Dōgen untersucht die zu seiner Zeit intensiv
diskutierte Frage, ob ein Erwachter den Geist anderer Menschen erkennen kann.
Dabei bearbeitet er die Geschichte von Zen-Meister Daisho, der damals in China sehr bekannt war und ehrenvoll
„Landesmeister“ genannt wurde. Er galt als besonders unabhängig von den
Machtstrukturen der damaligen Zeit und hatte nicht zuletzt deswegen den Ruf,
immer die Wahrheit offen und klar zu äußern und keine gefälligen Schmeicheleien
oder wohlfeile Urteile abzugeben. Dies mag sicher auch ein wichtiger Beweggrund
für den damaligen Kaiser gewesen sein, Daisho darum zu bitten, sich mit dem
indischen Gelehrten Sanzō zu treffen,
um sich ein Bild von ihm zu machen. Sanzō hatte nämlich bei seiner Ankunft in
China vollmundig erklärt: „Ich habe das
Auge erlangt, das den Geist der anderen erkennt.“
Beim Zusammentreffen mit Daisho machte der Inder eine
Niederwerfung, und der Meister fragte ihn:
„Hast du die
Kraft erlangt, den Geist des anderen zu erkennen?“ Sanzō bestätigte dies, allerdings in indirekter, höflich
verbrämter Form, wie es damals in China üblich war.
Meister Daisho freute sich auf ein gutes Dharma-Gespräch
mit dem indischen Buddhisten und stellte dem Gelehrten zunächst die scheinbar
ganz einfache Frage nach der Örtlichkeit. Dies sollte der Beginn eines tiefer
gehenden Dialoges über den Geist sein, bei dem Meister Daisho herausfinden
wollte, ob und wie weit der Inder den Geist des Meisters erkennen oder in ihm
lesen könnte:
„Sag mir, wo
ich, (dieser) alte Mönch, jetzt bin?“
Der indische Gelehrte schilderte daraufhin eine
fantasievolle Szene, in der sich der Meister angeblich befinden sollte. Dabei
schmeichelte er dem Meister, offensichtlich um sich beliebt zu machen. Da
dieser mit der Antwort des Inders
jedoch überhaupt nicht zufrieden war, wiederholte er seine Frage, erhielt
darauf aber eine ähnliche, weitschweifige Antwort. Der große Meister Daisho war
von dem bisherigen Dialog tief enttäuscht. Daher stellte er seine Frage noch
ein drittes Mal, bekam dann aber überhaupt keine Antwort mehr.
Der indische Gelehrte war offensichtlich verwirrt und
völlig überfordert. Ein tiefgehendes Gespräch über die wechselseitigen
geistigen Fähigkeiten in der buddhistischen Interaktion zweier klarer Meister war
nicht möglich. Dazu bedarf es einer fundierten Klarheit über den Menschen und
sein wahres Wesen, der Buddha-Natur, die sich im Handeln verwirklicht. Nur dann
ist eine intuitive weit angelegte Verständigung zweier Menschen möglich, die
über den Austausch oder das Erahnen simpler Fakten hinausgeht. Wer nicht tief
erfahren hat, dass es die Wirklichkeit des Geistes gibt, der aber nicht erfasst
werden kann, ist nicht in der Lage, einen sinnvollen Dialog mit einem großen
Zen-Meister zu führen. Der indische Gelehrte musste daher scheitern.
Daisho kritisierte ihn scharf im Hinblick auf seine
behaupteten Fähigkeiten:
„Du Geist
eines wilden Fuchses, wo ist deine Fähigkeit, den Geist anderer zu erkennen?“