Donnerstag, 27. Oktober 2022

Erwachen: Der Dichter Toba hört die wahren Stimmen des Tales


Toba war ein berühmter Dichter im alten China und war dem Buddhismus stark verbunden. Er hatte die umfangreiche Literatur des Buddhismus intensiv studiert und sich dabei vor allem auf die wirklich großen Meister konzentriert. Sie werden in China auch als „Drachen und Elefanten“ bezeichnet. Es wird berichtet, dass Toba die Landschaft von Lushan besuchte, die wegen ihrer Schönheit berühmt war. Er war von der großartigen Natur tief berührt. Sein Herz hatte sich dort geöffnet und er hörte den Bergstrom, der durch die Nacht floss, wie nie zuvor. Dabei verwirklichte er die große Wahrheit des Lebens und verfasste das Gedicht:

„Die Stimmen des Tales sind (Buddhas) weite und lange Zunge.

Die Form des Berges nichts anderes als sein reiner Leib.

Durch die Nacht gehen die vierundachtzigtausend Verse.

Dōgen vermutet beim Erwachens des Dichters Toba, dass er am Vortag tiefgehende Gespräche mit seinem Meister hatte und diese in das Erlebnis des Erwachens eingegangen sind.[i] Aber dieses Naturerlebnis der Wirklichkeit entstand nicht nur als Folge des Gesprächs, sondern geschah eigenständig und direkt. Denn es war sein eigenes tiefes Erleben.

Dōgen berichtet auch in anderen Kapiteln des Shōbōgenzō von Erleuchtungserlebnissen in der Natur, die durch scheinbar ganz unwichtige Ereignisse und oft durch die Wahrnehmung ausgelöst wurden. Die unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit stellt sich wie zufällig ein, wenn man viele Jahre die Übungspraxis des Zazen und das Verschwinden des Ich-Stolzes geübt hat. Aber sie ist natürlich nicht rein zufällig, sondern die Folge der Übungspraxis, vor allem Zen-Meditation.

 So beschreibt Dôgen das wahre Sehen und Hören zunächst mit der eigenartigen Formulierung, dass wir lernen sollen, dass die Berge fließen und das Wasser nicht fließt. Was meint er damit? Eine ähnliche Aussage findet sich übrigens in seinem Kapitel über das Sûtra der Berge und Wasser[ii]. Damit will Dôgen uns m. E.  sagen, dass wir nicht an gewohnten, scheinbar selbstverständlichen Vorstellungen haften sollten und dass die Natur ein „Tor zum Eintritt in den Buddhismus“[iii] ist. Unsere subjektiven Wahrnehmungen sind oft zu schematisch und verlieren damit die direkte Kraft der Natur. Wenn wir das fließende Wasser wirklich sehen wie es ist, gehören die Berge dazu. Sie bewegen sich gewissermaßen zusammen mit dem fließenden Wasser. Das ist das Geheimnis der vielfältigen sich bewegenden Natur zusammen mit dem Menschen. Das ist die wunderbare Ganzheit des Lebens! Das ist das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung wie es bei Buddha und Meister Nagarjuna heißt. Dôgen sagt:

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„In den früheren Zeiten des Frühlings und Herbstes hat Toba die Berge und Wasser nicht wirklich gesehen und gehört. Aber in jenen Augenblicken hat er sich in der Nacht ganz geöffnet. Er konnte die Berge und Wasser direkt und unverstellt sehen und hören.“

Menschen auf dem Buddha-Weg und die Bodhisattvas sollten Tobas Erwachen zum Anlass nehmen, selbst zu lernen, die Berge und Flüsse wahrhaft zu sehen und zu hören. Und Dōgen fügt hinzu: "Wer in der Natur erwacht, fällt nicht zurück!Buddha erwachte in der reinen Natur in Indien, als der Morgenstern aufging. Vorher konnte er durch die damalige Philosophie, Meditation und seine harte Askese trotz größter Anstrengung gerade nicht erwachen. Wir sollten unsere Natur daher schonen, pflegen und lieben. Sie ist ein Wunder.

Link: Tobas Erwachen


[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 109

[ii]         Kap. 14, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 129 ff.: „Das Sûtra der wirklichen Berge und Wasser (Sansui gyô)

[iii]         Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, Fußnote 16, S. 87

Dienstag, 18. Oktober 2022

Shikan hört im Jetzt den wahren Ton des Bambus


Eine im Zen-Buddhismus berühmte Geschichte handelt von dem Mönch
Shikan, der unter dem Zen-Meister Dai-i [i]durch einen jähen Ton Erleuchtung erlangte. Aber wie ist das möglich? Muss man dazu nicht die schwierige Philosophie des Buddhismus vollkommen verstehen und ein geistiges Genie sein? Wohl nicht, wie diese Geschichte zeigt! Shikans Meister Dai-i sagte zu ihm:

„Du bist von scharfem und brillantem (Verstand) und hast ein umfassendes Verständnis (der buddhistischen Lehre). Sag mir einen Satz über den Zustand, den du hattest, bevor deine Eltern geboren waren, ohne dass du aus irgendeinem Text oder Kommentar zitierst.“[ii]

Es handelt sich dabei nicht um eine intellektuelle Frage nach der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sondern um die direkt erlebte Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick.

Der Mönch Shikan suchte in mehreren Denk-Anläufen nach einer klaren Antwort, die seinen Meister zufriedenstellen könnte. Aber das gelang überhaupt nicht. Er war verzweifelt! Er strengte seinen Geist immer mehr an, so sehr es ihm überhaupt möglich war, aber ohne jeden Erfolg. Schließlich bat er seinen Meister inständig darum, ihm zu helfen, um aus dieser aussichtslosen Situation heraus zu kommen.

Aber Meister Dai-i lehnte das entschieden ab:

„Ich hätte nichts dagegen, dir etwas Hilfreiches zu sagen, aber wenn ich dies tue würdest du vielleicht später Groll gegen mich hegen.“

Was heißt das? Shikan sollte zu seinem eigenen Besten selbst den Schlüssel des Lebens finden. Er verließ das Kloster und zog sich auf einen Berg zurück. Dort lebte allein er allein im Einklang mit der Natur und im Rhythmus der Zen-Praxis . Und dann passierte es: Als er eines Tages seinen Weg vor der Hütte fegte, löste sich ein Kieselstein vom Boden, traf auf das Rohr des Bambus und erzeugte dabei einen klaren einfachen Ton: „Bong“. Das schlug bei Shikan ein! Das war der Wendepunkt seines Lebens.

Das war der wirkliche Ton, ohne intellektuellen und doktrinären Anspruch. So einfach und wunderbar sind das Leben und das Universum.

Shikan erkannte schlagartig, dass sein Meister ihm wie kein anderer geholfen hatte, nur durch die eigene Erfahrung wirklich zu hören. So gelangte er  zur Wirklichkeit, die sich ihm jetzt und völlig unerwartet geöffnet hatte.

Dōgen zitiert zu Shikan:

‚Bei einem einzigen "Bong" verlor ich das (alte) Bewusstsein, nicht länger muss ich (unnatürliche) Selbstdisziplin üben. Es gibt keine (negativen) Spuren irgendwo"

Meister Dogen beschreibt das Lebens und Universum auch im berühmten Kapitel Genjo Koan: ´Das verwirklichte Universum´. Denn was wären wir ohne das Universum, ohne das Licht und ohne die Energie der Sonne? Der Mönch Shikan und das Universum waren nun eins und mit ihm verbunden. Was nützen da Zitate und scharfsinniges Denken? Nicht viel, denn es geht um mehr!

Und Dōgen fügt hinzu: "Wer in der Natur erwacht, fällt nicht zurück!" Buddha erwachte in der reinen Natur in Indien, als der Morgenstern aufging. Vorher konnte er durch die damalige Philosophie, Meditation und seine harte Askese trotz größter Anstrengung gerade nicht erwachen. Wir sollten unsere Natur daher schonen, pflegen und lieben. Sie ist ein Wunder!

Universum verwirlichen


[i] Zen-Meister Dai-i lebte von 771 bis 835.

[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 109

Samstag, 8. Oktober 2022

Die heilende Akkupunktur-Nadel der Zen-Meditation

In dem zentralen Kapitel Dōgens, in dem es um die heilende Wirkung der Zazen-Praxis geht, verwendet er neben der Akupunktur-Nadel das Gleichnis von einem Ochsen-Gefährt: Die meisten Menschen besonders bei uns im Westen denken, dass man den Ochsen antreiben oder gar schlagen müsse, wenn das Ganze stehen geblieben ist. Der Ochse, der den Wagen heraus ziehen soll, ist dabei das Symbol für den Geist. Der Wagen ist das Symbol für den Körper. Und die heilende Nadel setzt natürlich beim Körper-und-Geist an. Wo denn sonst? Sie muss genau den Punkt treffen, um das Leiden zu vermindern oder ganz zur Ruhe kommen zu lassen. Nach Dōgen hat die Zen-Meditation genau eine solche Wirkung. Funktioniert Akupunktur ohne unseren Körper? Sicher nicht. Zen-Meditation ist ganzheitlich und viel mehr als Nachdenken und Reflektieren.

Die beiden Bereiche Körper und Geist müssen wechselwirkend zusammenarbeiten, damit der Mensch auf seinem Entwicklungs- und Lebensweg vorankommt und sich weitgehend befreit. Häufig ist der Wagen die Ursache dafür, dass es zum Stillstand kommt, wenn er zum Beispiel in einem Schlammloch festsitzt oder wenn ein Rad gebrochen ist. Das Hemmnis entsteht also durch ein Problem mit dem Wagen, symbolisch mit dem Körper. Oder anders gesagt: Der Geist kann das Lebens nicht isoliert vom Körper auf dem Weg voranbringen, erklärt Dōgen.

Wenn demnach der Körper die Haupt-Ursache für das Problem ist, nützt die isolierte Anspannung und Konzentration des Geistes allein nicht viel oder überhaupt nichts. Dann muss vor allem am Körper angesetzt werden, und der Körper ist untrennbar mit dem wahren Selbst des Menschen verbunden. Dōgen sagt, dass der Geist nicht wirken kann, wenn der Körper festgefahren, statisch oder sogar erstarrt ist. Nur wenn das harmonische Handeln von Körper und Geist gelingt, kann neue Dynamik, Freude und Bewegung für den Menschen entstehen. Dann kann gute Therapie wirksam werden

Dōgen kommt zu dem Schluss, dass Körper und Geist immer eine verbundene Einheit bilden und beim Handeln nicht getrennt werden dürfen. Und Handeln ist nicht zuletzt körperliches Handeln. Sonst bleibt der ganze Wagen als Symbol für den Menschen eben stehen. Körper und Geist sind keine isolierten Teile des Menschen, sondern wirken zusammen: Man sollte sich nicht einseitig auf den Geist konzentrieren und nicht auf ihn „einprügeln“ – aber auch nicht einseitig auf den Körper. Die Akupunktur-Nadel der Zen-Meditation heilt das Ganze!

Wagen und Ochse, Körper-und-Geist dürfen nicht getrennt und isoliert verstanden werden, um das praktische gute Handeln in der Wirklichkeit zu erfassen und zu ermöglichen. Oder um mit Meister Nāgārjuna zu fragen: Ist ein stehender statischer Wagen eigentlich ein wahrer Wagen? Ich meine : Ist er nicht! Oder ist er nur ein unveränderlicher Schein, der nicht die Qualität der Wirklichkeit, also des Handelns realisiert? 

Das mag spitzfindig erscheinen, ist es aber nicht. Es ist sicher unbestritten, dass es um die Bewegung eines fahrenden Gefährts von Wagen-Ochsen-und-Kutscher in der Wirklichkeit geht: Ohne Bewegung kein Leben! Die Teilsysteme müssen in sinnvoller Wechselwirkung gemeinsam ihre Aufgaben erbringen, denn der Sinn des Wagens verwirklicht sich, wenn er beladen ist, vom Ochsen auf dem Weg gezogen wird und zum Ziel fährt. So etwas kann weder ein isolierter statischer Geist noch ein isolierter erstarrter Körper leisten. Die Akupunktur der Zen-Meditation heilt das Ganze.

Links  Vertiefung: Zen-Praxis

Zen-Meditation, Dogens authentische Beschreibung

 

Samstag, 1. Oktober 2022

Die Buddha-Augen im Herbst

Wenn wir auf dem Weg des Buddha-Dharma vorangehen oder sogar erwachen, bedeutet dies nach Dōgen, dass wir die „alten“, begrenzten und verzerrenden Augen verlieren und sich die „neuen“, erwachten öffnen. Was ist damit gemeint? Dazu müssen wir uns von verzerrenden und oft verhärteten Affekten und Emotionen, unbewusst gesteuerten Sichtweisen und Vorurteilen sowie lieb gewordenen „Denknestern“ trennen. Dann können wir zu einer neuen Freiheit des Sehens, Handelns und Denkens zu kommen. Verkürzt heißt das: Wir sollten die Drei Gifte: Gier, Hass und Verblendung unwirksam machen und schließlich ausschalten.

Zen-Meister Dōgen regt an, dass wir die konkreten Dinge unserer Umwelt sehr genau betrachten, genauso wie sie sind. Aber unser Sehen sollte über die äußere Form hinausgehen, denn nur dann können wir die buddhistische, umfassende Wirklichkeit erkennen. In diesem Zusammenhang zitiert er seinen eigenen chinesischen Meister:

„Der Herbstwind ist rein und frisch, und der Herbstmond ist klar und hell.

Die Erde, die Berge und Flüsse leuchten klar im Auge.

Tendō sieht sie, und sie begegnen sich neu und frisch.

Sie laufen mit Stöcken rufend umher und prüfen mich, den Flickenmönch.“

In der ersten Zeile des Gedichts geht es um die volle Wahrnehmung des Windes und Mondes im Herbst. Diese Jahreszeit ist in China und Japan besonders beliebt, weil die Hitze und Schwüle des Sommers dann vorbei sind, die Nächte wieder kühl und klar werden und die Chrysanthemen blühen. Das Laub färbt sich in vielfältigen wunderbaren Farbtönen. Das Gedicht von Tendō Nyojō geht also über eine äußerliche, durch die Form und Materie festgelegte Beschreibung hinaus und vermittelt uns eine große poetische und spirituelle Kraft.

Dōgen spricht von der Begegnung der klaren Erde, Berge und Flüsse mit dem Mönch. Dabei wird deutlich, dass eine Trennung in ein Subjekt, das sieht, und die Natur als Objekt, das gesehen wird, unsinnig ist oder zumindest eine eindimensionale verengte Sichtweise darstellt.

In der letzten Zeile wird auf das Erwachen des Meisters verwiesen, der von der Natur geprüft und getestet wird. Das heißt, dass die Natur in besonderer Weise unseren psychischen und geistigen Zustand an uns selbst zurückmelden kann, in klärende Verbindung mit uns kommt und damit die Wahrheit des Buddha-Dharma lehrt. Wer nach Dōgens Überzeugung in lebendiger Wechsel-Wirkung mit der Natur das große Erwachen erfährt, zum Beispiel durch blühende Pfirsichbäume im Frühling oder den Wind und Mond im Herbst, ist besonders sicher im Gleichgewicht verankert und „fällt nicht in Ideologien und Statik zurück“.

Die Klarheit und Frische des Herbstwindes erfahren und erleben wir genau im jetzigen Augenblick mit allen Sinnen. Dann sind wir offen für die Natur und nicht durch eigene Gedanken und Emotionen besetzt oder und abgelenkt: Das schädliche Grübeln hört auf.

Dann eröffnet sich für uns die Vierte Dimension der Zeit: Das große Jetzt!:

„Gautama verliert seine (bisherigen) Augen.

Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.

Jetzt sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen.

Und doch lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind.“

Die Augen „springen heraus“ in den Augenblick, wir geben alles, und „dies ist der erste Tag“.


Vertiefen: Buddha-Augen im Zen bei Dogen