Dōgen
erklärt, dass die wahre Geburt über die damaligen genannten Lehren zur Geburt
hinausgeht und dass wir immer die große Wahrheit der Gegenwart im Augenblick
verwirklichen. Er verwendet dabei die im Zen-Buddhismus häufige Formulierung,
dass dies „niemals verborgen gewesen ist“. Das heißt, dass die Wirklichkeit im
Augenblick nichts verbirgt, während Vorstellungen und in Worte gefasste
Gedanken immer nur Teilaspekte beleuchten können, also andere Bereiche der
Wirklichkeit ausblenden, die dann sozusagen verborgen sind. Ganz davon abgesehen,
dass uns jemand etwas Bestimmtes vormachen will, sei es dass er selbst unklar
ist oder dass er uns sogar vorsätzlich täuschen will.
Wie viel wäre der Welt
und Deutschland erspart geblieben, wenn sich die meisten Deutschen von den Nazis
nicht hätten täuschen lassen und wie viele Tote hätte es nicht gegeben! Ihre
Täuschungen haben sie verbergen müssen, aber die Wirklichkeit verbirgt uns
nichts.
„Es gibt jene Menschen, die nur die Formulierung
‚Nicht-Geburt‘ hören und dem nicht auf den Grund gehen. Sie scheinen die
Anstrengung mit Körper und Geist beiseitezulassen.“
Mit
den Anstrengungen sind die Übungspraxis des Zazen und das alltägliche klare Handeln
gemeint. Da dieses nur im Augenblick stattfindet und dann die Wirklichkeit
selbst ist, sind demgegenüber die Fragen zu Geburt und Sterben rein
theoretischer Natur. Die Nicht-Geburt wird in einigen theoretischen
buddhistischen Schulen als das Nirvāna
bezeichnet, weil es nach der Lehre der Wiedergeburten keine erneute Geburt
gibt, wenn man in das Nirvāna eingegangen ist.
Für Dōgen haben solche doch spekulativen Gedanken keine große Bedeutung.
Wie
lässt sich aber die Vorstellung von der Nicht-Geburt mit dem reinen und wahren
Handeln der Buddhas in Verbindung bringen? Die ganze Wirklichkeit selbst ist im
Zen-Buddhismus das Nirvāna; es ist also nichts
Jenseitiges und nichts, in das man erst nach dem Tod eingeht.
Dōgen führt weiter aus, dass solche Menschen, welche die Anstrengung
mit Körper und Geist vernachlässigen und von Nicht-Geburt reden, nicht einmal
in die Nähe der plötzlichen und allmählichen Erleuchtung gelangen. Er kritisiert, dass sie sich nicht darum bemühen,
Klarheit darüber zu erlangen, was im Buddha-Dharma mit Begriffen wie
„Nicht-Buddha“, „Nicht-Wahrheit“, „Geist“ und „Erlöschen“ gemeint sein könnte.
Denn mithilfe der gründlichen Untersuchung dieser Begriffe und Zusammenhänge
sei es möglich, auf die Wirklichkeit des Buddha-Handelns selbst zu kommen und
ein solches Handeln im eigenen Leben zu verwirklichen.
Wie im Kapitel über
Leben und Sterben behandelt wird, ist das Handeln für Buddhas Wahrheit von
entscheidender Bedeutung. Wir können es wie ein „Werkzeug“und Wegweiser
auffassen, das zur Wirklichkeit führt. Dōgen rät uns auch dringend
herauszufinden, welche Absicht dahinter steckt, wenn Formulierungen wie
„Nicht-Geburt“ oder „Nicht-Buddha“ verwendet werden! Sollen wir zum Beispiel
damit gefangen oder getäuscht werden?