Samstag, 13. September 2014

Hingabe an den Augenblick


Dōgen unterstreicht seine zentralen Aussagen, dass wir die Wahrheit erlernen, indem wir das bisher Gewohnte und sogar die lieb gewonnene Umgebung verlassen und uns radikal auf Neuland begeben: Wir müssen „den eigenen Käfig verschrotten“.

Dieses eigene Erfahren und Lernen geht über das Nachahmen der großen buddhistischen Meister hinaus und kann keine Kopie des Lebens anderer Menschen sein. Wirkliche Lernprozesse sind je eigenständig und verlaufen nach den eigenen karmischen Bedingungen. Aber dabei gibt es den einen Wahrheitsgeist.

Ein solches Lernen kann auch nicht mit den Worten beschrieben werden, dass der Mensch zur Erleuchtung aufsteigt und sich dann als erleuchteter Meister wieder auf die Schüler hinab bewegt, um sie zu lehren. Dōgen beschreibt das Erlernen der Wahrheit als „Entwicklung der Dinge“ und „Hingabe an den Augenblick“.

Er sagt also ganz konkret, wie der Lernprozess beschaffen ist, und zwar für uns selbst und für andere. Für die Hingabe an den Augenblick verwendet er auch die Formulierung „sich in den Augenblick werfen“ und kennzeichnet damit nicht zuletzt die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit aller täglichen Handlungen und Verpflichtungen.

Die Wahrheit im Alltag erlernen

Nachdem Dōgen mit seinen Ausführungen ein umfassendes und gleichzeitig differenziertes Spektrum aufgezeigt hat, wie wir die Wahrheit mit dem Geist erlernen, kommt er auf unsere ganz konkrete Welt zu sprechen:

„Weil das Erlernen der Wahrheit so wie das (oben Dargestellte) ist, sind die Hecken, die Wände, die Ziegel und die Kiesel Geist.“

Was will er damit sagen? Das ist kein abgehobenes, esoterisches Verständnis des Geistes, und der Geist wird auch nicht isoliert vom Körper und der Welt betrachtet, etwa im Sinne der Ur-Ideen Platons, denn diese bestehen ewig ganz für sich selbst und besitzen keine materielle Form. Nach Platon ist es für die Menschen das Höchste, an diesen Ur-Ideen durch rein geistig-philosophische Übungen so viel wie möglich teilzuhaben. Er behauptet sogar, dass allein dadurch eine Befreiung des Menschen erreicht würde – aus meiner Sicht ein schwerwiegender Irrtum.

Dōgen erinnert in diesem Sinne an den großen chinesischen Meister Sozan, der von seinem eigenen Erlernen der Wahrheit sagt, dass es sich zunächst nur an der Peripherie der buddhistischen Wahrheit bewegt habe und erst später über alle Vorstellungen der buddhistischen Lehre und Begriffe vom Geist hinausgegangen sei.

Damit seien die vorherigen Erwartungen über die große buddhistische Wahrheit gegenstandslos geworden und „zerbrochen“:

Das ist der Durchbruch zur erlebten Wirklichkeit und Wahrheit.