Dienstag, 30. September 2014

Der „normale“ Geist und der Körper


Normaler Geist
Dōgen behandelt eingehend den sogenannten „normalen Geist“; damit meint er einen im Gleichgewicht befindlichen natürlichen Geist. Der Begriff „normal“ darf hier also keineswegs so verstanden werden, dass es sich um den gewöhnlichen Geist der Menschen handelt, die nicht zur Bodhi-Wahrheit gelangt sind und in den üblichen Denkmustern und Vorurteilen ihrer jeweiligen Zeit und Kultur fixiert sind.

Nishijima und Cross erklären dazu:
Mit anderen Worten ist das Normale der augenblickliche Zustand des natürlichen Tuns und Handelns, gerade auch in einer bestimmten Verantwortung des Alltags.“

Das ist ebenfalls eine ganz typische Aussage des Zen-Buddhismus, der fordert, dass der Wahrheitsgeist nicht nur von einsamen Heiligen und hinter Klostermauern wirksam ist, sondern auch und gerade im ganz normalen täglichen Leben und Handeln. Dies wird durch die Fokussierung auf den gegenwärtigen Augenblick und damit auf das unmittelbare Erfahren in der Praxis ermöglicht.

Für den normalen Geist gilt nämlich die Feststellung: „Die Worte sind im Gleichgewicht, der Geist ist im Gleichgewicht, und der Dharma ist im Gleichgewicht.“ Es mag durchaus sein, dass die meisten Menschen wenig vertraut sind mit der Bedeutung der Formulierung „Worte im Gleichgewicht“, dem Geist und der Dharma-Wahrheit. Dōgen erklärt dazu Folgendes:
„Der ganze Himmel und die ganze Erde der Gegenwart sind wie eine Sprache, die ungewohnt ist, wie eine Stimme, die aus dem Grund der Erde hervorkommt.“

Er fährt fort, dass ein solches Gleichgewicht maßgeblich für das Kommen und Gehen im Augenblick unseres Lebens ist und dass wir oft von großer Ignoranz gegenüber dem „höchsten Körper“ der Verwirklichung des gegenwärtigen Lebens auf der Erde sind.

Obgleich wir unwissend sind, versichert Dōgen, würden wir gewiss Fortschritte auf dem Bodhi-Weg machen, wenn wir diesen „normalen Geist“ erwecken. Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass dieser Weg gegenwärtig ist, und selbst wenn wir hin und wieder Zweifel haben, schreiten wir mit der Buddha-Wahrheit voran, wenn wir einmal den klaren Entschluss dazu gefasst haben.
Mit diesen Aussagen schließt Dōgen das Erlernen der Bodhi-Wahrheit durch den Geist ab und wendet sich dem Körper zu.

Das Erlernen mit dem Körper
Ohne den Körper ist das Lernen der Wahrheit unmöglich. Dabei geht es Dōgen ganz konkret um unseren Körper aus Fleisch und Blut, der ja eine Einheit mit dem Geist bildet. Er zitiert hierzu Meister Chosa Keishin, der im 9. Jahrhundert lebte: „Das ganze Universum der zehn Himmelsrichtungen ist genau der wirkliche menschliche Körper.“ Meister Engo Kokugon formulierte in gleichem Sinne:

„Leben-und-Sterben, Gehen-und-Kommen sind der wirkliche menschliche Körper.“

Wir handeln immer ganz wesentlich mit dem Körper, zum Beispiel um Unrechtes zu vermeiden, die Gelöbnisse einzuhalten und die Zuflucht zu den drei Kostbarkeiten Buddha, Dharma und Sangha zu nehmen. Eine nur materialistische Sicht des Körpers führt hier in die Irre, insbesondere wenn sie ohne jede ethische Bindung verstanden wird.

Dōgen bezeichnet diese Sichtweise als naturalistisches Weltbild und betont den fundamentalen Unterschied zum Natürlichen im Buddhismus, der immer im Einklang mit den Gesetzen des Universums, des Lebens und des Ethos ist. Wie er bei den 108 Toren zur Erleuchtung[i] sagt, gehören die vier himmlischen Verweilungen – also die liebevolle Zuwendung, das Mitgefühl, die Mitfreude und der Gleichmut – unauflösbar zum Buddhismus und offenbaren den großen Gegensatz zum materialistischen und naturalistischen Weltbild.






[i] Shobogenzo, deutsche Fassung, Bd. 3, S. 311 ff.