Der Begriff „Leere“ hat eine ähnliche Bedeutung wie
bei uns im Westen der Begriff der „Freiheit“, allerdings in einem umfassenden auch
spirituellen Sinn. Nishijima Roshi erklärt hierzu, dass sich in diesem Zustand
das vegetative, also autonome Nervensystem im Gleichgewicht des Zazen befindet
und dass sich dadurch Ausgeglichenheit und Ruhe einstellen. Es gibt dann im
Bewusstsein keine Störungen mehr, und dadurch wird das Universum genau so
erfahren, wie es ist. Damit ergibt sich eine Identität von Leere und dem
Zustand in der Zazen-Praxis.
Das sind Gleichgewicht und Soheit. Dôgen sagt folgerichtig zu den Begriffen von Form und Leere
über das obige Zitat hinaus, dass die Form auch die Form und die Leere auch die
Leere ist. Dadurch wird die Soheit von beiden besonders betont.
Ich hoffe, dass diese Ausführungen nicht allzu
verwirrend sind; wichtig ist dabei, dass es sich um die übergreifende Weisheit
jenseits des gewöhnlichen Denkens handelt, die sich nach der Lehre des
Buddhismus in der gegenstandslosen Zazen-Meditation beim Menschen unmittelbar
im Hier und Jetzt ereignet.
Die
intuitive, grenzüberschreitende Prajñā-Weisheit ist auch für die Wahrnehmung
wirksam. Ein erwachter Mensch haftet bei der Sinneswahrnehmung, zum Beispiel
beim Sehen, nicht mehr an der äußeren Form und an der Trennung von Subjekt und
Objekt, sondern überschreitet diese. Die Wahrnehmung wird nach altindischer
Tradition mit den sechs Formen der Sinne und den jeweiligen Objekten erfasst.
Auch
die Vier Edlen Wahrheiten des Gautama Buddha werden von dieser intuitiven
Weisheit (Prajñā-Pāramitā) durchdrungen. Dasselbe gilt für die überlieferten
sechs Arten des Bodhisattva-Handelns:
Freizügiges Geben, Einhalten der Gelöbnisse, Geduld, Ausdauer, Achtsamkeit und
Samādhi.
Dōgen
betont die Verwirklichung im gegenwärtigen
Augenblick (Sein-Zeit) und fügt die drei verschiedenen Arten der linearen
Zeit, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinzu.
Auch
die altindischen Arten der materiellen Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und
Raum sowie die vier Tätigkeiten des Alltags werden durch die große intuitive
Weisheit erfasst, von ihr durchdrungen, und dadurch werden das herkömmliche
Leben und Denken überschritten.
Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, sich
die Herkunft des Sanskrit-Begriffes shūnyatā
zu vergegenwärtigen: Peter Gäng zufolge wurde kurz vor der Zeitenwende von
indischen Mathematikern, die damals führend in der Welt waren, die Null im
System der positiven und negativen Zahlen entdeckt. Die Null heißt auf Sanskrit
shūnyatā. Die Null ist in der Mitte
zwischen den positiven und negativen Zahlen angeordnet und ermöglicht so das
„Gleichgewicht“ und die Funktionsfähigkeit des gesamten Zahlensystems.
Zur gleichen Zeit wurden von mehreren großen indischen
Meistern die Lehren des Mahāyāna-Buddhismus ausgearbeitet und interpretiert, wobei
Meister Nāgārjuna diesbezüglich einen
Höhepunkt und eine „goldene Periode“ prägte. Er verwendete für die
Kennzeichnung des Mittleren Weges, also des Gleichgewichts, vor allem den Begriff
shūnyatā und hat dies im Gesang des Mittleren Weges näher beschrieben. In älteren buddhistischen Lexika wird Nâgârjuna allerdings z. T. als Nihilist
bezeichnet, der angeblich durch den Inhalt von shûnyatâ alle Logik und alles Denken außer Kraft gesetzt hat und
eine Auflösung im „Nichts“ lehren würde.
Dies ist aber nach heutiger weitgehend
vorherrschender Sicht unrichtig, denn es geht um die intuitive, das unterscheidende
Denken überschreitende Weisheit, die in der Praxis des Zazen erfahren wird. Dann
verschwinden täuschende Ideen und materialistische oberflächliche Wahrnehmung.
Nishijima Roshi
hat zuweilen den Eindruck, dass diese intuitive
Weisheit, wie auch überhaupt die Intuition, im Westen nicht für wichtig
genug genommen und nicht richtig anerkannt werden. Oft wird ein scheinbarer
Gegensatz von rationalem Denken und Intuition konstruiert und letztere in den
Bereich der Esoterik und der Mystik verbannt, die wiederum eher abwertend
beurteilt werden. Dies ist meines Erachtens jedoch ganz unsinnig.