Der Zen-Buddhismus legt großen Wert auf das tägliche Leben, in dem sich sowohl in der Zazen-Praxis als auch beim alltäglichen Handeln die Sein-Zeit als erste Erleuchtung ereignet. Erleuchtung ist nämlich kein erträumter Idealzustand des Geistes, der unabhängig vom Körper und von der Zeit existiert. Erleuchtung ist auch keine psychische Ekstase, sondern im Gegenteil Ruhe und Gleichgewicht im Alltag und in der Praxis. Ein wahres Erleuchtungserlebnis können wir bei jeder Zazen-Praxis haben! Nishijima Roshi unterstreicht, dass wir ohne die existenzielle Erfahrung der Sein-Zeit die Lehre und Praxis des Buddhismus nicht „verstehen" können“.
Das am Anfang des Kapitels zitierte Gedicht drückt die Einheit der Sein-Zeit mit allen Bereichen und Dingen im Leben und in der Welt aus. Beispielhaft werden der höchste Berg und der tiefste Ozean, der Tempelwächter und das Bildnis des stehenden und liegenden Buddhas genannt. Sie alle haben sowohl eine räumliche, konkrete Dimension als auch eine tiefe spirituelle Bedeutung im Buddhismus. Das Gedicht schließt mit einem erneuten Hinweis auf die Erde und den Raum. Gemeint sind die ganze Welt, die Erde, das Leben und überhaupt alles im Universum. Das besagt, dass die Sein-Zeit des Jetzt unauflösbar mit all diesem verbunden ist und dass das eine ohne das andere überhaupt nicht sein und existieren kann. Wenn wir eine solche Erfahrung haben, ist das ein Erleuchtungserlebnis. Sonst verpassen wir die Wirklichkeit.
Sein und Zeit bilden eine großartige Einheit, die in der erfahrenen und erlebten Wirklichkeit nicht getrennt werden dürfen. Sie unterliegen einem unauflösbaren Koexistenz-Zwang. Eine Trennung wird nur in unserem Verstand durch Überlegungen und unterscheidendes Denken konstruiert. Dann haben wir allerdings die Wirklichkeit des Buddha-Dharma bereits verlassen. Es ist die zentrale Aufgabe der Zazen-Praxis, uns aus derartigen, häufig unbewussten, spekulativen und abstrakten „Denknestern“ und Fantasiegebilden zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt zurückzuführen und die sinnlose Flucht aus der Realität zu beenden. Dann erreichen wir einen tiefen Frieden und sind ausgeglichen.
Nur in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt kann der Mensch nämlich ein erfülltes, freudiges und kreatives Leben führen. Dies bedeutet aber nicht, dass es verboten wäre, zu denken, zu überlegen und zu planen. Ganz im Gegenteil. Wir sollten uns aber stets darüber im Klaren sein, wann wir Vorstellungen haben, die von Gier oder Angst gesteuert sind und wann wir „schönen oder erbaulichen“ Illusionen nachhängen, wann wir unter Resignation und Depression leiden, und wann wir in der wirklichen Welt leben und denken. In der Wirklichkeit des Jetzt leben wir bei weitem am besten.