Mittwoch, 29. Oktober 2014

Gleichgewicht im Handeln: Schritte vorwärts und rückwärts


 „Indem wir fortfahren, Augenblick für Augenblick den (bisherigen) Körper aufzugeben und den (wahren) Körper zu empfangen, ist es der gegenwärtige Zustand, die Wahrheit durch Schritte vorwärts und Schritte rückwärts zu lernen.“

Diese Formulierung mit den vorwärts und rückwärts gerichteten Schritten wird im Shōbōgenzō häufig verwendet, um das Handeln näher zu charakterisieren. Die Schritte vorwärts bezeichnen ein aktives, vorwärts gerichtetes Handeln, während die Schritte rückwärts bedeuten, etwas Sinnvolles geschehen zu lassen oder sogar einige Schritte zurückzutreten und der gesamten Situation die Freiheit zu geben, sich harmonisch und natürlich zu entwickeln.

Eine dauernd vorwärts drängende Hektik kann niemals zu einem ausgeglichenen Leben für sich selbst oder für andere führen. Es mag Phasen geben, wo eine solche drängende, konzentrierte Kraftanstrengung notwendig und sinnvoll ist, um eine Hürde zu überwinden oder in einen ganz neuen Lebens-Zustand zu gelangen. Aber dann sollte man wieder einen Schritt zurücktreten, das Ganze genau beobachten, um nicht zu sagen darüber meditieren, um keinen unnötigen Zwang auf die gesamte Situation auszuüben.

Die neue Situation ist dann die Ausgangslage für das weitere Vorgehen, das einer konkretisierten Analyse bedarf, die vorher gar nicht möglich war. Erst dadurch ergibt sich die nötige Offenheit: Zen-Geist ist Anfängergeist.[i] Andauernder Aktivismus erzielt oft eine schlechte Wirkung und kostet viel unnötige Kraft. Wer sich ohne Gleichgewicht verausgabt, landet im Burnout.

Dōgen verwendet für die Ruhe und das Gleichgewicht gern Wendungen aus bekannten Kōan-Geschichten des Zen, zum Beispiel: „ein polierter Ziegel“, ein Baum mit „verwelkten Blättern“ der falschen gierigen Emotionen oder die „tote Asche“ des Egoismus. Das sind Bereiche, die auf dem Weg der Zen-Praxis verwelken  und vergehen. Es geht um positive Eigenschaften der ausgeglichenen Zazen-Praxis, die aus ihr entstehen, und keineswegs um Askese, die alles Lebendige abtötet und die Menschen zu gefühllosen Baumstümpfen werden lässt. Wenn der Körper abstirbt, stirbt auch der Geist und mit ihm unsere menschliche Kreativität. Denn Lebensfreude und Kreativität sind ein "Geschwister-Paar".

Es geht darum, den Mittleren Weg zu gehen und überschießende Extreme zu vermeiden. Der Mittlere Weg führt aus der Abhängigkeit und Mittelmäßigkeit zur Selbstbestimmung. Das Streben nach der Wahrheit und die meditative Praxis sollten ohne Unterbrechungen und kontinuierlich durchgeführt werden. Wenn wir einmal nachlässig waren bei der Praxis oder im täglichen Handeln, sollten wir möglichst schnell wieder zum guten Rhythmus zurückkehren.

Das Leben im Zen ist zunächst keine bequeme Angelegenheit. Aber der wahre Zen es ist auch nicht rau, trostlos und ärmlich, wie Außenstehende manchmal behaupten; das ist blanker Unsinn:

„(Unser) Leben ist eine Anstrengung, aber wir sind gleichzeitig keine armen Gestalten. Vergleicht uns nicht mit Begriffen wie Täuschung oder gut und böse. Geht nicht in die Falle der Bereiche von falsch und richtig oder wahr und unwahr.“

Dōgen fügt weitere Kōan-Formulierungen hinzu: Wahres „Leben-und-Sterben, Gehen-und-Kommen sind der wirkliche menschliche Körper.“ Das fortlaufende, ziellose Wandern im Leben der gewöhnlichen Menschen, welche die Bodhi-Wahrheit nicht anstreben und erlangen, ist etwas anderes als das nur scheinbar ziellose Leben der praktizierenden Buddhisten. Denn es geht nicht um materielle Ziele, um Ansehen oder äußerer Ruhm. Besser ist Handeln im Gleichgewicht.

Dōgen bezeichnet diesen Unterschied als „zwei der sieben Arten von Leben-und-Tod“ und meint damit das eingeengte Leben gewöhnlicher Menschen, die nur zwei verschiedene Lebensweisen kennen, zum Beispiel Unterscheidung und Veränderung im Äußeren. Im Gegensatz dazu haben praktizierende Buddhisten zusätzliche Varianten, Möglichkeiten und Freiheiten, die hier mit den „sieben Arten“ symbolisiert werden.[ii] Wenn wir die vielfältigen Arten zu leben vollkommen verwirklichen, brauchen wir uns nicht zu fürchten und keine Ängste für die Zukunft zu haben. Wer in seinem jetzigen Leben alte Zustände und Fesseln abgelegt hat, ist damit schon eines Todes seines früheren negativen Lebens gestorben.



[i] vgl. Suzuki, Shunryu: Zen-Geist, Anfänger-Geist
[ii] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 255, Fußnote 65

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Wir sind im Gleichgewicht, wenn der Weg des Buddha gegangen wird


Im Zustand des Gleichgewichts sehen wir also alles ganz klar und realisieren, dass der menschliche Körper nach der Überwindung der Dualität das Ganze der zehn Richtungen ist. Dabei sei es von geringer Bedeutung, dass der menschliche Körper „durch sich selbst und andere begrenzt ist.“[i] Das heißt nichts anderes, als dass der menschliche Körper zu einem konkreten Menschen gehört und in Wechselwirkung mit anderen Menschen und Situationen steht.

Diese Aussage unterstreicht, dass das Leben im Gleichgewicht ist und das ganze Universum der zehn Richtungen ebenfalls balanciert ist. Zum menschlichen Körper gehören nach buddhistischer Vorstellung die vier materiellen Elemente und die fünf Komponenten des Menschen (skandas). Auch sie sind im Gleichgewicht, wenn der Weg des Buddha gegangen wird. Das Gleichgewicht ist nicht nur eine Angelegenheit des Gehirns oder der Psyche: So ist zum Beispiel die Körperhaltung bei der Zen-Meditation von zentraler Bedeutung.[ii]

Die intellektuellen Fähigkeiten sind im Gegensatz zum umfassenden Körper-und-Geist sehr begrenzt:

Weder die großen Elemente noch die kleinsten Partikel können von den gewöhnlichen Menschen vollständig erkannt werden, aber sie werden in der Erfahrung durch die Heiligen (mit Körper-und-Geist) gemeistert.“

Wer also nicht die im Buddhismus gelehrte Wahrheit und Freiheit erlangt hat, besitzt zwangsläufig nur ein eingeengtes Bewusstsein sowie ein eingeengtes Wahrnehmungsvermögen. Auch die Konzentrationsfähigkeit wird durch die regelmäßige Zazen-Praxis ganz wesentlich verbessert. Ich habe das selbst bei der Entwicklung neuartiger und komplexer Informatiksysteme erfahren.

Es geht also bei der Zen-Praxis nicht um einen Ausstieg aus dem Alltag, um für eine begrenzte Zeit die Wohltaten einer esoterischen, „rein geistigen“ Meditation zu genießen und dann wieder in den alten Stress, die alten Einengungen und Fixierungen zurückzufallen. Der Zen-Buddhismus ist aus meiner Sicht gerade besonders dafür geeignet, das Leben in allen Dimensionen des Körpers und Geistes zu verbessern. Ein elitärer Geist, der sich von allem Körperlichen und Materiellen abgelöst hat und in höheren Sphären schwebt, ist wenig hilfreich.

Auf dieser Basis (ist das ganze Universum) aufgebaut, und dieser Aufbau ist auf dieser Basis verwirklicht.“


Durch das Erlangen der umfassenden Wahrheit bekommt man also sowohl ein umfassendes intuitives Verständnis der Einheit der Welt, die immer aus Körper und Geist als Einheit besteht, als auch die Präzision und Klarheit für das Detail, für die Dinge und Phänomene. Nicht zuletzt sind solche erwachten Menschen durch abstrakte Ideologien kaum zu beeinflussen, und sie laufen keinen charismatischen Verführern nach, die manchmal sogar kriminelle Energie besitzen.

Eine Gehirnwäsche zum Beispiel ist bei solchen Menschen völlig wirkungslos, weil sie den gesagten oder geschriebenen Worten nur begrenzt vertrauen. Außerdem besitzen sie ein präzises Beobachtungsvermögen sowie Kombinationsintelligenz und erkennen, ob zum Beispiel das wirkliche Handeln mit den rhetorisch schön formulierten Zielen übereinstimmt.






[i] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 254, Fußnote 57
[ii] vgl. hierzu: Nishijima, G. W. und Seggelke, Y. J.: Die Kraft der ZEN-Meditation. Im Auge des Zen, Bd. 4

Donnerstag, 16. Oktober 2014

Sind wir von Natur aus Buddha, auch ohne Praxis ?



Dōgen kritisiert in aller Klarheit die Ideologie, dass wir uns nicht anstrengen müssten, da wir ja schon von Natur aus Buddha, also erwacht und erleuchtet seien. Er zitiert dazu den großen Meister Hyakujo, der das Anhaften an dieser oberflächlichen und falschen Lehre als besonders verhängnisvoll bezeichnet. Er selbst hat, wie die Überlieferung berichtet, intensiv und ausdauernd praktiziert und sich auf diese Weise von seinen eigenen Fesseln und seinem eigenen Käfig befreit.

Er bezeichnet die Naturalisten, die aus einer Sicht nicht dem Buddhismus angehörten, schlicht als Müßiggänger. Im Gegensatz dazu habe Hyakujo durch seine intensive Praxis große Verdienste und Tugenden beim Lernen der Wahrheit zum Beispiel für seine Nachfolger erworben. Er sei dadurch in „die Freiheit gesprungen“, wie sich Dōgen ausdrückt. Er bewundert die große Anstrengung und den hohen körperlichen Einsatz von Meister Hyakujo auf dem Weg, die Bodhi-Wahrheit zu erlernen. Seinen Aussagen könne man unbedingt vertrauen.

Solche zielstrebigen und ausdauernden Menschen vergleicht Dōgen mit dem für uns vielleicht etwas eigenartig wirkenden Bild, dass sie wie Kletterpflanzen seien, zum Beispiel Glyzinien, die an einem Baum hochranken. Ich interpretiere das so, dass der Buddha-Dharma einem festen Baum gleicht, der uns Halt gibt, sodass wir zum Licht wachsen und wie die Glyzinie Blütentrauben bilden können.

Dann stellt Dōgen eine Verbindung zum handelnden Bodhisattva und zu berühmten Passagen des Lotos-Sūtra her:
„Manchmal manifestieren (Menschen wie Hyakujo) einen (bestimmten) Körper, um andere zu retten und sie den Dharma zu lehren, und manchmal manifestieren sie (gerade) einen anderen Körper, um (diese Menschen) zu retten und den Dharma zu lehren.“

Er spricht damit das Bodhisattva-Ideal an, das beinhaltet, dass man sich jeweils in der Form oder wie es im Lotos-Sūtra heißt mit dem Körper manifestiert, der für die anderen Menschen jeweils der beste und geeignete ist, um helfen zu können. So hat es zum Beispiel wenig Sinn, einem armen Menschen Lebensmut geben zu wollen, damit er mit seiner Armut fertig wird, wenn man selbst erkennbar reich ist, teure Kleidung trägt oder mit einem Luxusauto vorfährt. Wer anderen Wasser predigt und selbst teuren Wein trinkt, besitzt nur eine geringe Überzeugungskraft, wenn er direkt mit den anderen Menschen zusammenkommt. Daran sollten sich auch unsere christlichen Kirchen halten, deren "Oberschicht" nicht selten dem Luxus frönten. Daher sei es auch sinnvoll, eine bestimmte Form, die dem anderen nicht helfen könnte, gerade nicht zu offenbaren.

Dōgen vertieft dann die körperlich-konkrete Seite des wahren Lernens, das nicht abgehoben in der Studierstube oder in esoterischen Sondersituationen erfolgen kann. Es geht in den konkreten zehn Himmelsrichtungen vor sich, also in den geografischen Dimensionen dieser Welt. Sie bezeichnen die gesamte umfassende Welt und das ganze Universum. Mit diesen konkreten Angaben soll verhindert werden, dass wir in abstrakte, nebulöse Vorstellungen zum Geist abgleiten. In Bezug auf die Sein-Zeit sagt Dōgen zu den Himmelsrichtungen:

„Wir sollten den Augenblick (so) denken, dass seine Vorderseite und Rückseite sowie Länge und Breite vollkommen das Ganze sind.“

Das heißt, dass auch die Lebensphilosophie des Augenblicks ganz konkret und direkt in den zehn Himmelsrichtungen verwirklicht werden muss; theoretische, modellartige Annahmen, zum Beispiel dass die Augenblicke wie Perlen auf einer Kette zu verstehen seien, sollte man vermeiden.