Donnerstag, 16. Oktober 2014

Sind wir von Natur aus Buddha, auch ohne Praxis ?



Dōgen kritisiert in aller Klarheit die Ideologie, dass wir uns nicht anstrengen müssten, da wir ja schon von Natur aus Buddha, also erwacht und erleuchtet seien. Er zitiert dazu den großen Meister Hyakujo, der das Anhaften an dieser oberflächlichen und falschen Lehre als besonders verhängnisvoll bezeichnet. Er selbst hat, wie die Überlieferung berichtet, intensiv und ausdauernd praktiziert und sich auf diese Weise von seinen eigenen Fesseln und seinem eigenen Käfig befreit.

Er bezeichnet die Naturalisten, die aus einer Sicht nicht dem Buddhismus angehörten, schlicht als Müßiggänger. Im Gegensatz dazu habe Hyakujo durch seine intensive Praxis große Verdienste und Tugenden beim Lernen der Wahrheit zum Beispiel für seine Nachfolger erworben. Er sei dadurch in „die Freiheit gesprungen“, wie sich Dōgen ausdrückt. Er bewundert die große Anstrengung und den hohen körperlichen Einsatz von Meister Hyakujo auf dem Weg, die Bodhi-Wahrheit zu erlernen. Seinen Aussagen könne man unbedingt vertrauen.

Solche zielstrebigen und ausdauernden Menschen vergleicht Dōgen mit dem für uns vielleicht etwas eigenartig wirkenden Bild, dass sie wie Kletterpflanzen seien, zum Beispiel Glyzinien, die an einem Baum hochranken. Ich interpretiere das so, dass der Buddha-Dharma einem festen Baum gleicht, der uns Halt gibt, sodass wir zum Licht wachsen und wie die Glyzinie Blütentrauben bilden können.

Dann stellt Dōgen eine Verbindung zum handelnden Bodhisattva und zu berühmten Passagen des Lotos-Sūtra her:
„Manchmal manifestieren (Menschen wie Hyakujo) einen (bestimmten) Körper, um andere zu retten und sie den Dharma zu lehren, und manchmal manifestieren sie (gerade) einen anderen Körper, um (diese Menschen) zu retten und den Dharma zu lehren.“

Er spricht damit das Bodhisattva-Ideal an, das beinhaltet, dass man sich jeweils in der Form oder wie es im Lotos-Sūtra heißt mit dem Körper manifestiert, der für die anderen Menschen jeweils der beste und geeignete ist, um helfen zu können. So hat es zum Beispiel wenig Sinn, einem armen Menschen Lebensmut geben zu wollen, damit er mit seiner Armut fertig wird, wenn man selbst erkennbar reich ist, teure Kleidung trägt oder mit einem Luxusauto vorfährt. Wer anderen Wasser predigt und selbst teuren Wein trinkt, besitzt nur eine geringe Überzeugungskraft, wenn er direkt mit den anderen Menschen zusammenkommt. Daran sollten sich auch unsere christlichen Kirchen halten, deren "Oberschicht" nicht selten dem Luxus frönten. Daher sei es auch sinnvoll, eine bestimmte Form, die dem anderen nicht helfen könnte, gerade nicht zu offenbaren.

Dōgen vertieft dann die körperlich-konkrete Seite des wahren Lernens, das nicht abgehoben in der Studierstube oder in esoterischen Sondersituationen erfolgen kann. Es geht in den konkreten zehn Himmelsrichtungen vor sich, also in den geografischen Dimensionen dieser Welt. Sie bezeichnen die gesamte umfassende Welt und das ganze Universum. Mit diesen konkreten Angaben soll verhindert werden, dass wir in abstrakte, nebulöse Vorstellungen zum Geist abgleiten. In Bezug auf die Sein-Zeit sagt Dōgen zu den Himmelsrichtungen:

„Wir sollten den Augenblick (so) denken, dass seine Vorderseite und Rückseite sowie Länge und Breite vollkommen das Ganze sind.“

Das heißt, dass auch die Lebensphilosophie des Augenblicks ganz konkret und direkt in den zehn Himmelsrichtungen verwirklicht werden muss; theoretische, modellartige Annahmen, zum Beispiel dass die Augenblicke wie Perlen auf einer Kette zu verstehen seien, sollte man vermeiden.