Die
Worte „Der Geist kann nicht erfasst werden“ hat jeweils eine grundsätzlich
andere Bedeutung, wenn sie von einem Theoretiker oder von einem wahren Meister ausgesprochen werden. Man
dürfe beide nach Dōgen nicht auf die gleiche Stufe stellen. Theoretiker kennen
nicht die Kraft und Energie des wahren
Weges, der sich durch das Lernen in der Praxis öffnet und im Gespräch mit
„einfachen“ Menschen bewährt.
Dōgen
grenzt diese Aussage über den Geist aber auch von der Ansicht der Naturalisten ab, die behaupten, alles in
der Welt sei von Natur aus gegeben, und es bedürfe keiner Anstrengung, um das Erwachen zu erlangen.
Der
Gelehrte Tokuzan hatte bei seiner
Begegnung mit der alten Verkäuferin der Reiskuchen noch nicht an sich selbst
den wahren Buddha-Dharma erfahren und konnte daher die Worte über den Geist im
Diamant-Sūtra nicht in ihrem vollen Umfang erfassen und „verstehen“. Dōgen
meint, Tokuzan habe noch nicht verstanden,
„dass es für das buddhistische Training immer
notwendig ist, einem wahren Menschen zu begegnen“.
Erst
als er später seinen wahren Meister getroffen hatte und sich in dessen Kloster
niederließ, um gründlich in der Praxis zu lernen, fand er Zugang zum wahren
Dharma und Zen-Geist.
Anschließend
zitiert Dōgen einen anderen berühmten Satz, der aussagt, dass der Gelehrte
Tokuzan erst später begriffen habe, dass der „in einem Bild gemalte Reiskuchen den Hunger nicht stillen kann“.
Die Überlieferung berichtet nämlich, dass er ein wirklicher und wahrer Mensch
wurde, nachdem er das Erwachen verwirklicht hatte. So sei er ein
Gründungsmeister der Übertragungslinien von Unmon
und Hogen sowie ein großer Lehrer in
der Welt der Menschen und im Himmel über uns geworden.
Dass
Tokuzan damals bei der Begegnung mit der alten Frau im Sinne des Buddha-Dharma
noch nicht erleuchtet war, ist sicher unbestritten. Aber Dōgen fragt in seiner
typischen Art weiter, wie es eigentlich um die Verkäuferin der Reiskuchen
selbst steht und ob es eindeutig sei, dass sie die große Wahrheit über den
Geist wirklich erlangt habe, wie von vielen Generationen von Schülern behauptet
wurde.
Seiner
Vermutung nach glaubte die Frau, dass der Geist überhaupt nicht existieren
könne, dass es ihn also nicht gibt. Wenn Tokuzan selbst ihre Frage nicht
beantworten konnte, hätte er zumindest die Gegenfrage
stellen müssen, um herauszufinden, ob die alte Frau ein umfassendes
buddhistisches „Verständnis“ der berühmten Worte „Der Geist kann nicht erfasst
werden“ besaß.
So
bleibe es völlig unklar, was sie ihrerseits erlangt hatte. Dōgen untermauert
seine Zweifel an ihrem Verständnis und erklärt, dass sie zum Beispiel zu
Tokuzan hätte sagen können:
„Jetzt ist der Meister nicht in der
Lage, irgendetwas zu sagen. Wir sollten die Unterhaltung aber fortsetzen:
Stelle mir, der alten Frau, eine Frage. Diese alte Frau wird stattdessen für
den Meister etwas (zum Geist) sagen.“
Eine
solche Form des Dialogs war im alten China durchaus üblich und wurde zwischen
Meister und Schülern oder zwischen den Meistern untereinander häufiger
praktiziert. Einer äußerte seine Interpretation und fragte danach den anderen,
wie er die Frage verstehen und ausdrücken würde.
Bei
einigen Dialogen der berühmten Meister des Zen-Buddhismus wird laut Dōgen sogar
deutlich, dass beide Antworten den Kern des Buddha-Dharma treffen, auch wenn
sie entsprechend der Individualität der
Meister scheinbar unterschiedlich sind. Er warnt in einem solchen Fall
davor, dass wir die Antworten billig gegeneinander aufrechnen und überheblich
bewerten, wer der bessere Meister sei.
Im Fall der alten Frau käme
es darauf an, ob sie selbst die Fähigkeit besaß, eine sinnvolle Erklärung und
eine treffende Antwort auf die Frage zu geben, was es mit dem Geist, der nicht
zu fassen ist, wirklich auf sich habe. So wären die großen Meister zweifellos
vorgegangen, und es wäre ihnen gelungen, „Tokuzan, die alte Frau, das Unfassbare, das Fassbare, die Reiskuchen
und den Geist zu ergreifen und auch
wieder loszulassen.“
Damit soll ausgedrückt
werden, dass man nicht an den Worten und Vorstellungen haften darf, sondern sie
gewissermaßen spielerisch ergreift,
analysiert, vertieft und sich in diesem Sinne auf sie konzentriert, aber
auch wieder loslässt. Man soll die
Sprach- und Vorstellungsebene also mit einer gewissen Leichtigkeit und
Flexibilität wieder verlassen. Durch derartige Sprachprozesse sei es dann
möglich, zur Wirklichkeit vorzustoßen, anstatt an festgelegten oder gar dogmatisierten Lehren haften zu bleiben.