Diese Erleuchtungs-Geschichte im Zusammenhang mit
einem Naturerlebnis ist voller Poesie und Aussagekraft: Meister Reiun Shigon war laut Dōgen seit 30
Jahren ein „Sucher der Wahrheit“. Das bedeutet, dass er regelmäßig und
ausdauernd Zazen praktizierte und sich voll und ganz dem Buddha-Weg widmete.
Eines Tages unternahm er eine Wanderung in den
Bergen, ruhte sich am Fuß eines Hügels aus und blickte auf die entfernten
Dörfer im Tal. Es war Frühling, und die Pfirsichblüten standen in voller,
wunderbarer Blüte. Bei diesem Anblick verwirklichte Shigon plötzlich die
Wahrheit. Spontan und lange Überlegung verfasste er die folgenden Verse:
„Dreißig Jahre lang, ein Wanderer auf der Suche nach (dem
scharfen) Schwert (der Wahrheit).
Wie häufig fielen die Blätter und sprossen die Knospen?
Nach einem Blick auf die Pfirsichblüten
bin ich direkt in der Gegenwart angekommen und habe keine
Zweifel mehr.“
Nachdem Shigon
seine Verse dem Meister Dai-i
vorgelegt hatte, sagte dieser: „Wer durch die äußeren Phänomene (in die Wahrheit)
eingegangen ist, wird niemals zurückfallen oder schwanken.“
Diese bedeutende Geschichte über das Erwachen und die
Erleuchtung schildert den Augenblick der Wirklichkeit eines alten Mönchs, der bereits
viele Jahre praktiziert hatte. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er mit
Willensstärke und Zielstrebigkeit oder gar Ehrgeiz die Erleuchtung gewinnen
wollte, sondern im Gegenteil: Die Szene wirkt entspannt und frei von Stress und
Absicht: Erruht sich am Fuße eines Berges von der Wanderung aus.
Durch den Anblick der wunderbaren Pfirsichblüten
fallen alle bisherigen Begrenzungen und Hemmnisse des Denkens und der Emotionen
von Shigon ab, die klare Wirklichkeit hat direkten Zugang zu ihm und führt zur Einheit
mit der Natur und dem Universum. Als er jung war, hatte er das Erwachen als
etwas Besonderes gesucht, das scharf wie ein Schwert und etwas Extremes im
Leben sein würde. Er hatte die
Erleuchtung und das Erwachen mystifiziert und sich in großartigen Erleuchtungsutopien
verloren. Gerade dadurch hatte er sich selbst den Weg zur einfachen, aber
wunderbaren Wirklichkeit verstellt.
Dies alles war bei seiner Rast von ihm abgefallen,
und genau dann öffnete sich sein Körper-und-Geist für und durch die Natur. Nun
lebte er nicht mehr in der Vergangenheit oder Zukunft, nicht mehr in Illusionen
und Erwartungen sondern, wie es in dem Gedicht heißt, ganz in der Gegenwart.
Der große Meister Dai-i bestätigte sein Erwachen und
fügte hinzu, dass jemand, der durch die Natur eine solche Wirklichkeit erfahren
hat, nicht mehr in frühere begrenzte Vorstellungen und Bewertungen zurückfällt.
Er unterliegt keinen Verunsicherungen und Schwankungen mehr und kennt kein
ängstliches Zaudern. Die Natur ist im direkten Erleben unkompliziert und
spricht zu uns ohne Worte. Sie lehrt direkt den Dharma-Wahrheit für alle, die
offen sind und die Wahrheit der Natur „verstehen“, wie es bei Dōgen in einem
anderen Kapitel heißt.
Sicher gibt es auch viele falsche
Erleuchtungserlebnisse, die auf Illusionen beruhen und lediglich gewisse
psychische Ausnahmezustände und
Halluzinationen sind. Viele mögen sich die Erleuchtung einbilden und täuschen
sich damit selbst. Leider versuchen auch manche Lehrer, solche illusionären
Geisteszustände bei Zuhörern und Schülern zu erzeugen.
Damit verwischen sie aber gerade den Unterschied
zwischen Ideen und Wirklichkeit. Nishijima Roshi betont in aller Klarheit, dass
es unmöglich ist, aus der Welt der Ideen, also dem Idealismus, in den Zustand
der Erleuchtung zu gelangen. Dieser Ansatz zur
Befreiung war meines Erachtens der fundamentale Irrtum des großen griechischen
Philosophen Plato, der einen erheblichen Einfluss auf die abendländische
Geschichte ausübte.
Nishijima Roshi kommentiert
Shigons Erleuchtung folgendermaßen:
„Meister Shigon hatte mehr als 30 Jahre Zazen praktiziert,
und eines Tages machte er einen Spaziergang in den Bergen zur Erholung. Als er
am Fuße eines Berges Rast machte, sah er auf eine großartige Szenerie von
Pfirsichblüten, die in den Feldern voll erblüht waren. Und dann wurde ihm
sonnenklar, dass diese Welt wirklich existiert. Wir können daher annehmen, dass
die Wirklichkeit sich manchmal (jäh) durch die äußere Welt (wie hier die Natur)
offenbart.“