Die eigenen Anstrengungen auf dem Weg der Befreiung können wir nur selbst unternehmen, sie können uns nicht von anderen abgenommen werden, auch nicht von einem Meister oder Guru. Ein solcher kann für uns nur als Lehrer, Berater und Trainer fungieren, die Arbeit des Handelns müssen wir jedoch selbst leisten, denn Befreiung ist eigenes Handeln:
„Wir sollten in der Praxis lernen, dass ohne unsere eigenenAnstrengung in der Gegenwart, Augenblick für Augenblick, nicht ein einziger Dharma und auch nicht ein einzelnes Ding jemals wirklich existieren und von einem Augenblick zum nächsten fortdauern kann.“
Hier betont Dōgen, dass eine solche Anstrengung fortlaufend aber jeweils im Augenblick zu erbringen ist. Laut Nishijima Roshi können wir nur dann ein Element der Wirklichkeit und ein Ding oder Phänomen der Wirklichkeit überhaupt erfahren und intuitiv erkennen. Dies gilt für die ganze Vielfalt unserer Welt, sei sie dunkel oder strahlend und leuchtend. Aber durch den Augenblick wird sie leuchtend. Es führt also nicht weiter, die Hände in den Schoß zu legen, die Übungspraxis auszusetzen und sich romantisierend und theoretisch mit der Sein-Zeit zu beschäftigen. Diese Aufgabe können wir auch nicht an jemand anders abgeben, auch nicht an einen Lehrer, Priester oder Meister:
„Wir sollten niemals lernen, dass das Fortschreiten von einem Augenblick zum nächsten wie die kontinuierliche Bewegung des Windes und Regens von Osten nach Westen ist.“
Mit der Analogie der Windbewegung ist die Vorstellung der linearen Zeit angesprochen, die im Gegensatz zum Hier und Jetzt der Sein-Zeit steht. Ein solches scheinbar kontinuierliches Zeit-Modell entspringt intellektuellem Denken und der Vorstellung, ist aber nicht die spirituelle Erfahrung des Jetzt in der Wirklichkeit. Spiritualität und Befreiung gibt es nur im Jetzt! Das bedeutet natürlich nicht, dass es durchaus sinnvollen Anwendungen der linearen Zeit gäbe; man benötigt sie zum Beispiel, wenn man sich zu einer bestimmten Uhrzeit für eine Besprechung treffen möchte.
Aber eine solche lineare Zeit ist nicht die existenzielle Erfahrung, sondern nur ein organisatorischer Rahmen, in dem sich hoffentlich die Wirklichkeit einer offenen und herrschaftsfreien Kommunikation als Sein-Zeit ereignen kann. Die lineare Zeit ist also bestenfalls der Rahmen für das Erlebnis der Erleuchtung, die sich immer im Jetzt ereignet.
Was ist das Jetzt des Frühlings? Am Beispiel des Frühlings veranschaulicht Dōgen die Unterschiedlichkeit der linearen Zeit und der Sein-Zeit: Das unmittelbare Erleben und Erfahren des Frühlings durchstößt die Vorstellung der abstrakten Zeit und berührt uns existenziell und zentral.
„Der momenthafte Verlauf des Frühlings geht zum Beispiel unausweichlich Augenblick für Augenblick durch den Frühling selbst.“
Wir sollten uns also von einer Abstraktion des Frühlings in Gedanken oder Emotionen verabschieden und den Frühling wirklich handelnd im Jetzt erleben. Maßgeblich ist der Augenblick des konkreten Erlebens. Das heißt vor allem: Wir gehen nicht durch eine von uns getrennte Vorstellung, die wir „Frühling“ nennen, hindurch. Dann würden wir den wunderbaren Frühling nämlich ganz verpassen, unwiederbringlich.