Dienstag, 23. April 2013

Grundlagen der Achtsamkeit



Das Sūtra von den Grundlagen der Achtsamkeit ist zweifellos eine wesentliche Basis der authentischen Lehre Gautama Buddhas. Am Anfang dieser Lehrrede heißt es:

„Der eine Weg ist dies, ihr Mönche, zur Läuterung der Lebewesen, zur Überwindung von Kummer und Klage, zum Untergang von Leiden und Betrübtheit, zum Erlangen des Richtigen, zur Verwirklichung vom Nibbāna: Das sind die vier Grundlagen der Achtsamkeit.“

Wie der Buddhologe Peter Gäng überzeugend darlegt, wird der Begriff „Achtsamkeit“ im heutigen Sprachgebrauch im Allgemeinen viel zu eng verstanden, denn er bezieht sich meist nur auf individualpsychologische Bereiche und wird in diesem Sinne oft auch für psychotherapeutische Verfahren verwendet. Dieser Ansatz entspricht nicht dem umfassenden Verständnis und der Praxis von Gautama Buddha. Denn wie er in diesem Sūtra sehr genau ausführt, handelt es sich um die Achtsamkeit bei der klaren Betrachtung des Körpers, der Gefühle, des Geistes und der sogenannten geistigen Gegebenheiten. Dies sind die vier Grundlagen der Achtsamkeit.

Eifrig, klar erkennend und achtsam nach Abwendung von Begierde und Betrübtheit in der Welt“ soll die Betrachtung dieser Grundlagen erfolgen, sagt Buddha. Seine sehr praktisch formulierten Aussagen über den Geist und die geistigen Gegebenheiten, mit deren Hilfe das Leiden überwunden werden kann, bilden mit der Untersuchung des Körpers und der Gefühle eine Einheit; es ist überhaupt nicht sinnvoll, sie isoliert zu betrachten.

Bei allen vier Grundlagen der Achtsamkeit weist Gautama Buddha den Übenden auf die richtige Körperhaltung hin:
„(Der Mönch) setzt sich mit gekreuzten Beinen nieder, den Körper gerade aufgerichtet und errichtet ringsum die Achtsamkeit.“

Dabei geht es um achtsames Atmen, klares Empfinden, Beruhigung der verschiedenartigen Aktivitäten sowie die Betrachtung, die von innen und von außen stattfindet: „So weilt er innen (...), oder er weilt außen (...), oder er weilt innen und außen.“ Bei diesen Prozessen der Achtsamkeit sollen wir sowohl das Entstehen als auch das Vergehen betrachten.

Buddha verwendet zudem die folgende interessante Formulierung für alle vier Grundlagen: „So ist seine Achtsamkeit gegenwärtig, soweit es eben dem Wissen dient, soweit es der Achtsamkeit dient, unabhängig lebt er und haftet an nichts in der Welt.“ Aus diesen Worten spricht die große Lebenserfahrung und Weisheit Buddhas. Achtsamkeit und Klarheit von Körper und Geist sind verbunden mit der Unabhängigkeit und Freiheit von Anhaftungen des Menschen.

Ohne hier die physische Betrachtung des Körpers im Einzelnen zu vertiefen, möchte ich auf eine besondere Übung Buddhas hinweisen, bei der er seinen Schülern rät, sich den eigenen Tod ganz konkret vorzustellen, also der Frage nicht auszuweichen, wie der eigene Körper nach dem Tod zerfällt und verwest. Das mag uns recht ungewöhnlich vorkommen, denn in der modernen westlichen Gesellschaft werden Krankheit und Tod weitgehend tabuisiert und als unfassbare Katastrophen empfunden. In früheren Zeiten war der Tod aber noch viel gegenwärtiger und wegen der für unsere heutigen Vorstellungen nur rudimentären medizinischen Versorgung fast alltäglich. Neuere Forschungen haben zum Beispiel ergeben, dass zur Zeit von Jesus in Palästina 50 Prozent der Kinder bis zu ihrem fünften Lebensjahr gestorben sind, im alten Tibet sollen sogar die Hälfte der Neugeborenen im ersten Lebensjahr gestorben sein.

Auch Gautama Buddha selbst war tief bewegt, als er die Unausweichlichkeit von Krankheit, Alter und Tod erfahren hat, nachdem er laut der Überlieferung in seiner Jugend von diesen Lebensbereichen ferngehalten wurde. Nach seinem Verständnis gehört es jedoch zur Überwindung des Leidens, dass wir uns mit dem eigenen Tod sehr realistisch und pragmatisch beschäftigen und ihn nicht verdrängen.
Bei der Betrachtung der Gefühle unterscheidet Buddha freudige, leidige und weder freudige noch leidige Gefühle. Er sagt uns, dass wir sie ganz konkret betrachten und ihnen durch die Übung der Achtsamkeit eine unnötige Dramatik und überschießende Emotionalität nehmen sollen.


Er versucht in diesem Sūtra nicht, den Geist zu definieren und philosophische Grundsatztheorien darüber zu entwickeln. Bei der Betrachtung des Geistes erklärt er einfach, dass wir uns klar darüber sein sollen, ob der Geist mit Lustverlangen, Hass oder Verblendung erfüllt ist, oder ob er frei von diesen drei „Giften“ ist, wie es im Buddhismus heißt. Lustverlangen wird häufig verkürzt als Gier bezeichnet und Verblendung auch als Dummheit.

Ganz wesentlich sei es, dass wir klar erkennen, „wenn der Geist befreit ist, oder wenn er nicht befreit ist“. Dabei wird deutlich, dass ein mit Lustverlangen oder Verblendung erfüllter Geist niemals befreit sein kann, weil er gerade dadurch gefesselt und unklar ist. Die Aussagen Buddhas decken sich weitgehend mit den Erkenntnissen der heutigen Psychologie und der psychischen Therapie im Hinblick auf die Aufgabe, Klarheit zu gewinnen, was im Bereich der Gefühle und des Geistes wirksam ist. Daraus können die wirklichen psychischen Tatsachen klarer und unverstellter erkannt werden, die dann Grundlage einer erfolgreichen Therapie sind.

Buddha differenziert außerdem, ob der Geist gefasst oder zerstreut ist, und ob er „weit geworden ist“ oder „nicht weit geworden ist“. Und er ordnet dem Geist die Begriffe niedrig und hoch zu, die wir auch ethisch verstehen sollen. Sicher ist damit nicht nur die intellektuelle Scharfsinnigkeit des Verstandes und des Geistes gemeint.