Es ist wirklich nicht
sinnvoll, spirituelle und künstlerische Lebensbereiche nach Maß, Zahl und
Gewicht allein anzugehen, und es ist nicht besonders erhellend zu fragen, was
das Innere und was das Äußere sei. Wenn wir uns zum Beispiel eine aus Marmor
geschaffene Figur von Michelangelo
anschauen, so ist die Frage nach der Größe und dem Gewicht wirklich nicht
relevant. Genauso wenig interessiert es, wie der Stein im Inneren beschaffen
sein mag. Der Künstler hat nämlich aus dem materiellen Stein etwas Lebendiges geschaffen, das uns als
Wirklichkeit erfasst und zu uns redet,
wenn wir uns ihm öffnen. Das ist wichtig!
„Wir sollten (die Sonne, den Mond usw.)
nicht als etwas sehen, das erscheint oder verschwindet.“
Das wäre nämlich nur gedacht
oder vermutet. Da die Klarheit des balancierten Geistes im gegenwärtigen Augenblick wirksam ist, kommt der Frage nach dem
Erscheinen und Vergehen vor und nach diesem Augenblick keine große Bedeutung
zu. Im Allgemeinen denken wir nämlich, dass im
Augenblick der Geburt etwas bisher nicht Vorhandenes hinzugefügt wird und dass
beim Tod etwas Wesentliches fortgenommen wird. Aber solche Fragen sind meines
Erachtens für den Zustand des Gleichgewichts genau im Augenblick von
untergeordneter Bedeutung, und sie sind auch für diesen ganz kurzen Moment gar
nicht zu beantworten. Dōgen erklärt entsprechend
dazu:
„Die Vergangenheit war einfach ein
Augenblick des Geistes, und die Gegenwart ist dann ein zweiter Augenblick des
Geistes.“
Die wirkliche Vielfalt der
Dinge und Phänomene wird erst durch den Augenblick des Geistes im Gleichgewicht
erfahrbar. Dies halte ich für eine zentrale Aussage im Zen, und sie ist
eigentlich ganz einfach.
Dōgen bezieht die Berge,
Flüsse, die Erde usw. in einen solchen gegenwärtigen Augenblick des Geistes ein
und sagt, dass nur in diesem Augenblick
die Berge wirkliche Berge und die
Flüsse wirkliche Flüsse sind. Die
Überwindung der üblichen Dualität des
gewöhnliches Geistes führt uns zur Wahrheit der Erleuchtung und zu den wahren
Bergen, Flüssen usw. Eine solche Wirklichkeit
der Natur geht über Begriffe wie
Existenz oder Nicht-Existenz hinaus.
Auch andere Vorstellungen
und Begriffe wie klein und groß, erlangen oder nicht erlangen, erkennen oder
nicht erkennen, können den Zustand des Gleichgewichts im Augenblick nicht
angemessen beschreiben. Letztlich ist dieser Zustand sogar jenseits dessen, was
wir mit den Begriffen und der Vorstellung von Verwirklichung oder
Nicht-Verwirklichung überhaupt beschreiben können.
„Wir sollten ganz darauf vertrauen,
dass die Worte‚ der Geist lernt die Wahrheit‘ (seine Eigenschaft) bezeichnet,
dass der so beschriebene Geist durch sich selbst die Fähigkeit des Erlernens
der Wahrheit erwirbt. Dieses Vertrauen ist selbst jenseits von groß und klein,
Existenz und Nicht-Existenz.“
Damit erklärt Dōgen, dass
der Geist aus sich selbst heraus immer mehr lernt, die Wahrheit zu erlangen.
Das heißt, diese Fähigkeit findet er durch sich selbst und nicht durch jemand
anderes. Den Wahrheitsgeist muss also
jeder aus sich selbst entwickeln.
Heute würden wir sagen, es
handelt sich um einen selbstähnlichen und selbstverstärkenden
Realisierungsvorgang – übrigens ein typisches Merkmal für jeden lebenden
Prozess und für das Leben selbst. Entscheidend ist dabei, dass man den festen
Willen hat, diesen Weg zu gehen.
Vertrauen ist aber nicht
Glauben und bedeutet, dass wir zwar vertrauensvoll den Weg beschreiten, aber
genau feststellen und erproben, ob er richtig ist und die richtige Wirkung hat.
Vertrauen ist im Gegensatz zum Glauben nicht blind für die empirische
Überprüfung und Falsifizierung. Beim Glauben wird zu oft die Vernunft
ausgeschaltet.
Beim
vertrauensvollen Beginn eines Lernprozesses sind dagegen die klare
Selbstbeobachtung und Selbstreflexion durch die Vernunft erforderlich, und
daraus ergibt sich erst die realitätsnahe
Feinsteuerung. Dies sind zweifellos Kernpunkte des Zen-Buddhismus.