Alle
Vorstellungen werden durch das Handeln weit überschritten, weil die
Wirklichkeit immer vitaler und strahlender ist als Vorstellungen und Denken. Dōgen
formuliert das mithilfe eines Kōans:
„Genau hier
und jetzt zerschlägt (das Handeln) (die Vorstellung) von Frieden, Glück und
Tushita-Himmel in Hunderte von Teilen und Stücken.“
In
diesem Satz klingt eine Warnung von Meister Gensa an, die Dōgen im Shōbōgenzō im Kapitel über die intuitive
Weisheit des ewigen Spiegels zitiert. Schöne Worte, Symbole und Gleichnisse
bergen immer die Gefahr, dass man sie als eigenständige Wirklichkeit versteht,
aber auf diese Weise entfernt man sich gerade von der Realität! Meister Gensa
war besonders begabt darin, romantische Vorstellungen und falsche heilige
Lehren als solche zu erkennen und zu entlarven, um zur Wirklichkeit selbst zu
gelangen. Die obige Formulierung „in Hunderte von Teilen und Stücken
zerschlagen“ stammt aus einem berühmten Kōan-Gespräch zwischen den Meistern
Seppō und Gensa über den ewigen Spiegel des intuitiven Wissens.
Dōgen
erläutert im Folgenden noch tiefgehender den grundsätzlichen Unterschied
zwischen Begriffen und Vorstellungen einerseits und der Wirklichkeit des Handelns
andererseits:
„Genau hier und
jetzt ist (das wahre Handeln) fest und klar, es lässt
(die Vorstellungen) von Frieden, Glück und Tushita-Himmel verschwinden. Es
verschlingt
sie in einem einzigen Schluck.“
Diese
etwas seltsam klingenden Sätze bedeuten, dass die Wirklichkeit der handelnden
Buddhas in ihrem Zustand der ungehinderten Freiheit alle Begriffe und
Vorstellungen beiseite schiebt und – wie es hier heißt – mit einem einzigen
Schluck verschlingt. Dōgen macht mit diesen kraftvollen Worten den Unterschied
zwischen Begriffsebene und Wirklichkeit unmissverständlich deutlich. Und er
verstärkt seine Aussage sogar noch: „(Das wahre Handeln) verschlingt (die
Begriffe und Vorstellungen) als Ganzes in einem einzigen Schluck.“ Mit dem
Begriff „verschlingen“
charakterisiert er zudem die Augenblicklichkeit und Plötzlichkeit sehr
treffend. Die Ebenen der Vorstellungen und Worte werden je im Augenblick
übersprungen, um in die Wirklichkeit des Handelns zu gelangen.
Die
buddhistischen Begriffe des Friedens und Glücks rückt Dōgen in die Nähe des
„Reinen Landes und Paradieses“, die den Samsara-Kreislauf der Welt beschreiben.
Alles dies verwirklicht sich erst durch Handeln, und
wenn das große Erwachen da ist, gehören dazu selbstverständlich und natürlich
Frieden, Glück, Tushita-Himmel, Reines Land und Paradies. Aber sie alle sind
keine gedachten oder nur verbal beschriebenen Zustände, sondern das
Handeln im Augenblick. Im Umkehrschluss gilt:
„Wenn
(Frieden und Glück) große Täuschung sind, sind auch (das Reine Land und
Paradies) ähnlich große Täuschung.“
Der
Buddhismus des Reinen Landes war zur Zeit Dōgens
in Japan schon sehr weit verbreitet und wurde insbesondere von den einfachen,
armen Japanern praktiziert, die täglich ums Überleben kämpften und es sich
nicht leisten konnten, sich ausschließlich dem Buddha-Dharma zu widmen. Nur
durch reines, wahres Handeln ist also auch im Buddhismus des Reinen Landes der
wahre Buddhismus zu verwirklichen; Vorstellungen und Glaubensinhalte allein
reichen nicht aus, sondern verdecken oft sogar die Wirklichkeit und verkehren
sich dadurch in ihr Gegenteil.
Das
heißt auch: Pragmatisch handelnde Menschen, die sich eventuell keiner Religion
wirklich zugehörig fühlen, gehen direkter, einfacher und auch ehrlicher mit
anderen Menschen und der Umwelt um als solche, die in religiösen Vorstellungen
verhaftet sind. Dies würde zudem erklären, warum im Namen der Religion oft
furchtbare Verbrechen gegen andere Menschen geschehen. Wie bei jeder Art von
Ideologie werden die Menschen von der Wirklichkeit häufig gänzlich abgezogen
und handeln in brutaler und unmenschlicher Weise, ohne dass ihnen dies zunächst
bewusst sein mag. Oft sind starke psychische Energien wie Gier nach Ruhm und
Profit, Hass, Eifersucht und Neid die wirklich
steuernden Faktoren, die sich unerkannt heiliger
Vorstellungen und Worte bedienen. Solchen psychologischen, soziologischen und
politologischen Fehlentwicklungen und Täuschungen
steht die nüchterne Klarheit des Zen-Buddhismus gegenüber, der wir mit größter
Hochachtung begegnen sollten.