Dōgen unterstreicht seine
zentralen Aussagen, dass wir die Wahrheit erlernen, indem wir das bisher Gewohnte und sogar die lieb
gewonnene Umgebung verlassen und uns
radikal auf Neuland begeben: Wir müssen „den eigenen Käfig verschrotten“.
Dieses eigene Erfahren und
Lernen geht über das Nachahmen der großen buddhistischen Meister hinaus und
kann keine Kopie des Lebens anderer Menschen sein. Wirkliche Lernprozesse sind
je eigenständig und verlaufen nach den eigenen karmischen Bedingungen. Aber
dabei gibt es den einen Wahrheitsgeist.
Ein solches Lernen kann auch
nicht mit den Worten beschrieben werden, dass der Mensch zur Erleuchtung
aufsteigt und sich dann als erleuchteter Meister wieder auf die Schüler hinab
bewegt, um sie zu lehren. Dōgen beschreibt das Erlernen der Wahrheit als „Entwicklung der Dinge“ und „Hingabe an den Augenblick“.
Er sagt also ganz konkret,
wie der Lernprozess beschaffen ist, und zwar für uns selbst und für andere. Für
die Hingabe an den Augenblick verwendet er auch die Formulierung „sich in den Augenblick werfen“ und
kennzeichnet damit nicht zuletzt die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit aller
täglichen Handlungen und Verpflichtungen.
Die Wahrheit im Alltag erlernen
Nachdem Dōgen mit seinen
Ausführungen ein umfassendes und gleichzeitig differenziertes Spektrum
aufgezeigt hat, wie wir die Wahrheit mit dem Geist erlernen, kommt er auf
unsere ganz konkrete Welt zu sprechen:
„Weil das Erlernen der Wahrheit so wie
das (oben Dargestellte) ist, sind die Hecken, die Wände, die Ziegel und die
Kiesel Geist.“
Was will er damit sagen? Das
ist kein abgehobenes, esoterisches Verständnis des Geistes, und der Geist wird
auch nicht isoliert vom Körper und der Welt betrachtet, etwa im Sinne der Ur-Ideen
Platons, denn diese bestehen ewig ganz für sich selbst und besitzen keine
materielle Form. Nach Platon ist es für die Menschen das Höchste, an diesen
Ur-Ideen durch rein
geistig-philosophische Übungen so viel wie möglich teilzuhaben. Er
behauptet sogar, dass allein dadurch eine Befreiung des Menschen erreicht würde
– aus meiner Sicht ein schwerwiegender
Irrtum.
Dōgen erinnert in diesem
Sinne an den großen chinesischen Meister Sozan,
der von seinem eigenen Erlernen der Wahrheit sagt, dass es sich zunächst nur an
der Peripherie der buddhistischen
Wahrheit bewegt habe und erst später über alle Vorstellungen der buddhistischen Lehre und Begriffe vom Geist hinausgegangen sei.
Damit seien die vorherigen
Erwartungen über die große buddhistische Wahrheit gegenstandslos geworden und „zerbrochen“:
Das ist der Durchbruch zur erlebten
Wirklichkeit und Wahrheit.