Donnerstag, 19. Juni 2008

Die wirkliche Form aller Dharmas (Teil 2)

Im Fortgang dieses Kapitels wiederholt Dôgen mit Nachdruck noch einmal, dass alle Dharmas von den Buddhas allein und zusammen mit den Buddhas vollständig verwirklichen können, dass die Natur, der Körper, die Energie, das wirkliche Handeln, die wirklichen Ursachen, die wirklichen Bedingungen, die wirklichen Wirkungen und die wirklichen Ergebnisse sind.

Großer Buddha in Leshan, China


Er sagt weiter:

„Weil die Existenz der Wahrheit so wie diese ist, sind die Buddha-Länder der zehn Richtungen nur allein die Buddhas zusammen mit den Buddhas.“

Und dies gelte für alle und sogar für deren Hälfte also immer und auf jeden Fall.
Dôgen zitiert Gautama Buddha auf der Grundlage des Lotos-Sûtras wie folgt:
„Ich und die Buddhas der zehn Richtungen sind direkt in der Lage diese Dinge zu wissen.“

Danach bezieht er alles Gesagte auf den Augenblick der Gegenwart, sagt dass alles je im Hier und Jetzt vollständig erkannt und verwirklicht wird. Es geht ihm in diesem Kapitel in ganz besonderer Weise darum, die Wirklichkeit selbst anzusprechen und nicht in allgemeinen Überlegungen, Theorien und schönen Worten hängen zu bleiben. Dabei wird die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben, so als ob ein „Mensch sich selbst im Wasser gespiegelt sieht und das Spiegelbild den Menschen sieht“. Er bezieht die Dharma-Übertragung und Bestätigung mit ein und sagt:

„Die Buddhas empfangen zusammen den Dharma zum Guten für die Buddhas, die zusammen sind.“

Dies gilt für Leben-und-Sterben und Kommen-und-Gehen, die damit wirklich existieren. Er sagt weiter:

„Auf dieser Basis existiert das Streben des Geistes, der Übung und von Leben und Nirwana.“
Dabei erfassen wir diese Wirklichkeit und halten sie fest und lassen sie ein andermal wieder los:
Mit diesem Lebensblut öffnen die Blumen und werden die Früchte entwickelt. Mit diesen Knochen und diesem Mark existieren Mahâkâshyapa und Ânanda. Die Formeln des Windes und des Regens, des Wassers und des Feuers wie sie sind, sind die vollkommene Verwirklichung von sich selbst.“


Er sagt, dass wir das Gewöhnliche und das Heilige auf der Grundlage dieser konkreten Körper-Energie umwandeln. Dies gilt auch für die ganz konkreten Wirkungen-und-Ursachen, die nicht voneinander getrennt werden können. Wir überschreiten dann nach Dôgen sogar die Buddhas und Vorfahren im Dharma. Auf der Grundlage dieser unmittelbaren Ursachen-und-Wirkungen wird der Erdboden in Gold umgewandelt. In gleicher Weise wird der Dharma übermittelt und die Robe weitergegeben.

Dôgen zitiert dann Gautama Buddha aus dem Lotos-Sûtra und dieser spricht davon, dass wir „das Siegel der wirklichen Form für die anderen Menschen lehren“. Dabei ist das umfassende und intuitive Lehren, Zuhören und Verstehen gemeint, indem wir „mit den Augen hören“ und mit den „Ohren sehen“. Damit wird auch unterstrichen, dass es nicht um das angehäufte Wissen für sich selbst geht, sondern dass die Lehre für die anderen maßgeblich ist, um sie auf den Buddha-Weg zu führen.

Der höchste Zustand und die Verwirklichung selbst werden mit dem Lotos-Sûtra gleichgesetzt, denn in diesem Sûtra geht es nicht um erbauliche Geschichten und märchenhafte idealisierte Welten. Das Sûtra ermöglicht den Handelnden, dass sie die „geschickten Mittel“ eines Bodhisattva zur Verfügung haben und anderen damit helfen.
Er zitiert Shâkyamuni Buddha:

Das höchste und vollkommene Erwachen (Anuttara samyak-sambodhi) aller Bodhisattvas ist ganz mit diesem Sûtra verbunden. Dieses Sûtra öffnet das Tor der geschickten Mittel“.

Bodhisattvas sind nach Dôgen

„nicht zwei Menschen, sie sind jenseits vom Selbst und von anderen. Sie sind auch keine Persönlichkeiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern Buddha zu werden ist ihr Dharma-Verhalten, indem sie den Bodhisattva-Weg praktizieren.“

Dôgen betont, dass die Buddhas und Bodhisattvas immer weiter praktizieren und sich damit von den gewöhnlichen Menschen unterscheiden. Er bezeichnet die geschickten Mittel als Tor des Lernens und der Praxis des ganzen Universums und nicht als etwas Vorübergehendes und Ausgedachtes. Am Ende dieses theoretischen und grundsätzlichen Abschnitts dieses Kapitels sagt Dôgen:

„Obgleich dieses Tor der geschickten Mittel sich so offenbart, dass es das ganze Universum der zehn Richtungen mit dem (wirklichen) Universum der zehn Richtungen abdeckt, sind jene, die sich von allen Bodhisattvas unterscheiden, nicht in ihrem Weltraum.“

Er zitiert dann den großen Meister Seppo, den er sehr schätzte:

„Die ganze Erde ist das Tor der Befreiung, aber die Menschen wollen nicht hineingehen, selbst wenn man sie drängt und zieht.“

Damit wird die Schwierigkeit angesprochen den gewöhnlichen Menschen das Glück und die Befreiung der buddhistischen Lehre nahe zu bringen und sie zu motivieren, selbst zu praktizieren und sich in die Lehre immer tiefer einzuarbeiten. Es hat wenig Sinn, dass ein Lehrer versucht, einen Schüler mit Gewalt zu bedrängen, denn das Streben nach der Wahrheit und Befreiung muss wesentlich in dem Menschen selbst angelegt sein. Der Lehrer kann zwar dabei helfen und die guten und richtigen Impulse aufgreifen und fördern, aber ohne die eigene Kraft und Initiative kann man in „das Tor der Befreiung“ nicht eintreten. Dieses ist gleichzeitig das Tor der geschickten Mittel, die im Lotos-Sûtra eingehend beschrieben werden.

Dôgen bedauert, dass in den letzten 200 bis 300 Jahren viele falsche Lehrer den wahren Kern des Lotos-Sûtra weder erfasst haben noch richtig lehren konnten. Oft hätten sie die Form von dem Inhalt und Sinn abgetrennt und damit die in diesem Kapitel behandelte wirkliche Form vollständig missverstanden. Auch Meister Nagarjuna betont gleichlautend in einem besonderen Kapitel des MMK die Einheit von Inhalt und Form und verwirft eine Unterscheidung, die weder dem Inhalt noch der Form gerecht werde.

Dann zitiert er den Zen Meister O-an Donge, der 1163 starb, also einer späten Phase des chinesischen Buddhismus angehört. Dieser lehrte nach der Überlieferung einen Mönch mit dem Namen Tokki:

Wenn du auf einfache Weise (den Buddha Dharma) verstehen willst, beobachte 24 Stunden (des Tages) lang nur den Zustand, wenn der Geist erscheint und sich die Bilder bewegen.“ Weiter sagte er: „Außerdem ist dies ohne räumliche Form und Abgrenzung. Außen und Innen sind eine Einheit.“ …“Diejenigen, die diesen Zustand erreicht haben, heißen Menschen, die in der Wahrheit leicht und unbeschwert sind, die aufgehört haben zu studieren und frei in ihrem Tun sind.“

Dôgen kritisiert diesen Meister O-an, weil er sich zwar bemüht habe, das Wesentliche der wirklichen Form und des Buddha Dharma auszudrücken, aber dabei nicht zum Kern vorgestoßen sei. Das Beobachten der kommenden und gehenden Gedanken und der aufsteigenden und vergehenden Bilder im Geist sei nicht die volle Wirklichkeit. Genauso sei die Formulierung „innen und außen“ missverständlich, da sie die umfassende Wirklichkeit nicht beschreibt. Auch die Zeitstrecke von 24 Stunden eines Tages entspräche nicht der Wirklichkeit des Augenblicks im Hier und Jetzt, sondern sei an Vorstellungen und gelernten Denkgewohnheiten der linearen Zeit gebunden. Trotzdem lobt er schließlich den Meister O-an im Verhältnis zu vielen anderen Lehrern dieses Zeitalters, da er wenigstens einen Teil der Wirklichkeit von der wahren Form gelehrt habe.

Am Ende des Kapitels zitiert Dôgen seinen eigenen Meister Tendo Nyojo, den ewigen Buddha, der anders als die Meister im damaligen China des Nachts informelle Lehrreden und Lehrgespräche mit seinen Mönchen abhielt. Dôgen schildert dabei seine eigene tiefe Bewegung und beschreibt recht genau, wie er nachts in den Raum des Meisters ging und vorher ein Räucherstäbchen anzündete. Er erwähnt, dass die Mönche möglichst frühzeitig zu diesem Treffen mit dem Meister kamen, um auch die Fragen der anderen Mönche und die Antworten des Meisters hören zu können. Er zitiert dessen Gedicht:

„Es gibt (sanfte) Kälber heute Nacht auf dem Berg Tendo.
Gautamas goldenes Antlitz offenbart wirkliche Form.
Wie könnten wir dessen unermesslichen Wert begleichen, wenn wir es erwerben wollten?
Der Ruf des Kuckucks, darüber eine einzelne Wolke.“


Der Begriff „sanfte Kälber“ wurde für die friedlichen Mönche verwendet, die sich in dem Kloster von Tendo Nyojo in der Sommernacht versammelt hatten. Der Kuckuck rief unmittelbar und wurde von allen direkt als Wirklichkeit wahrgenommen. Er ist Teil der wirklichen Form, die beim Hören nicht auf die sinnliche Wahrnehmung der Ohren beschränkt ist.

Es folgt eine Koan-Geschichte des großen Meisters Gensa, der Nachfolger von Meister Seppo war und häufig in ganz besonderer Weise die reale Wirklichkeit betonte und herausarbeitete. Dôgen schätzte diesen Meister sehr, und es gibt viele berühmte Koan-Geschichten von ihm. Als er die jungen Schwalben des Klosters zwitschern hörte, sagte er:

„(Dies ist) die tiefgründige Lehre und Sprache der wirklichen Form und sie lehrt hervorragend den wahren Kern des Dharma.“

Danach stieg er von seinem Meistersitz herab. Aber ein Mönch erwartete noch weitere Erklärungen von ihm und sagte: „Ich verstehe nicht.“ Der Meister sagte:
Geh fort! Niemand glaubt dir.“

Was soll damit gesagt werden? Dôgen erklärt im folgenden Text, dass man das Wesentliche und die Natur des Buddha Dharma nicht mit dem Verstand erfassen und mit Worten erschöpfend erklären kann. Die Aussage des Mönchs, dass er nicht versteht, was der Meister gesagt hat, kann bedeuten, dass er im Buddha Dharma noch nicht kundig ist. Es könnte aber auch bedeuten, dass er die Grenzen des Verstehens und unterscheidenden Denkens bereits erkannt und erfahren hat und damit einen wesentlichen Bereich des Buddha Dharma bereits erfasst hat.

Die Aussage: „ Geh fort“ erscheint zunächst etwas barsch, soll aber sicher heißen, dass es keinen Sinn macht, lange darüber zu sprechen, wie die Schwalben zwitschern, sondern dass man dies am besten direkt erlebt und erfährt. Es habe keinen Sinn, sich vielschichtige Gedanken zu machen und sich feinsinnig und vielleicht sogar spitzfindig darüber zu unterhalten, wenn die Wirklichkeit der zwitschernden Schwalben unmittelbar erfahren wird. Man sollte also den Schwalben genau zuhören, sich öffnen und mit ihrer Wirklichkeit verschmelzen und keine ablenkenden und störenden Unterhaltungen pflegen.

Die Aussage: „Geh fort!“ kann also auch bedeuten: „Komme zur Wirklichkeit im Hier und Jetzt der jungen zwitschernden Schwalben und dieses wunderbaren Sommertages!“.
Am Ende des Kapitels sagt Dôgen.

„Denkt daran, die wirkliche Form ist das wahre Lebensblut, das vom rechtmäßigen Nachfolger empfangen und an den authentischen Nachfolger weitergegeben wurde. Alle Dharmas sind der vollständig verwirklichte Zustand der Buddhas allein, zusammen mit den Buddhas. Und der Zustand der Buddhas allein zusammen mit den Buddhas ist die Schönheit der Form, wie sie ist.“