Der "Tod" alter
Zustände, Vorurteile, Abwertungen und alter Fesseln führt laut Dōgen zu einem
besseren Leben, zu einem Neuanfang. Dadurch treffen wir das wahre Leben, bevor uns der Tod ereilt:
„Das Leben hindert nicht den Tod, und der Tod
hindert nicht das Leben.“
Es ist also sinnlos, den Tod
zu verdrängen, denn dadurch wird man die Bedrohung durch das eigene Ende nicht
los. Wer sich aber permanent panischen
Todesgedanken ausliefert, verpasst das Leben genauso. Wenn wir leben,
sollten wir das umfassend tun, aktiv handeln und uns ganz dem Augenblick öffnen.
Dōgen unterstreicht, dass
gewöhnliche Menschen, welche die buddhistische Wahrheit nicht erlangt haben,
weder das Leben noch den Tod wirklich kennen. Der Tod sollte natürlich in das Leben integriert
werden. Aber das Leben hängt nicht vom Tod ab und sollte durch das Leben selbst gesteuert werden. In diesem
Sinne sagte auch Zen-Meister Engo Kokugon, der etwa 130 Jahre vor Dōgen
lebte:
„Das Leben ist die Verwirklichung aller
(seiner) Aufgaben und Funktionen.
Der Tod ist die Verwirklichung aller
(seiner) Aufgaben und Funktionen.
Sie erfüllen den ganzen Raum.
Der reine, bloße Geist ist immer
Augenblick für Augenblick.“[i]
Dōgen fordert uns auf, diese
Zeilen sorgfältig zu bedenken und zu analysieren. Sie erscheinen zunächst recht
unverständlich und der Vernunft nicht zugänglich. Was bedeuten sie? Die ersten
beiden Zeilen sollen die Wirklichkeit von Leben und Tod ungeschminkt, aber auch
ohne Panik beschreiben.
Die Funktionen und Aufgaben
unseres Lebens sind von unserer Verantwortung und der Ethik des Handelns mit und
für andere nicht zu trennen. Esoterische Isolation vom täglichen Leben und der
Rückzug in Nischen falsch verstandener Spiritualität und weltfremder
Philosophien sind gefährliche Sackgassen im Leben. Sie besitzen keine Dynamik,
nur sehr begrenzte Kreativität und führen leicht zum Vertrocknen des Körper-und-Geistes. Aber wir sollen uns auch nicht
von der Angst vor dem körperlichen Tod einengen lassen.
Als Tod verstehe ich hier
nicht nur den physischen Tod, sondern vor allem das Ende von Täuschungen und
den Neuanfang nach Irrtümern und
Fehlern. Das ergibt die Voraussetzung für einen Neubeginn, denn nach Shunryu Suzuki ist Zen-Geist genau Anfänger-Geist. Um neu anzufangen, muss man etwas
Falsches beenden, das Falsche muss also vertrocknen und sterben.
Wer starr an seinem eigenen
Käfig festhält, kann sich nicht entwickeln und nicht den schwierigen aber
erfüllenden Weg zur Freiheit finden. Das Universum befindet sich in einem
dynamischen Gleichgewicht, und auch unser Leben sollte in einem solchen
dynamischen Gleichgewicht ablaufen.
Der zitierte Raum hat im
Zen-Buddhismus verschiedene Bedeutungen, die vielfältige Lebensdimensionen
wiedergeben. Er ist nach der alten indischen Lehre ein materielles Element,
wird aber auch häufig als Symbol für das Gleichgewicht, die Befreiung und sogar
die Leerheit verwendet. Er steht damit auch für die Zazen-Praxis, bei der die Gedanken und Emotionen sich auflösen und
wir häufig ein umfassendes, intuitives
Raumgefühl erleben:
"Zazen
ist Nicht-Denken.“[ii]
In der letzten Zeile steht
der einfache, ungekünstelte Geist im Mittelpunkt, der auch als nackt und bloß
bezeichnet werden kann und sich jäh im Augenblick verwirklicht.