Eine im Zen-Buddhismus bekannte Geschichte handelt von
dem späteren Meister Shikan, der die
Wahrheit des Buddhismus, also die Erleuchtung, unter dem Zen-Meister Dai-i in der goldenen Zeit des
Zen-Buddhismus erlernte. Dai-i sagte zu seinem Schüler:
„Du bist von
scharfem und brillantem (Verstand) und hast ein umfassendes Verständnis (der
buddhistischen Lehre). Sag mir einen Satz über den Zustand, den du hattest,
bevor deine Eltern geboren waren, ohne dass du aus irgendeinem Text oder
Kommentar zitierst.“
Diese berühmte Zen-Frage kommt in mehreren Kōan-Gesprächen
vor und wird auch noch heute einigen Schülern von ihren Meistern gestellt. Es
handelt sich dabei nicht um eine intellektuelle Frage nach der Vergangenheit,
Gegenwart oder Zukunft, sondern um die direkte Wirklichkeit im gegenwärtigen
Augenblick.
Insofern ist der Verweis auf die Eltern und besonders
auf die Zeit vor deren Geburt fast als Falle für den Verstand anzusehen. Wenn
man darauf eingeht, gerät man in intellektuell nicht aufzulösende Widersprüche
und Spekulationen, aus denen es kein Entkommen gibt. Bei der Wirklichkeit ist
es nämlich unwesentlich, ob es sich um die Vergangenheit oder irgendeinen
anderen Zeitabschnitt der linearen Zeit handelt, sondern es geht allein um die
unverstellte, direkte Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick.
Wie Dōgen im Grundlagen-Kapitel der buddhistischen
Lehre beschreibt, ereignet sich die Wirklichkeit von uns selbst, der Welt und
dem Universum nur im gegenwärtigen
Augenblick, wenn wir Gedanken und Emotionen überschreiten oder, wie Dōgen
es ausdrückt, „fallen lassen“. Ganz
falsch wäre es also bei obiger Frage zum Beispiel, sich bestimmte Gesichtszüge
der Eltern vorzustellen, Bilder etwa durch
archaisches, mythisches Versenken aus einer Art „Ursumpf“ hervorzuholen
und dies vielleicht mit der Lehre der Wiedergeburt zu verbinden.
Der Schüler Shikan suchte in mehreren Anläufen nach
einer passenden Antwort, die seinen Meister zufriedenstellen könnte, aber es
gelang ihm nicht. Er strengte seinen Körper und Geist an, so sehr es ihm
überhaupt möglich war, und er versuchte, sein umfangreiches Wissen aus den
Schriften und buddhistischen Sūtras auszublenden, aber ohne jeden Erfolg.
Schmerzhaft empfand er seine eigene Unfähigkeit und
litt unter seiner angeblichen Dummheit. Als Konsequenz verbrannte er alle seine
Bücher und Kommentare, da sie sich für
ihn als völlig nutzlos erwiesen hatten, und kam zu dem Schluss, dass „ein Reiskuchen, der in einem Bild gemalt
ist, den Hunger nicht stillen kann.“ Diese Worte sind später eine berühmte
Zen-Aussage geworden, die Dōgen im Shōbōgenzō eingehend untersucht.
Shikan legte den Schwur ab, dass er jeden Versuch,
den Buddha-Dharma durch Denken zu ergründen, sofort und dauerhaft abbrechen
würde. Mehrere Jahre lang diente er gewissenhaft als einfacher Mönch im
Kloster, indem er niedere Arbeiten ausführte. Gegenüber seinem Meister bezeichnete er sich als „töricht und dumpf im Körper und Geist und als
unfähig, die Wahrheit zu sagen.“ Schließlich bat er seinen Meister
inständig darum, ihm dabei zu helfen, aus dieser für ihn aussichtslosen
Situation herauszufinden.
Aber Meister Dai-i lehnte eine solche Hilfe
entschieden ab:
„Ich hätte
nichts dagegen, dir etwas (Hilfreiches) zu sagen, (aber wenn ich dies täte)
würdest du vielleicht später Groll gegen mich hegen.“
Offensichtlich war er sich sicher, dass sein Schüler
den notwendigen Schritt zur Wahrheit irgendwann ganz allein bewältigen würde
und dass theoretische Erklärungen dies eher verhindern statt fördern würden.
Die buddhistische Wahrheit müssen wir letztlich immer selbst finden, ein Lehrer
kann uns das nicht abnehmen.
Nachdem Shikan viele Monate und Jahre den Mönchen
gedient hatte, entschied er sich, das Kloster zu verlassen und auf den Spuren
des großen Landesmeisters Daisho zu
gehen. Er zog sich auf einen Berg zurück und lebte dort allein im Einklang mit
der Natur und der buddhistischen Wahrheit. An dem Ort,
an dem auch der legendäre Meister gelebt hatte, baute sich Shikan eine
einfache Hütte mit einem Strohdach. Er pflanzte Bambus und – wie Dōgen es
ausdrückt – „machte ihn zu seinem Freund“.
Seinen früheren Ehrgeiz, die buddhistische Lehre zu
verstehen, hatte er aufgegeben, er wollte nicht mehr umfangreiche Sūtras und
Kommentare studieren und nach der großen Erleuchtung streben. Stattdessen führte
er ein wirklich einfaches Leben in der Natur und mit der Natur und sah die
Jahreszeiten kommen und gehen. So freute er sich daran, dass sein Bambus wuchs
und gedieh und kräftige Stangen bildete.
Eines Tages geschah etwas für ihn völlig Unerwartetes:
Als er seinen Weg vor der Hütte fegte, löste sich ein kleiner Kieselstein vom
Boden, traf auf das Rohr des Bambus und erzeugte dabei einen Ton wie ein
„Bong“. Durch diesen unmittelbaren Ton, den er ohne jeden intellektuellen
Anspruch hörte, war er direkt in der Wirklichkeit angekommen. „Bong“ – das war die Wahrheit der Natur:
einfach, direkt und unkompliziert! Und die Wahrheit der Natur ist auch im
Universum und in uns selbst. So einfach und wunderbar sind das Leben und das
Universum.
Shikan nahm ein erfrischendes Bad, reinigte sich
gründlich, entzündete ein Räucherstäbchen und machte in tiefer Dankbarkeit
Niederwerfungen in die Richtung des Berges und Klosters seines Meisters Dai-i.
Schlagartig war ihm klar geworden, dass sein Meister
ihm wie kein anderer geholfen hatte, nur durch die eigene Erfahrung zur
Wirklichkeit zu gelangen, die sich ihm jetzt und völlig unerwartet eröffnet
hatte. Sein Meister hatte ihm keine verbale Erklärung gegeben und seine Fragen
nach der Erleuchtung nicht beantwortet, denn wahrscheinlich hätten solche vorgegebenen Antworten ihm für immer den Weg
zum Erwachen versperrt. Er erkannte das tiefe Mitgefühl seines Meisters für
seine damalige verzweifelte Situation und
sagte: „Die Tiefe seiner Güte übersteigt
die der Eltern.“ Dieser Satz stellt den Bezug zur ursprünglichen Frage des
Meisters her.
Der Klang des Kieselsteins, der das Bambusrohr traf,
vertrieb alle Vorstellungen und angestrebten Ziele. Die Wirklichkeit und Shikan
selbst waren plötzlich eine Einheit. Dōgen beschreibt hier sein eigenes tiefes
Verständnis der Erleuchtung, die nicht mit dem Willen und mit Gewalt erreicht
werden kann, sondern sich jäh und unerwartet ereignet, wenn sich durch
jahrelange Praxis und Bescheidenheit die notwendige Offenheit und Direktheit bei
uns selbst entwickelt haben. Gerade die enge Beziehung zur Natur und die
Offenheit dafür sind eine große Chance, zur Wirklichkeit und Wahrheit zu
finden.
Nicht
zuletzt wird dann die Ich-zentrierte Selbstinszenierung oder eigene
narzisstische Überhöhung völlig ausgeschaltet. Gerade Menschen mit einem
scharfen Verstand und einem hervorragenden Gedächtnis für die Lehren und
Kommentare geraten in Gefahr, einer Selbstüberschätzung zu erliegen. Dadurch
wird der direkte Zugang zur Wirklichkeit, die jenseits von analytischer
Kompetenz und ausgefeiltem Reflexionsvermögen existiert,
versperrt.
Das
heißt nicht, dass Dōgen scharfsinniges Denken und präzises Erinnern ablehnt,
sondern diese Fähigkeiten werden sozusagen dem unmittelbaren Erfahren der
Wirklichkeit untergeordnet: Sie werden ohne Ich-Stolz eingesetzt und verhindern
nicht den Zugang zur Buddha-Natur. Im Augenblick der Einheit mit der
Wirklichkeit spielen gedankliche Analyse und Reflektieren ohnehin keine Rolle,
da sie nur vor oder nach dem Augenblick des Geschehens wirksam werden können.