Donnerstag, 28. August 2014

Der erdhafte Schatz des Menschen


Wann sind die Wasser wirkliche Wasser, und wann sind die Berge wirkliche Berge? Das hört sich recht einfach an. Ist es aber wirklich so einfach? Und was sagt Dōgen?

Wenn wir in Ideen, Überlegungen, Erinnerungen und Illusionen versunken sind, haben wir keinen direkten Zugang zur Natur in ihrer ganzen überwältigenden Vielfalt – daran erinnert uns Dōgen immer wieder. Auch müssen wir genau die Begriffe „Berg“ und „Wasser“ von der deren Wirklichkeit unterscheiden. Es gibt dabei eine Vielfalt von Bergen, zum Beispiel spitze, pyramidenartige Berge, wie in den Alpen das Matterhorn, oder Tafelberge, die in China häufiger vorkommen. Diese jeweils sehr konkreten Berge sind hier gemeint, und Dōgen fordert uns auf, nicht in allgemeine Abstraktionen und Vorstellungen abzuschweifen.

Es geht sowohl um die Form und materielle Sicht der Berge in der Natur und als auch um immaterielle, aber sehr konkrete psychische Realitäten: Wenn wir zum Beispiel ein Hindernis, also einen „emotionalen Berg“, überwinden und dann in ein „schönes Tal der Freiheit“ gelangen. Dōgen bezieht die in den indischen Mythen genannten Berge und Seen mit ein, will sie aber so verstanden wissen, dass es sich um konkrete, spirituelle Wirklichkeiten handelt und nicht um seelenlos angelerntes Wissen oder spirituelle Illusionen und Träumereien.

Mit der Erde ist hier nicht nur der Erdboden gemeint, sondern es werden auch Felsen und felsige Hochebenen einbezogen. Dōgen geht hier ganz konkret vor und erwähnt ausdrücklich auch Blumenerde in einer Pflanzschale oder in einem aufgehängten Topf. Die Lotospflanzen werden zum Beispiel in Japan in großen Tonkübeln gehalten, die eine geeignete Erdschicht für die Wurzeln aufnehmen und mit Wasser gefüllt sind.

Dōgen verwendet für die Erde den japanischen Begriff chi, den man auch als Adjektiv mit „erdhaft“ übersetzen kann. Er sagt, dass auch ein mentaler oder psychischer Zustand in diesem Sinne erdhaft und fundiert sein kann; er ist dann der Ort eines wertvollen „Schatzes“. „Erdhaft“ hat im Japanischen also eine vielfältige Bedeutung, etwa im Sinne von „fest“, „solide“, „vertrauenswürdig“ und auch „wertvoll“.
Außerdem ist die subjektive Sichtweise der Menschen unterschiedlich. Zum Beispiel werden die Sonne, der Mond und die Sterne sehr verschiedenartig wahrgenommen. Können wir daher überhaupt abstrakt von der Sonne, dem Mond und den Sternen reden? Damit leitet Dōgen zur Frage des einen Geistes der Wahrheit über und fügt einen erstaunlichen Satz hinzu:

„Obgleich diese (Vielfalt) so ist, ist das, was durch den Geist der Einheit gesehen wird, selbst einheitlich.“

Dies scheint ein Widerspruch und eine Paradoxie zu sein, die angeblich so typisch für den Zen ist. Was ist gemeint? Meine Erklärung lautet: Erst durch den balancierten Geist, also durch den Zustand im Gleichgewicht, der auch als ganzer, ungeteilter und konzentrierter Geist bezeichnet wird, ist es überhaupt möglich, die wirkliche Vielfalt dieser Welt insgesamt und umfassend zu erkennen.

So ist die Vielfalt der Dinge und Phänomene erst durch den ungeteilten Geist des Gleichgewichts und Mittleren Weges überhaupt zu sehen. Auf diese Weise kann die scheinbare Paradoxie von Einheit und Vielfalt relativ einfach erklärt werden und ist keinesfalls ein der Vernunft unzugängliches Rätsel. Dōgen fordert uns immer wieder auf, Fragen zu stellen und uns selbst Antworten zu erarbeiten. Auch Martin Heidegger sagt: Philosophie ist nicht Wissen sondern Denken.

Die Vielfalt der Natur kann aus materialistischer Sicht allerdings nur eingeengt und oft eindimensional verstanden werden. Dies entspricht der naturwissenschaftlichen Forschung und Sichtweise. Auch dafür sind allerdings ein klarer Verstand, saubere Methoden und ein genaues Unterscheidungsvermögen notwendig.

Wenn ein Mensch jedoch darüber hinaus in der Einheit des Gleichgewichtsgeistes die Vielfalt und Schönheit dieser Welt wahrnimmt, gewinnt er eine neue Dimension und Tiefenschärfe der Welt und von sich selbst. Diese Dimension geht über die materielle Sicht weit hinaus. Wir können sie mit der Sichtweise eines Künstlers vergleichen, der dem Materiellen einen neuen Geist und eine neue Spiritualität verleihen kann. Etwas vereinfacht möchte ich diesen Zusammenhang so formulieren:

Durch das Gleichgewicht des Körper-und-Geistes im Sinne des Zen-Buddhismus ist es erst wirklich möglich, die verschiedenen Sichtweisen der Menschen zu verstehen und gleichzeitig die Vielfalt der Dinge und Phänomene in der Welt zu erfassen.