Dienstag, 4. November 2008

Die große buddhistische Praxis und das Gesetz von Ursache und Wirkung (Teil 1)

Dieses äußerst wichtige Kapitel fasst die buddhistische Lehre eindrucksvoll zusammen und ist ohne die von Nishijima Roshi herausgearbeitete Lehre der vier Lebensphilosophien schwer verständlich.
Kloster Tokei-in, während der Sesshin 2008

Das Gesetz von Ursache und Wirkung gehört der zweiten Sichtweise oder Lebensphilosophie an, da es als Grundlage die lineare Zeit verwendet. Es kann damit als naturwissenschaftlich beziehungsweise pragmatisch-materialistisch bezeichnet werden. In allen Kapiteln des Shôbôgenzô gibt es wichtige Aussagen zu den vier verschiedenen Sichtweisen oder Lebensphilosophien. Dabei integriert der vierte höchste Zustand der umfassenden Praxis und intuitiven Klarheit auch die drei anderen Sichtweisen. Dieser wird im Allgemeinen als Erwachen oder Erleuchtung bezeichnet.

In der Einleitung (Kap. 76, Dai-shugyo) erwähnt Nishijima Roshi die beiden im Zen-Buddhismus häufig diskutierten Aussagen, ob das Gesetz von Ursache und Wirkung auch für die große Praxis des Augenblicks und der Erleuchtung gilt oder nicht. Die klare Gegenaussage lautet, dass dieses Gesetz immer und überall und daher auch für die große Praxis gilt. Er sagt zu diesem Kapitel:

"Aber Meister Dôgen dachte, dass der Unterschied zwischen diesen beiden Erklärungen nur dem Bereich des intellektuellen Denkens angehört und dass die Situation in der Wirklichkeit eine solche Unterscheidung nicht aufweist. Er erklärte, dass ein Mensch der großen Praxis sowohl die Ablehnung als auch Bestätigung des Gesetzes von Ursache und Wirkung überschreitet, indem er hier und jetzt in der wirklichen Welt handelt. Die höchste Wirklichkeit gibt es nur im jetzigen Augenblick, direkt unmittelbar und in ganzer Realität. Dies ist die große Praxis, um die es in diesem Kapitel geht.“

Es ist eine alte, immer neu diskutierte große Frage in der Menschheit, ob unser Leben vorherbestimmt, also determiniert ist oder ob wir die Freiheit besitzen, so zu handeln, wie wir es wollen. Eine solche freie Entscheidung baut vor allem auf rationalen Überlegungen auf und ist von unserer Vernunft geprägt. Materialisten glauben meist an die Determination und fehlende Willensfreiheit im Leben, während Idealisten die Freiheit des Geistes und des Willens in den Vordergrund stellen.
Wenn das Gesetz von Ursache und Wirkung allgemein gilt, müsste man eigentlich annehmen, dass es keine Freiheit bei den einzelnen Entscheidungen geben kann. Dann wäre unser Leben nämlich vollständig vorausbestimmt und wir könnten nicht wählen, nicht entscheiden und hätten keinen freien Willen. Trifft dies in unserer Wirklichkeit zu?

Nach Dôgen sind wir in der Übungspraxis des Zazen und des Handelns ganz im Augenblick, sodass eine gedankliche Beziehung zur Vergangenheit und Zukunft nach der Vorstellung der linearen Zeit keine Bedeutung hat. Wenn dies so ist, können wir aber genau im Augenblick frei entscheiden und sind nicht vollständig durch die Entwicklungen und Prozesse aus der Vergangenheit gebunden und festgelegt.
Nach Dôgen handelt es sich jedoch nicht um eine übernatürliche, mystische Situation, wenn wir uns von der Vorstellung der Vergangenheit lösen, sondern es ist der natürliche Zustand, der gerade diese Freiheit des Augenblicks ermöglicht. Die Festlegungen durch Gier, Hass und andere zementierte alte Vorstellungen werden nach der buddhistischen Lehre durch die Übungspraxis des Zazen überwunden, und damit ist man im Augenblick frei. Dies ist aber keine theoretische Überlegung wie im Idealismus, die nur als Glaube oder Ideologie im Geist der Menschen besteht. Es ist vielmehr die Wirklichkeit des Handelns im Augenblick selbst und damit das große Erwachen und die große Praxis, die Dôgen in diesem Kapitel tiefgründig und anhand mehrerer Koan-Geschichten für uns ausbreitet.
Er betont, dass ein solcher Zustand der Freiheit genau im Zazen des Hier und Jetzt besteht und dass dies genau der Zustand des Buddhas ist. Wichtig dabei ist, dass "Körper und Geist", also die üblichen Vorstellungen des Ich, „fallen gelassen werden“ und dass man beim Zazen "aus dem Grund des Nichtdenkens denkt." Indem wir also das gewöhnliche unterscheidende Denken verlassen, können wir auch die Festlegungen und Determinationen der Vorstellungen aus der Vergangenheit auflösen, die sich bei uns im Geist verfestigt und fixiert haben.
Im Zazen ist man im Augenblick frei von fixierenden Gedanken und Gefühlen, denn es gibt sie gar nicht. Diese haben uns gewöhnlich im Griff und programmieren uns in einer bestimmten oft recht starren Struktur. Derartige festgelegte Vorstellungen sind meist mit starken Gefühlen und Affekten verbunden, die mit großer psychischer Energie an bestimmten Fixierungen festhalten und damit verhindern, dass wir uns frei von falschen Festlegungen der Vergangenheit in eine neue Richtung bewegen können. Dôgen sagt uns, dass wir dies "in der Praxis lernen" sollen und dadurch zur Freiheit gelangen.

Daraus wird deutlich, dass es sich bei der Frage von Determinierung und Freiheit um ein schwieriges und komplexes Problem handelt. Für Dôgen ist es klar, dass wir dies nur in der großen Praxis lösen können, die auf einer anderen Ebene der Wirklichkeit das Problem überflüssig macht und auflöst. Dann wird auch der Wiederholungszwang, der so häufig im menschlichen Leben wirksam und zu beobachten ist, nachhaltig überwunden. Dadurch können wir den Teufelskreis des Leidens, der sich selbstähnlich durch unser ganzes Leben zieht, durchbrechen und in der jeweiligen Situation offen für etwas Neues und Wichtigeres, und wie die Theravadins sagen würden, „Heilsames“, sein.

Zur Beleuchtung seiner eigenen tiefen Erfahrung der großen Praxis beginnt Dôgen dieses Kapitel mit der bekannten Koan-Geschichte eines früheren Meisters, der immer wieder als wilder Fuchs geboren wurde, weil er vor langer Zeit als Lehrer das Karma-Gesetz verneint hatte. Er bittet Meister Hyakujo darum, ihn von dem Körper des wilden Fuchses zu befreien. Er müsse solange wieder geboren werden, bis die negative Wirkung seines früheren Fehlers bei der Buddha-Lehre aufgelöst und beendet sei.
Dieses Koan wird auch im Shinji-Shôbôgenzô, Bd 2, Nr. 2 und im Kapitel 89 "Tiefer Glaube an das Gesetz von Ursache und Wirkung" eingehend behandelt.
Im Folgenden soll dieses Koan-Gespräch kurz erläutert werden: Als der große Zen-Meister Hyakujo seine informelle Lehrrede im Kloster hielt, war immer auch ein alter Mann anwesend, der zusammen mit den Mönchen zuhörte und danach fort ging, weil er nicht im Kloster lebte. Eines Tages blieb er jedoch nach dem Vortrag allein zurück, und auf die Frage des Meisters, wer er sei, sagte er:

"Ich bin kein Mensch. Vor sehr langer Zeit war ich Meister auf diesem Berg, und als mich ein Praktizierender fragte, ob die Menschen auch im Zustand der großen Praxis unter das Gesetz von Ursache und Wirkung fallen oder nicht, antwortete ich: „Sie fallen nicht unter das Gesetz von Ursache und Wirkung."
Seitdem bin ich fünfhundert Leben lang in den Körper eines wilden Fuchses gefallen. Ich bitte Sie, Meister, ein Wort zur spontanen Umwandlung für mich zu sagen. Ich möchte unbedingt den Körper des wilden Fuchses verlassen“.

Der alte Mann fragte dann selbst den großen Meister:

"Fallen auch die Menschen im Zustand der großen Praxis unter das Gesetz von Ursache und Wirkung oder nicht?"
Der Meister sagte: "Täusche Dich nicht selbst über Ursache und Wirkung."

Bei diesen Worten erlangte der alte Mann sofort die große Verwirklichung. Er machte Niederwerfungen und sagte:

"Ich bin den Körper eines wilden Fuchses bereits losgeworden und möchte gern auf dem Berg hinter dem Tempel bleiben. Darf ich es wagen, den Meister zu bitten, für mich die Begräbniszeremonie eines Mönchs durchzuführen?"

Später wurde tatsächlich der tote Körper eines Fuchses hinter dem Tempel gefunden. Der Meister leitete die Begräbniszeremonie im Kloster so wie von dem alten Mann erbeten. Am Abend hielt er die formale Dharma-Rede und erläuterte das Geschehene. Unter den zuhörenden Mönchen war der junge Meister Obaku, den Dôgen außerordentlich schätzte. Er stellte folgende Frage:

"Der alte Mann gab in der Vergangenheit eine falsche Antwort als Wort der Transformation und fiel für fünfhundert Leben in den Körper eines wilden Fuchses. Was wäre aus ihm geworden, wenn er ohne irgendeinen Fehler zu irgendeinem Augenblick weiter gemacht hätte?"
Der Meister sagte zu ihm: "Steig herauf (zu mir), ich will (es) dir sagen."

Obaku stieg schließlich hinauf zum Meister und gab ihm erstaunlicher Weise einen Klaps. Der Meister klatschte jedoch in die Hände, lachte aus vollem Hals und sagte:
"Du hast gerade(die Wirklichkeit) ausgedrückt, dass der Bart eines Fremden rot ist. Aber es ist auch eine Tatsache, dass ein roter Bart ein Fremder ist." Dôgen sagt dazu: "Dieses genau jetzt verwirklichte Koan ist die große Praxis selbst."