Dōgen erzählt die Geschichte von Hotatsu, der schon in jungen Jahren Mönch wurde und sich
vollständig dem Lotos-Sūtra
verschrieben hatte. Er prahlte sogar damit, dass er das Sūtra auswendig hersagen
könne und bereits mehr als 3000 Mal rezitiert habe. Er war zum großen Meister Daikan Enō gewandert, der berühmt wegen
seiner Kenntnis des Lotos-Sutra war, und wollte sich mit ihm messen. Dieser
Meister konnte selbst nicht lesen und schreiben, zeigte
ihm jedoch schon beim ersten Gespräch seine Grenzen auf:
„Auch wenn du das Sūtra zehntausendmal (rezitiert hättest), wirst du
nicht einmal in der Lage sein, (deine eigenen und andere) Fehler zu erkennen,
wenn du es nicht wirklich verstanden hast.“
Daraufhin wurde der Mönch Hotatsu sehr nachdenklich
und war tief verunsichert, seine Überheblichkeit war total verflogen. Meister
Daikan Enō schlug ihm vor, den Text bis zu einer Stelle zu rezitieren, an der er
ihm die große Bedeutung dieses Sūtra erläutern wolle. Dies sei nämlich die
umfassende Lehre und Weisheit von Gautama Buddha selbst, und sie werde auf
verschiedenen Wegen und mit tiefgründigen Gleichnissen angesprochen,
aufgedeckt, erklärt und verwirklicht. Dadurch könne man sich selbst den Zugang
zu dieser tiefen Weisheit eröffnen. Er fügte hinzu:
„Du musst jetzt
darauf vertrauen, dass Buddhas Weisheit einfach dein eigener natürlicher Zustand
des Geistes ist“ und untermauerte seine Worte mit einem eigenen Gedicht:
„Wenn der Geist in Täuschung ist, dreht sich die Blume des Dharma (ohne
uns).
Wenn der Geist in der Verwirklichung ist, drehen wir selbst die Blume
des Dharma.
Wenn wir nicht Klarheit über uns selbst haben, wird (das Sūtra) wegen
seiner Energie
(sogar unser) Feind, ganz gleich, wie häufig wir es rezitieren (!).
Ohne (selbstsüchtige) Absicht ist der Geist wahrhaftig.
Mit (selbstsüchtiger) Absicht wird der Geist falsch.
Wenn wir dieses ‚mit und ohne‘ (Absicht) überschreiten,
fahren wir ewig mit dem weißen Ochsengespann.“
Daikan Enō erläuterte dann dem Mönch den Kern des Lotos-Sūtra
und fügte hinzu, dass die meisten Probleme durch die eigenen, subjektiven Vorstellungen und Illusionen entstehen, die
nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Wenn die Illusionen platzen, und das
kommt mit Sicherheit früher oder später, sind wir tief erschüttert und fallen meist
in Verzweiflung. Aber wie können wir gravierende Täuschungen vermeiden? Auch
wenn wir unseren diskursiven Verstand und unterscheidenden Intellekt bis zum
Äußersten anstrengen und damit immer weiter fortfähren, werden wir uns trotzdem
von der großen Weisheit des Sūtra immer weiter entfernen und keine Klarheit
erlangen.
Nicht jeder erkennt jedoch den Wert der authentischen
Lehre. Gautama Buddha gestattete seinen Zuhörern zum Beispiel bei einer seiner
berühmten Lehrreden, ihren Platz zu verlassen und fortzugehen, wenn sie mit dem
Gesagten nicht einverstanden waren. Dadurch drehte sich die Dharma-Blume aber
ganz ohne sie, und sie haben sich selbst schwer geschadet und keine Klarheit
erlangt.
Nach Dōgen gibt es nur ein authentisches
buddhistische Fahrzeug, das auch in der Gegenwart unverändert gültig ist, und
durch dieses Fahrzeug gelangen wir zur wirklichen Klarheit. Diese Wirklichkeit
ist keine Vorstellung und kein Begriff, dann wäre sie mit Illusionen behaftet, sondern
der Schatz der Dharma-Blume selbst,
der uns schon immer gehört hat. Das Sūtra der Blume des Dharma sei als
Wirklichkeit immer anwesend, von Zeitalter zu Zeitalter, vom Morgen bis zum
Abend und in jedem Augenblick. Wir legen diesen großen Schatz niemals aus der
Hand, es gibt überhaupt keine Zeit, in der wir das Sūtra nicht „lesen“, denn es
ist das Universum selbst.
Der Mönch Hotatsu erfuhr plötzlich bei diesen Worten
und durch die Kraft und Austrahlung Daikan Enōs das große Erwachen und sprang
vor Freude in die Höhe. Spontan verfasste er das folgende Gedicht:
„Dreitausendmal (habe ich) das Sūtra rezitiert:
Vergessen durch einen Satz des Meisters vom (Berg) Sōkei.
Vor der Klärung der zentralen Bedeutung von (Buddhas) Erscheinen in der
Welt:
Wie können wir verhindern, dass die sinnlosen Leben wiederkehren?
(...)
Ursprünglich sind wir Könige im Dharma.“
Anschließend
erhielt Hotatsu vom Meister die Bestätigung und Dharma-Übertragung sowie den
Namen „Der sūtralesende Mönch“. Bei
dieser Begebenheit, so schildert Dōgen, begann sich die Blume des Dharma durch
Meister Daikan Enō immer weiter zu verbreiten, als Blume des Dharma, welche die
Blume des Dharma immer wieder dreht. Bis dahin hatte es diese große Wahrheit
des Drehens der Dharma-Blume als Gleichnis für das Erwachen nicht gegeben.