Was
ist „der nackte, reine Geist, Augenblick
für Augenblick“?,
fragt Dōgen. Das
entsprechende japanische Wort seki,
das ich mit „nackt“ und „rein“ übersetzt habe, soll den direkten Augenblick in
der Gegenwart treffend bezeichnen. Es geht dabei nicht um Vorstellungen und
Ideen über den Augenblick, sondern um die Wirklichkeit
selbst, Augenblick nach Augenblick. Das heißt auch, dass im Augenblick
nichts verdeckt oder weggelassen und nichts hinzu fantasiert wird.
Die Rundheit des Mondes ist im Zen-Buddhismus häufig ein Symbol für die
Erleuchtung, also für den Wahrheitsgeist. Auch die runden Blätter des Lotos und die im alten China
gebräuchlichen runden Spiegel aus
fein poliertem Metall sind von der Sein-Zeit des Augenblicks nicht zu trennen.
Gleiches gilt für den reinen Geist, Augenblick für Augenblick.
Dōgen erwähnt in diesem
Zusammenhang die Wasserkastanie,
wobei deren einzelne Stacheln als
Symbol für die Augenblicke stehen. Er spricht davon, dass die spitzen Stacheln
gleichzeitig wie ein Bohrer wirken.
Ich interpretiere diese Aussage so, dass die Stacheln zum Kern des reinen und
bloßen Geistes vordringen können und damit Fantasievorstellungen und
theoretische Abstraktionen durchstoßen. Dōgen verwendet also die Rundheit und
die Spitzigkeit als Symbole für den Geist in der Sein-Zeit.
Im existenziellen und
spirituellen Bereich kann es keine Dinge und Phänomene geben, die unabhängig von der Sein-Zeit sind. Nur
im Augenblick gibt es die Wirklichkeit, die frei von Illusionen, emotionalen
Bewertungen und Verzerrungen durch Affekte ist. Dies ist der „nackte Geist“ der
nackten Wahrheit.
Dōgen erwähnt dann das
Zen-Zitat „Der Geist der ewigen Buddhas“
und verbindet es mit dem Kōan-Gespräch des großen Meisters Daisho, der von
einem Mönch gefragt wurde:
„Was ist der
Geist der ewigen Buddhas?“
Der Meister gibt eine
wirklich verblüffende Antwort:
„Hecken, Mauern, Ziegel und
Kieselsteine.“
Diese Dinge dürfen wir
jedoch nicht materialistisch verstehen, weil damit die Verbindung zu dem Geist
der großen Meister verloren ginge. Genauso falsch wäre es, sich in abstrakten
Theorien darüber zu verlieren, was der Geist der großen Meister sei. Um auf die
konkrete Welt hier und jetzt zurückzukommen und den Mönch von unnützen
Spekulationen seines „Denk-Käfigs“ wegzubringen,
antwortet daher der Meister mit der Aufzählung der Hecken, Mauern, Ziegel und
Kieselsteine, denn sie bilden mit dem wahren Geist, den Dōgen meint, eine
unauflösbare Einheit.
Eine abstrakte Welt der
Urideen, die losgelöst von der materiellen Wirklichkeit der Welt existieren,
wie der griechische Philosoph Platon gelehrt hat, ist daher im Zen-Buddhismus
völlig unsinnig und gehört in den Bereich der Spekulationen. Gerade die
Vorstellungen vom Geist der großen Meister können leicht zu idealisierenden und
utopischen Konstrukten führen.
Dem will Dōgen hier konsequent einen
Riegel vorschieben.