Sonntag, 14. Oktober 2012

Handeln ohne Beschränkungen





Ohne eigene Erfahrung und Praxis ist es nach Dōgen nicht möglich, den höchsten Zustand, den man als Erwachen bezeichnet, zu erreichen. Heute bezeichnen wir dies als Primär-Erfahrung. Wer zum Beispiel in einem buddhistischen Land keine unverstellte Erfahrung der Wirklichkeit hat, weil er schon alles durch die Brille einer buddhistischen Dogmatik sieht, kann nicht erwachen; auch wenn er verbal fast alles über Erwachen sagen kann. Dōgen empfindet tiefes Mitleid mit solchen fehlgeleiteten Schülern, die diesem Irrglauben ohne Primär-Erfahrung anhängen, und er bedauert besonders ihren negativen Einfluss auf andere Menschen:
„Die Wurzeln des falschen Handelns dieser Menschen sind (leider) tief und fest.“

Die schwere Last und Bürde, die diese Menschen tragen, haben sie allerdings leider selbst erzeugt. Dōgen rät ihnen, diese Last fallen zu lassen und mit neuen Augen die Wirklichkeit des Lebens anzuschauen. Denn wenn sie einfach in ihrem Raster weitermachen wie bisher, besteht keine Chance zur Veränderung: Zen-Geist ist und Anfänger-Geist. Auch die buddhistische Dogmatik ist dann ein Gefängnis und muss durch direktes Handeln im Gleichgewicht geknackt werden!

Dōgen bringt seine Ausführungen über die handelnden Buddhas auf den Punkt:

„Der ungehinderte Zustand der Gegenwart des wahren und reinen Verhaltens des handelnden Buddhas ist (nur) auf den Zustand des Buddhas selbst fokussiert. In (diesem Zustand) gibt es keinerlei Beschränkung, weil der kraftvolle Weg (im Alltag) gemeistert worden ist, sich durch den Schlamm zu schleppen und im Wasser zu stehen.“

Im alten chinesischen Sprachgebrauch redet man stellvertretend für die Schwierigkeiten des Alltags vom Waten durch den Schlamm und Stehen im Wasser. Gleichzeitig beschreibt diese Redewendung das Handeln und die Bewegung. Es geht also nicht um einen statischen Zustand, den manche fälschlicherweise mit buddhistischen Begriffen assoziieren. Das kraftvolle Handeln der Buddhas und erwachten Menschen wird nicht durch irgendwelche Blockaden behindert.
Insbesondere wird es nicht durch Gedankenfixierungen, Ideologien und emotionale Barrieren eingeschränkt. Der Zustand des handelnden Buddhas erfährt auch von außen keine Einschränkung, sondern lebt aus sich selbst in voller Freiheit:

„Die handelnden Buddhas sind nur auf sich selbst fokussiert.“

Etwas überraschend ist in diesem Zitat von „Fokussierung“ die Rede. Wie ist das gemeint? Da dieses Selbst das große, geöffnete, unbegrenzte Selbst und nicht das kleine isolierte Ich oder Ego ist, bedeutet die Aussage, dass der ganze Kosmos, die anderen Menschen und das gesamte Universum einbezogen werden. Es handelt sich also nicht um eine Abgrenzung im üblichen Sinne, sondern gerade um eine Erweiterung, die weder durch innere Hindernisse und Grenzen noch durch äußere einengende Einflüsse gefesselt wird. Fokussiert heißt also, dass es keine verfälschenden Einflüsse gibt.

„(Das Handeln der Buddhas) hat die Tugend der sich öffnenden Blumen.“

Dieser Vergleich stellt einen Bezug zum Lotos-Sūtra her und wird im Zen-Buddhismus vielfach als Symbol verwendet, um sowohl die Verbindung zu den konkreten Dingen und Phänomenen wie Blumen und Pflanzen aufzubauen, als auch auf die Schönheit dieser Welt hinzuweisen. Dōgen ergänzt hierzu, dass das Handeln

„die Tugend des Erscheinens der Welt hat, ohne irgendeinen Abstand zwischen allen Dingen, Phänomenen und der Wahrheit.“

Damit weist er auf die in der Welt vorliegenden Fakten hin, die ein wesentlicher Bestandteil des buddhistischen Handelns sind und nicht vernachlässigt werden dürfen. Ein träumerischer Idealismus, der sich von Tatsachen und Fakten verabschiedet hat, ist laut Dōgen ungeeignet, wenn man den buddhistischen Weg gehen möchte. Der Dualismus, die Trennung von Subjekt und Objekt, muss überwunden werden und dies vollzieht sich genau im reinen, wahren Handeln.