In diesem komplexen Kapitel des Shōbōgenzō,
Shinjin gakudō, sagt Dōgen in aller Klarheit, dass wir nach der
buddhistischen Lehre die Wahrheit und Befreiung nur dadurch erlernen können,
wenn wir sowohl den Geist als auch den Körper schulen. Das japanische Wort shinjin heißt „Körper und Geist“, und gakudō
bedeutet „die Wahrheit zu erlernen“.
Daher lautet die wörtliche Übersetzung von shinjin
gakudō: „Die Wahrheit mit Körper und
Geist zu erlernen“.
Wir müssen uns immer im Klaren darüber sein, dass beide in der
Wirklichkeit unauflösbar zusammengehören und eine Einheit bilden. Während in
der westlichen Philosophie der Intellekt und Geist meist völlig losgelöst vom
Körper des Menschen behandelt werden und im Idealismus, zum Beispiel bei Platon
und Hegel, als überlegen gelten, wird eine solche Trennung im Buddhismus als
sinnlos und realitätsfremd abgelehnt.
Nishijima und Cross
betonen in ihrer Einleitung zu diesem Kapitel, dass viele Menschen glauben, man
könne die große Wahrheit erlernen, indem man tiefgründig darüber nachdenkt und reflektiert. Der
Buddhismus lehrt aber ganz klar, dass intellektuelles Denken allein unzureichend ist und konkretes Handeln im Hier und Jetzt des
Augenblicks hinzukommen muss. Die Wahrheit ist also sowohl durch physisches
als auch durch mentales Streben gekennzeichnet, außerdem kann sie nicht von der
Ethik getrennt werden.
Wenn Dōgen in diesem Kapitel zunächst den Lernvorgang des Geistes und
dann den des Körpers behandelt, geschieht dies lediglich aus didaktischen
Gründen, um die jeweiligen Bereiche möglichst klar herausarbeiten zu können.
Zu Beginn seiner Ausführungen geht er darauf ein, wie wichtig es ist, den
klaren Entschluss zu fassen, den Buddha-Weg gehen zu wollen. Auch bei den Vier
Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad Gautama
Buddhas steht am Anfang die eindeutige Entscheidung, diesen Weg zu gehen,
um das Leiden zu überwinden. Dōgen bemerkt hierzu:
„Wenn wir
nicht beabsichtigen, (die Wahrheit) zu erlernen, entfernt sie sich immer mehr.“
Wir benötigen also den festen Willen und die Absicht, die Wahrheit
anzustreben und zu erlernen, weil wir uns sonst im Laufe unseres Lebens immer
weiter von ihr entfernen und gewissermaßen ohne Kompass abirren und uns zum
Beispiel im Materialismus, Idealismus oder Aktionismus verlieren.
Die Wahrheit anzustreben bedeutet natürlich nicht, dass wir sie allein
durch den mentalen Willen erreichen können, sondern dass es ebenso der
physischen und geistigen Praxis bedarf, um auf diesem Wege voranzukommen. Ein
wesentlicher Teil dieses Wahrheitsweges ist ethisches Denken und Handeln.
Hierzu zitiert Dōgen den Zen-Meister Nangaku,
einen Dharma-Nachfolger von Meister Daikan Enō:
„Praxis-und-Erfahrung sind nicht
nicht-existent (es gibt sie also wirklich), aber sie müssen nicht beschmutzt
werden.“
Was will er damit sagen?
Dieses Zitat wird auch im
Kapitel „Sich waschen und den
Körper-Geist reinigen“ erörtert. Es ist im Zen-Buddhismus ganz berühmt,
wird aber nicht immer richtig
verstanden. Es bedeutet, dass die Praxis und die Erfahrung der Wahrheit, also
die Erleuchtung, immer im selben
Augenblick verwirklicht werden, und genau dann sind sie rein und
unverschmutzt. Werden sie getrennt, entsteht eine Diskrepanz zwischen der
Wahrheit und dem praktischen Handeln, das heißt, das Handeln entfernt sich von
der buddhistischen Wahrheit, die immer auch ethisch bestimmt ist.
In der richtigen Zazen-Praxis gibt es diese Einheit, die
Nishijima Roshi die erste Erleuchtung
nennt. Darin liegt gerade die einzigartige unmittelbare Wirkung dieser
Übungspraxis. Nangaku sagt damit, dass es keine reine Praxis und keine reine Erfahrung
geben kann, die zeitlich
auseinanderfallen.