Dōgen kritisiert in aller
Klarheit die Ideologie, dass wir uns nicht anstrengen müssten, da wir ja schon
von Natur aus Buddha, also erwacht und
erleuchtet seien. Er zitiert dazu den großen Meister Hyakujo, der das Anhaften an dieser oberflächlichen und falschen
Lehre als besonders verhängnisvoll bezeichnet. Er selbst hat, wie die
Überlieferung berichtet, intensiv und ausdauernd praktiziert
und sich auf diese Weise von seinen eigenen Fesseln und seinem eigenen Käfig
befreit.
Er bezeichnet die
Naturalisten, die aus einer Sicht nicht dem Buddhismus angehörten, schlicht als Müßiggänger. Im Gegensatz dazu habe Hyakujo durch seine intensive
Praxis große Verdienste und Tugenden beim Lernen der Wahrheit zum Beispiel für seine
Nachfolger erworben. Er sei dadurch
in „die Freiheit gesprungen“, wie
sich Dōgen ausdrückt. Er bewundert die große Anstrengung und den hohen
körperlichen Einsatz von Meister Hyakujo auf dem Weg, die Bodhi-Wahrheit zu
erlernen. Seinen Aussagen könne man unbedingt vertrauen.
Solche zielstrebigen und
ausdauernden Menschen vergleicht Dōgen mit dem für uns vielleicht etwas
eigenartig wirkenden Bild, dass sie wie Kletterpflanzen seien, zum Beispiel Glyzinien, die an einem Baum hochranken. Ich interpretiere das
so, dass der Buddha-Dharma einem festen Baum gleicht, der uns Halt gibt, sodass
wir zum Licht wachsen und wie die Glyzinie Blütentrauben bilden können.
Dann stellt Dōgen eine Verbindung zum handelnden Bodhisattva
und zu berühmten Passagen des Lotos-Sūtra her:
„Manchmal manifestieren (Menschen wie
Hyakujo) einen (bestimmten) Körper, um andere zu retten und sie den Dharma zu
lehren, und manchmal manifestieren sie (gerade) einen anderen Körper, um (diese
Menschen) zu retten und den Dharma zu lehren.“
Er spricht damit das
Bodhisattva-Ideal an, das beinhaltet, dass man sich jeweils in der Form oder
wie es im Lotos-Sūtra heißt mit dem
Körper manifestiert, der für die anderen Menschen jeweils der beste und
geeignete ist, um helfen zu können. So hat es zum Beispiel wenig Sinn, einem
armen Menschen Lebensmut geben zu wollen, damit er mit seiner Armut fertig
wird, wenn man selbst erkennbar reich ist, teure Kleidung trägt oder mit einem
Luxusauto vorfährt. Wer anderen Wasser
predigt und selbst teuren Wein trinkt, besitzt nur eine geringe
Überzeugungskraft, wenn er direkt mit den anderen Menschen zusammenkommt. Daran
sollten sich auch unsere christlichen Kirchen halten, deren
"Oberschicht" nicht selten dem Luxus frönten. Daher sei es auch
sinnvoll, eine bestimmte Form, die dem anderen nicht helfen könnte, gerade nicht zu offenbaren.
Dōgen vertieft dann die körperlich-konkrete Seite des wahren
Lernens, das nicht abgehoben in der Studierstube oder in esoterischen
Sondersituationen erfolgen kann. Es geht in den konkreten zehn
Himmelsrichtungen vor sich, also in den geografischen
Dimensionen dieser Welt. Sie bezeichnen die gesamte umfassende Welt und das
ganze Universum. Mit diesen konkreten Angaben soll verhindert werden, dass wir
in abstrakte, nebulöse Vorstellungen zum Geist abgleiten. In Bezug auf die Sein-Zeit sagt Dōgen zu den
Himmelsrichtungen:
„Wir sollten den Augenblick (so)
denken, dass seine Vorderseite und Rückseite sowie Länge und Breite vollkommen
das Ganze sind.“
Das heißt, dass auch die
Lebensphilosophie des Augenblicks ganz konkret und direkt in den zehn
Himmelsrichtungen verwirklicht werden muss; theoretische, modellartige
Annahmen, zum Beispiel dass die Augenblicke wie Perlen auf einer Kette zu
verstehen seien, sollte man vermeiden.