Eine negative oder gar
zynische ´idealistische´ Weltanschauung ist nicht mehr weit vom Nihilismus
entfernt, der grundsätzlich abstreitet, dass es überhaupt irgendetwas
Wirkliches und irgendeine Erkenntnis geben kann. Ethischer Zynismus verbunden
mit dem heutigen Materialismus ist sicher ein großes Problem der jetzigen
westlichen Welt.
Zurück zur Leerheit: Es mag
auch nicht verwundern, dass der große indische Meister Nāgārjuna in früheren westlichen Interpretationen des Buddhismus
dem Nihilismus zugerechnet wurde. Die gegenwärtigen Buddhologen distanzieren
sich davon jedoch grundsätzlich, und Nishijima Roshi, der die neue Übersetzung
von Nāgārjunas grundlegendem Werk zum Mittleren Weg (MMK) erarbeitet hat, hält
eine solche Zuordnung für völlig absurd.[i] Nāgārjuna
selbst sagte:
„Wer Weisheit hat, kennt die Natur der
Wirklichkeit“, und wir sollen
„Anschauungen aufgeben, welche die Wirklichkeit für nicht existent erklären.“ Weiter:
„Dies sind die zehn leuchtenden Pfade
des Handelns.“
Wie man angesichts dieser
Aussagen weiterhin behaupten kann, Nāgārjuna sei ein Nihilist, kann ich nun
wirklich nicht nachvollziehen.
Im MMK beschreibt Nāgārjuna
die dreifache Welt, die identisch ist mit dem Geist, als einzig mögliche Welt
und als einzig möglichen Geist. Danach gibt es
nichts außerhalb dieses Geistes. Auch dadurch wird deutlich, dass es sich nicht
um den isolierten Geist im Sinne der
europäischen Philosophie handelt, denn dieser steht ja gerade dem Körper und
dem Materiellen fremd gegenüber. Außerdem wird klar,
dass dieser umfassende Geist identisch mit Buddha, der Wahrheit und den
Lebewesen ist. Diese drei bilden daher ebenfalls eine Einheit.
Wir kommen damit zu dem
Schluss, dass die Bereiche des Denkens, des Materiellen und Fühlens sowie des
Handelns eine Einheit mit dem Geist, Buddha und den Lebewesen bilden. Das
heißt, die Menschen sind ursprünglich eine Einheit mit dem Geist und mit
Buddha. Das ist eine fundamentale Aussage von weitreichender Bedeutung, die zum
Beispiel beinhaltet, dass das Denken
nicht abgespalten werden darf von dem umfassenden Geist und Buddha. Das
Erwachen ist damit nicht zuletzt die Verwirklichung dieser Einheit und die
Anerkennung der grundsätzlichen Realität der Welt. Außerhalb dieser Einheit
gibt es laut Nāgārjuna und Dōgen überhaupt nichts.
Dōgens Lehre, dass auch die
Welt der Formen – und damit des Materiellen – zum Geist des Buddha-Dharma
gehört, mag für uns Menschen im Westen ein überraschendes Verständnis sein.
Unsere Vorstellungen vom Universum, also von der sichtbaren und unsichtbaren
Materie im Weltraum, konzentrieren sich meistens auf das Materielle.
Aber selbst
für die naturwissenschaftlich klar nachgewiesene Energie, die nach heutiger Kenntnis etwa Dreiviertel des Universums ausmacht, ist der Begriff der Materie
nicht mehr korrekt, weil Energie sich grundsätzlich in Materie umwandeln kann
und umgekehrt. Das heißt aber nichts anderes, als dass unsere üblichen
Vorstellungen von festen materiellen Dingen, aus denen die Welt angeblich
besteht, nur von sehr begrenzter Aussagekraft und eingeschränktem
Wahrheitsgehalt sind.
In ähnlicher Weise entfällt
auch die Bedeutung der unteilbaren kleinsten Atome oder der Elementarteilchen
als Grundbausteine der Welt, obgleich diese Vorstellungen im sogenannten
gesunden Menschenverstand immer noch tief verankert sind und fast
selbstverständlich erscheinen. Dōgens Ansatz reicht jedoch weit darüber hinaus:
Ihm geht es um die Einheit von Ideen, Materie und Handeln, und diese dreifache
Identität versteht er als Geist!
[i] Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way.
Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (MMK), Commentary by Gudo Wafu Nishijima and
Brad Warner, Kap. 1, Vers 2, S. 5 f.