Mittwoch, 5. November 2014

Das Leben hängt nicht vom Tod ab


Der "Tod" alter Zustände, Vorurteile, Abwertungen und alter Fesseln führt laut Dōgen zu einem besseren Leben, zu einem Neuanfang. Dadurch treffen wir das wahre Leben, bevor uns der Tod ereilt:

Das Leben hindert nicht den Tod, und der Tod hindert nicht das Leben.“

Es ist also sinnlos, den Tod zu verdrängen, denn dadurch wird man die Bedrohung durch das eigene Ende nicht los. Wer sich aber permanent panischen Todesgedanken ausliefert, verpasst das Leben genauso. Wenn wir leben, sollten wir das umfassend tun, aktiv handeln und uns ganz dem Augenblick öffnen.

Dōgen unterstreicht, dass gewöhnliche Menschen, welche die buddhistische Wahrheit nicht erlangt haben, weder das Leben noch den Tod wirklich kennen. Der Tod sollte natürlich in das Leben integriert werden. Aber das Leben hängt nicht vom Tod ab und sollte durch das Leben selbst gesteuert werden. In diesem Sinne sagte auch Zen-Meister Engo Kokugon, der etwa 130 Jahre vor Dōgen lebte:

„Das Leben ist die Verwirklichung aller (seiner) Aufgaben und Funktionen.
Der Tod ist die Verwirklichung aller (seiner) Aufgaben und Funktionen.
Sie erfüllen den ganzen Raum.
Der reine, bloße Geist ist immer Augenblick für Augenblick.“[i]

Dōgen fordert uns auf, diese Zeilen sorgfältig zu bedenken und zu analysieren. Sie erscheinen zunächst recht unverständlich und der Vernunft nicht zugänglich. Was bedeuten sie? Die ersten beiden Zeilen sollen die Wirklichkeit von Leben und Tod ungeschminkt, aber auch ohne Panik beschreiben.

Die Funktionen und Aufgaben unseres Lebens sind von unserer Verantwortung und der Ethik des Handelns mit und für andere nicht zu trennen. Esoterische Isolation vom täglichen Leben und der Rückzug in Nischen falsch verstandener Spiritualität und weltfremder Philosophien sind gefährliche Sackgassen im Leben. Sie besitzen keine Dynamik, nur sehr begrenzte Kreativität und führen leicht zum Vertrocknen des Körper-und-Geistes. Aber wir sollen uns auch nicht von der Angst vor dem körperlichen Tod einengen lassen.

Als Tod verstehe ich hier nicht nur den physischen Tod, sondern vor allem das Ende von Täuschungen und den Neuanfang nach Irrtümern und Fehlern. Das ergibt die Voraussetzung für einen Neubeginn, denn nach Shunryu Suzuki ist Zen-Geist genau Anfänger-Geist. Um neu anzufangen, muss man etwas Falsches beenden, das Falsche muss also vertrocknen und sterben.

Wer starr an seinem eigenen Käfig festhält, kann sich nicht entwickeln und nicht den schwierigen aber erfüllenden Weg zur Freiheit finden. Das Universum befindet sich in einem dynamischen Gleichgewicht, und auch unser Leben sollte in einem solchen dynamischen Gleichgewicht ablaufen.

Der zitierte Raum hat im Zen-Buddhismus verschiedene Bedeutungen, die vielfältige Lebensdimensionen wiedergeben. Er ist nach der alten indischen Lehre ein materielles Element, wird aber auch häufig als Symbol für das Gleichgewicht, die Befreiung und sogar die Leerheit verwendet. Er steht damit auch für die Zazen-Praxis, bei der die Gedanken und Emotionen sich auflösen und wir häufig ein umfassendes, intuitives Raumgefühl erleben:

"Zazen ist Nicht-Denken.“[ii]

In der letzten Zeile steht der einfache, ungekünstelte Geist im Mittelpunkt, der auch als nackt und bloß bezeichnet werden kann und sich jäh im Augenblick verwirklicht.





[i] Kap. 41, ZEN Schatzkammer, B. 2, S. 143 ff.: „Das Universum ist dynamisches Handeln (Zenki)
[ii] Nishijima, G. W.; Seggelke, Yudo J.: Die Kraft der ZEN-Meditation. Im Auge des Zen, Bd. 4, S. 36 ff.