Normaler Geist
Dōgen
behandelt eingehend den sogenannten „normalen
Geist“; damit meint er einen im Gleichgewicht
befindlichen natürlichen Geist. Der Begriff „normal“ darf hier also keineswegs
so verstanden werden, dass es sich um den gewöhnlichen
Geist der Menschen handelt, die nicht zur Bodhi-Wahrheit gelangt sind und in
den üblichen Denkmustern und Vorurteilen ihrer jeweiligen Zeit und Kultur
fixiert sind.
Nishijima
und Cross erklären dazu:
„Mit anderen
Worten ist das Normale der augenblickliche Zustand des natürlichen Tuns und
Handelns, gerade auch in einer bestimmten Verantwortung des Alltags.“
Das
ist ebenfalls eine ganz typische Aussage des Zen-Buddhismus, der fordert, dass
der Wahrheitsgeist nicht nur von einsamen Heiligen und hinter Klostermauern
wirksam ist, sondern auch und gerade im ganz normalen täglichen Leben und Handeln. Dies wird durch die
Fokussierung auf den gegenwärtigen Augenblick und damit auf das unmittelbare
Erfahren in der Praxis ermöglicht.
Für
den normalen Geist gilt nämlich die Feststellung:
„Die Worte sind im Gleichgewicht, der
Geist ist im Gleichgewicht, und der Dharma ist im Gleichgewicht.“ Es mag
durchaus sein, dass die meisten Menschen wenig vertraut sind mit der Bedeutung
der Formulierung „Worte im Gleichgewicht“, dem Geist und der Dharma-Wahrheit. Dōgen
erklärt dazu Folgendes:
„Der ganze
Himmel und die ganze Erde der Gegenwart sind wie eine Sprache, die ungewohnt
ist, wie eine Stimme, die aus dem Grund der Erde hervorkommt.“
Er
fährt fort, dass ein solches Gleichgewicht maßgeblich für das Kommen und Gehen
im Augenblick unseres Lebens ist und dass wir oft von großer Ignoranz gegenüber
dem „höchsten Körper“ der Verwirklichung des gegenwärtigen Lebens auf der Erde
sind.
Obgleich
wir unwissend sind, versichert Dōgen, würden wir gewiss Fortschritte auf dem
Bodhi-Weg machen, wenn wir diesen „normalen Geist“ erwecken. Es besteht
überhaupt kein Zweifel, dass dieser Weg gegenwärtig ist, und selbst wenn wir
hin und wieder Zweifel haben, schreiten wir mit der Buddha-Wahrheit voran, wenn
wir einmal den klaren Entschluss dazu gefasst haben.
Mit
diesen Aussagen schließt Dōgen das Erlernen der Bodhi-Wahrheit durch den Geist
ab und wendet sich dem Körper zu.
Das Erlernen mit dem Körper
Ohne
den Körper ist das Lernen der Wahrheit unmöglich. Dabei geht es Dōgen ganz
konkret um unseren Körper aus Fleisch und Blut, der ja eine Einheit mit dem
Geist bildet. Er zitiert hierzu Meister Chosa
Keishin, der im 9. Jahrhundert lebte: „Das ganze Universum der zehn
Himmelsrichtungen ist genau der wirkliche menschliche Körper.“ Meister Engo Kokugon formulierte in gleichem
Sinne:
„Leben-und-Sterben,
Gehen-und-Kommen sind der wirkliche menschliche Körper.“
Wir
handeln immer ganz wesentlich mit dem Körper, zum Beispiel um Unrechtes zu
vermeiden, die Gelöbnisse einzuhalten und die Zuflucht zu den drei
Kostbarkeiten Buddha, Dharma und Sangha zu nehmen. Eine nur materialistische
Sicht des Körpers führt hier in die Irre, insbesondere wenn sie ohne jede
ethische Bindung verstanden wird.
Dōgen
bezeichnet diese Sichtweise als naturalistisches
Weltbild und betont den fundamentalen Unterschied zum Natürlichen im
Buddhismus, der immer im Einklang mit den Gesetzen des Universums, des Lebens
und des Ethos ist. Wie er bei den 108 Toren zur Erleuchtung[i] sagt,
gehören die vier himmlischen Verweilungen – also die liebevolle Zuwendung, das
Mitgefühl, die Mitfreude und der Gleichmut – unauflösbar zum Buddhismus und
offenbaren den großen Gegensatz
zum materialistischen und naturalistischen Weltbild.