Dienstag, 19. Februar 2013

Gleichmut – Das Tor zum erfüllten Leben




Eine besonders enge Verknüpfung der Himmlischen Verweilungen mit dem Zen gibt es durch deren vierten Bereich, den man mit Gleichmut übersetzen kann. Hierbei werden die Gefühle des Leidens und der seichten Freuden überwunden, allerdings ohne dass eine desinteressierte Gleichgültigkeit entsteht. Das wäre der falsche Weg, denn die Gleichmut ist ein wichtiger Bestandteil der Himmlischen Verweilungen und damit des Zustandes des Erwachens und der Erleuchtung. Wenn Dōgen davon spricht, dass wir beim Zazen unser wahres Selbst, also die Buddha-Natur, empfangen und Körper und Geist fallen lassen, trifft dies zweifellos das Wesentliche des Gleichmuts im Umgang mit sich selbst und mit anderen Menschen.
Bei der Analyse der Himmlischen Verweilungen unterscheidet Sylvia Kolk die drei Dimensionen der Ethik, Psychologie und Spiritualität.

Ethik bedeutet im Sinne des Zen-Buddhismus selbstverständliches, ganz natürliches Handeln, ohne auf den eigenen Vorteil zu achten und ohne erlernte, angeblich ethische Ideologien zu kopieren. Dieses Leitbild des Bodhisattva-Handelns ist gerade im Zen-Buddhismus von prägender Bedeutung. Dōgen hat in dem Kapitel über ethisch richtiges Handeln genau den Augenblick, in dem wir etwas tun oder unterlassen, in den Mittelpunkt gestellt. Das Böse gibt es demnach nicht als eigenständige Entität in der Welt, sondern es wird durch das Handeln der Menschen gewissermaßen künstlich erzeugt, obgleich es eigentlich nicht da sein müsste.

Durch diese Konkretisierung der Ethik auf den Augenblick des richtigen oder falschen Handelns wird im Zen-Buddhismus eine unnötige Abstraktion vermieden. Dōgen fordert uns auf, ganz konkret im Augenblick unser eigenes  Handeln zu beobachten und uns klar zu werden, was wir tun und welche Folgewirkung sich daraus ergibt. Alle Wirkungen unseres Handelns – wie zum Beispiel die Zerstörung der Umwelt und der Ökosysteme – betreffen uns selbst, aber auch andere Menschen, sogar spätere Generationen.

Dass unsere Gefühle unauflösbar mit psychischen Dimensionen verknüpft sind, wird sicher niemand bezweifeln. Oft sind die Gefühle sogar wesentlich kräftiger und eindeutiger, als die verbalen Äußerungen eines Menschen. Basis einer jeden Psychotherapie ist es zum Beispiel, die Gefühle des Patienten anzusprechen, zu erkennen und in den Heilungsprozess einzubringen. Die wahren Gefühle werden nämlich oft wegrationalisiert, depressiv oder selbstüberschätzend verzerrt; verhärtete Vorstellungen müssen aufgebrochen werden, damit psychische Heilung gelingt. Wir müssen sozusagen unsere eigenen Käfige verschrotten. Sylvia Kolk erläutert hierzu: „Die Praxis der Brahmaviharas ist eine sanfte Disziplin, die vom Herzen ausgeht und das Herz berührt. Sie ist innere Stärke und äußere Sanftheit.“

In der spirituellen Dimension geht es vor allem um die Einheit mit der Achtsamkeit und dem Samādhi und damit um die ganz praktische Verwirklichung des Achtfachen Pfades. Die spirituelle Erleuchtungsebene ist nach der Lehre von Dōgen und Nishijima Roshi die vierte und höchste Lebensphilosophie, die durch die Zazen-Praxis verwirklicht wird und auch die Bereiche der Ideen, des Denkens, der sinnlichen Wahrnehmung, die materielle Dimension und vor allem das Handeln umfasst und erleuchtet.

Gautama Buddha arbeitet in der kleinen Lehrrede von Asapura heraus, dass ein Mönch Gier, Hass, Zorn, Feindschaft, Heuchelei, Böswilligkeit, Ungeduld, Selbstsucht, Verrat, Vortäuschung, Boshaftigkeit und falsche Sichtweise ablegen muss. Nur dann sei er ein wahrer buddhistischer Mönch oder, wie es in den frühen Schriften heißt, ein Hausloser.

Aus der psychologischen Perspektive geht es also zunächst darum, solche Gefühle bei sich selbst zu erkennen, sie nicht zu beschönigen und zu verdrängen. Dass das nicht einfach ist, wird sicher jeder Psychotherapeut ohne Zögern bestätigen. Derartige Ziele sind leichter formuliert als realisiert. Trotzdem ist es wichtig, sie auf der Ebene der Ideen und Ethik klar zu formulieren, wohl wissend, dass dies nur die erste Phase der idealistischen Lebensphilosophie ist. Es kommt dann darauf an, sich selbst sehr genau zu beobachten, seine eigenen Interaktionen präzise wahrzunehmen und die Dinge und Phänomene ganz genau zu betrachten, ohne sie zu beschönigen und zu verzerren.