„Die Wahrheit ... zu lernen bedeutet,
sich ohne Darstellungsdrang die Nasenlöcher eines buddhistischen Meisters zu
leihen und durch sie die Luft ausströmen zu lassen. (Ein solches Verhalten) ist
der Wegweiser von zehntausend Zeitaltern, die Hufe eines Pferdes oder Esels zu
benutzen, um das Siegel der wirklichen Erfahrung zu prägen.“
Mit der Erwähnung der
Nasenlöcher der buddhistischen Meister geht Dōgen auf das konkrete Atmen und
Leben der Menschen ein. Die Nasenlöcher
sind im Zen Symbole für das Leben selbst.
Dies wird noch verstärkt, indem er Pferd und Esel einbezieht, die im alten China
und Japan den geschäftigen Alltag
wesentlich bestimmten. Der Abdruck der Hufe wird hier als Siegel der
Wirklichkeit und Erfahrung bezeichnet – eine tiefgründige poetische
Formulierung, die den Zen treffend charakterisiert.
Er betont, dass es auf die Gegenwart
und den Augenblick gerade beim geistigen Handeln ankommt, wie er es im
Kapitel „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt“ in großartiger Weise darlegt. Der Lernvorgang im
Geist soll dabei den unterscheidenden
Intellekt überschreiten, der die Dualität von Subjekt und Objekt nicht
beseitigen kann. Übrigens findet sich ein ähnlicher Ansatz bei Martin
Heidegger, der in Japan besonders in Zen-Kreisen von allen westlichen
Philosophen am bekanntesten ist:
"Das
Bedenklichste in dieser bedenklichen Zeit zeigt sich daran, dass wir noch nicht
denken".
Er meint damit ganz besonders die Überwindung der Trennung von Subjekt
und Objekt und verwendet dafür oft die Bindestriche zwischen den Worten. Er schätzt das Denken viel höher als das Wissen, die Kluft dazwischen kann nur im Sprung überwunden werden. Das gilt auch für uns: mit buddhistischem Wissen allein, ist es nicht getan, selbst wenn das Wissen in Bezug auf die Quellen korrekt ist (was nicht immer der Fall ist). Denken lebt von Fragen, wer nicht fragt und in Frage stellt, kann nicht in das Denken kommen. So gibt es bei Dōgen kaum ein Kapitel, in dem keine Fragen gestellt werden. Und er beantwortet selbst nur einige davon, die anderen überlässt er uns.
Dōgen hebt hervor, dass man sowohl durch das bewusste Denken als auch
durch das Nicht-Denken auf dem Weg
der Wahrheit üben soll. Damit meint er zweifellos die Zazen-Praxis, aber auch
den ganz normalen Alltag. Die moderne Gehirnforschung bestätigt, dass
unser Gehirn, von uns unbemerkt, umfassende Informationen verarbeitet und sie oft erst nach der Bearbeitung bewusst werden lässt, gewissermaßen an das
Bewusstsein weiterleitet. Geben wir dem Gehirn eine Chance dazu! Mit Aktionismus und Multi-Tasking kommen wir dabei nicht weiter.
Außerdem ist die Verbindung vom Meister zum Schüler, der später selbst
Meister wird, von fundamentaler Wichtigkeit, und Dōgen spricht davon, dass bei
dieser Verbindung „der Geist durch den
Geist lernt“. Der Geist des zukünftigen Meisters wird von dem des
vorherigen im direkten ganzheitlichen
Kontakt als Lernprozess erfasst und dreht damit das Dharma-Rad.
Schließlich kommt er auf die
Natur zu sprechen:
„Kurz gesagt: Die Berge, die Flüsse,
die Erde und die Sonne, der Mond und die Sterne, sie sind der Geist. Aber genau
in dem Augenblick, wenn dies so ist: Welcher Zustand wird dabei direkt vor uns
verwirklicht?“
Was meint er damit? Diese
für einen westlichen Leser sicher überraschenden Aussagen erklären sich aus der
Überwindung der Dualität, also der Aufhebung der Trennung von Ich und Welt:
Wenn diese eigentlich künstliche Trennung
beendet ist, gibt es zwischen uns und der Natur keinen Unterschied. Sie wird
dann nicht auf getrennte Objekte reduziert,
die unser Verstand vielleicht denkt oder unsere Wahrnehmung angeblich
„objektiv“ erkennt. Dōgen hat die Kraft und Reinheit der Natur, die uns
unmittelbar die Wahrheit Buddhas lehren kann, in mehreren Kapiteln umfassend
beschrieben; sie lehrt uns die große Buddha-Wahrheit.