstellungen umfasst. Diese Deutung kann man auch auf die „halbe Sein-Zeit“ anwenden, das heißt dann, dass damit das wirklich Reale der Zeit gemeint ist. Durch diese halbe Sein-Zeit werden wir frei, die alten Fehler sind ohnehin nur "Wetterleuchten im Gehirn", der Augenblick schluckt sie ersatzlos.

Mit dieser Aussage, die Dōgen am Ende des Kapitels zur Sein-Zeit in Gedichtform aufgreift, warnt er uns auch vor Idealisierungen der Sein-Zeit: Sie soll nicht nur als buddhistisches Ideal oder als Vorstellung verstanden werden, denn dann wäre sie mit dem wirklichen Leben nicht identisch. Nishijima Roshi erläutert hierzu:


„Die wirkliche Sein-Zeit besteht immer aus Tatsachen im gegenwärtigen Augenblick und daher ist auch eine halb-realisierte Sein-Zeit genau die Sein-Zeit. Auch die wirklichen Situationen, die aus Fehlern zu bestehen scheinen, sind die wirkliche Sein-Zeit dieser Fehler. Alle kraftvollen wirklichen Aktivitäten, die im Universum existieren, sind genau die wirklichen Sein-Zeiten.“