Wann sind die Wasser wirkliche Wasser, und wann sind die
Berge wirkliche Berge? Das hört sich
recht einfach an. Ist es aber wirklich so einfach? Und was sagt Dōgen?
Wenn wir in Ideen,
Überlegungen, Erinnerungen und Illusionen versunken sind, haben wir keinen direkten Zugang zur Natur in ihrer
ganzen überwältigenden Vielfalt – daran erinnert uns Dōgen immer wieder. Auch
müssen wir genau die Begriffe „Berg“
und „Wasser“ von der deren Wirklichkeit
unterscheiden. Es gibt dabei eine Vielfalt von Bergen, zum Beispiel spitze,
pyramidenartige Berge, wie in den Alpen das Matterhorn, oder Tafelberge, die in
China häufiger vorkommen. Diese jeweils sehr konkreten Berge sind hier gemeint,
und Dōgen fordert uns auf, nicht in allgemeine Abstraktionen und Vorstellungen
abzuschweifen.
Es geht sowohl um die Form
und materielle Sicht der Berge in der Natur und als auch um immaterielle, aber
sehr konkrete psychische Realitäten: Wenn wir zum Beispiel ein Hindernis, also
einen „emotionalen Berg“, überwinden
und dann in ein „schönes Tal der Freiheit“
gelangen. Dōgen bezieht die in den indischen Mythen genannten Berge und Seen
mit ein, will sie aber so verstanden wissen, dass es sich um konkrete,
spirituelle Wirklichkeiten handelt und nicht um seelenlos angelerntes Wissen
oder spirituelle Illusionen und Träumereien.
Mit der Erde ist hier nicht nur der Erdboden gemeint, sondern es werden
auch Felsen und felsige Hochebenen einbezogen. Dōgen geht hier ganz konkret vor
und erwähnt ausdrücklich auch Blumenerde in einer Pflanzschale oder in einem
aufgehängten Topf. Die Lotospflanzen
werden zum Beispiel in Japan in großen Tonkübeln gehalten, die eine geeignete
Erdschicht für die Wurzeln aufnehmen und mit Wasser gefüllt sind.
Dōgen verwendet für die Erde
den japanischen Begriff chi, den man
auch als Adjektiv mit „erdhaft“ übersetzen kann. Er sagt, dass auch ein
mentaler oder psychischer Zustand in diesem Sinne erdhaft und fundiert sein
kann; er ist dann der Ort eines wertvollen „Schatzes“. „Erdhaft“ hat im
Japanischen also eine vielfältige Bedeutung, etwa im Sinne von „fest“,
„solide“, „vertrauenswürdig“ und auch „wertvoll“.
Außerdem ist die subjektive
Sichtweise der Menschen unterschiedlich. Zum Beispiel werden die Sonne, der
Mond und die Sterne sehr verschiedenartig wahrgenommen. Können wir daher
überhaupt abstrakt von der Sonne, dem Mond und den Sternen reden? Damit leitet Dōgen zur Frage des einen Geistes der Wahrheit über und fügt einen
erstaunlichen Satz hinzu:
„Obgleich diese (Vielfalt) so ist, ist
das, was durch den Geist der Einheit gesehen wird, selbst einheitlich.“
Dies scheint ein Widerspruch
und eine Paradoxie zu sein, die angeblich so typisch für den Zen ist. Was ist
gemeint? Meine Erklärung lautet: Erst durch den balancierten Geist, also durch
den Zustand im Gleichgewicht, der
auch als ganzer, ungeteilter und konzentrierter Geist bezeichnet wird, ist es
überhaupt möglich, die wirkliche Vielfalt
dieser Welt insgesamt und umfassend zu erkennen.
So ist die Vielfalt der
Dinge und Phänomene erst durch den ungeteilten Geist des Gleichgewichts und Mittleren Weges überhaupt zu sehen. Auf
diese Weise kann die scheinbare Paradoxie von Einheit und Vielfalt relativ
einfach erklärt werden und ist keinesfalls ein der Vernunft unzugängliches
Rätsel. Dōgen fordert uns immer wieder auf, Fragen zu stellen und uns selbst
Antworten zu erarbeiten. Auch Martin Heidegger sagt: Philosophie ist nicht Wissen
sondern Denken.
Die Vielfalt der Natur kann
aus materialistischer Sicht allerdings nur eingeengt und oft eindimensional
verstanden werden. Dies entspricht der naturwissenschaftlichen Forschung und
Sichtweise. Auch dafür sind allerdings ein klarer
Verstand, saubere Methoden und ein genaues Unterscheidungsvermögen
notwendig.
Wenn ein Mensch jedoch
darüber hinaus in der Einheit des
Gleichgewichtsgeistes die Vielfalt und Schönheit dieser Welt wahrnimmt,
gewinnt er eine neue Dimension und Tiefenschärfe
der Welt und von sich selbst. Diese Dimension geht über die materielle
Sicht weit hinaus. Wir können sie mit der Sichtweise eines Künstlers
vergleichen, der dem Materiellen einen neuen Geist und eine neue Spiritualität
verleihen kann. Etwas vereinfacht möchte ich diesen Zusammenhang so
formulieren:
Durch das Gleichgewicht des
Körper-und-Geistes im Sinne des Zen-Buddhismus ist es erst wirklich möglich,
die verschiedenen Sichtweisen der Menschen zu verstehen und gleichzeitig die
Vielfalt der Dinge und Phänomene in der Welt zu erfassen.