Wenn Dōgen davon spricht,
dass man im Alltagsleben durch den „Schlamm
geht und im Wasser steht“, bezieht er sich im Hinblick auf die große
Wahrheit auf die täglichen Gegebenheiten im alten China und Japan. Er erklärt,
dass wir uns selbst wie mit einem Seil an die
große Wahrheit binden, und meint damit die Selbststeuerung
des Zen, die alle Extreme vermeidet und mit dem buddhistischen Ethos im
Einklang ist.
„(Die Wahrheit) hat die Kraft, einen
Edelstein herauszuziehen und auch achtsam in das Wasser zu gehen und eine Perle
zu finden. Wir sollen uns nicht dadurch irritieren lassen, dass die Wahrheit
sich manchmal verabschiedet, dass sie auseinanderfällt oder auch plötzlich ganz
verschwindet.“
Das heißt, dass wir im
Lernprozess der Wahrheit manchmal das Bewusstsein und die Klarheit über diese
Wahrheit selbst verlieren, aber dadurch kann sich das Problem der
Wahrheitsfindung durch das Bewusstsein gerade auflösen. Wir handeln dann
unmittelbar und ohne dualistisches Denken
von Subjekt und Objekt.
Die Wahrheit besteht
keinesfalls nur aus materiellem Beobachten und intellektuellem Denken, denn
beides vollzieht sich in der Trennung von Subjekt und Objekt und ermöglicht
keinen direkten, umfassenden Zugang zur Wirklichkeit.
„Indem wir einen (geistigen) Salto machen,
lernen wir die Wahrheit.“
Jeder besitzt laut Dōgen den
natürlichen Zustand, den Umständen und Gesetzen der Welt und des Lebens zu
folgen, also in Harmonie und Kreativität mit ihnen zu handeln. Dadurch fallen je im Augenblick die einengenden Mauern
zusammen, und wir lernen, offen in den zehn Himmelsrichtungen zu leben.
Den Wahrheits- oder
Bodhi-Geist beschreibt Dōgen in mehreren Kapiteln. Es sei von zentraler
Bedeutung, dass wir genau diesen Geist
erwecken, denn damit erlangen die Lebensbereiche von Leben-und-Tod und von Nirvāna
sowie alle anderen Lebensumstände eine neue Bedeutung; sie überschreiten das
herkömmliche Verständnis.
Der geografische Ort für den
Aufenthalt des Menschen ist unwesentlich, wenn wir den Wahrheitsgeist erwecken
und entwickeln. Dieser ist frei von Vorurteilen, psychischen Blockaden, Ängsten
und gierigem Willen. Philosophische Begriffe und Bedeutungen wie Existenz oder
Nicht-Existenz sind ebenfalls weitgehend bedeutungslos und werden einfach
beiseite gelassen. Auch die üblichen Bewertungen wie gut oder schlecht,
moralisch vorbildlich oder falsch sowie Begriffe wie Sünder, Zöllner und
Gescheiterte verlieren ihre Bedeutung – und zwar für uns selbst und -nicht
zuletzt- im Zusammenleben und Handeln mit anderen Menschen.
Dōgen betont, dass die
Bodhi-Wahrheit weder eine Belohnung für früheres gutes karmisches Handeln ist,
noch eine Folge davon, sondern es komme genau auf den jetzigen Augenblick und
auf die Befreiung von karmischen
Bindungen an.
Ein Mensch der
Bodhi-Wahrheit mag sich so fühlen, als ob er „unter Fremden weilt“, deren Sprache er nicht mehr versteht, denn er
hat die gewöhnlichen Lebensphilosophien verlassen. Der Wahrheitsgeist verlässt
ihn allerdings nicht, gerade wenn er in schwierige Situationen kommt und mit
Menschen Umgang hat, die gierig wie Tiere ihren Vorteil verfolgen oder mit
verblendetem Geist verhärteten Ideologien nachjagen.
Der Wahrheitsgeist gibt den Menschen
Stabilität, innerer Ruhe und Lebensfreude.