Freitag, 28. Dezember 2007

Die Wahrheit mit Körper und Geist erlernen

In diesem kurzen, aber wichtigen Kapitel des Shôbôgenzô (Kap. 37 Shinjin gakudô) fasst Meister Dôgen wesentliche Aussagen zusammen, die zum Teil schon in anderen Kapiteln genauer und im Einzelnen erläutert wurden.


Tempelanlage in Kamakura


Die Überschrift dieses Kapitels besagt, dass man nach der buddhistischen Lehre die Wahrheit und Befreiung nur dadurch erlernen kann, wenn man sowohl den Geist als auch den Körper schult und sich immer klar darüber ist, dass beide in der Wirklichkeit unauflösbar zusammengehören und eine Einheit bilden.

Während wir in der westlichen Philosophie den Intellekt und Geist meist völlig losgelöst vom Körper des Menschen behandeln, wird eine solche Trennung im Buddhismus als sinnlos rundweg abgelehnt. Wenn Meister Dôgen in diesem Kapitel zunächst den Lernvorgang des Geistes und dann den des Körpers behandelt, hat dies lediglich didaktische Gründe, um die jeweiligen Bereiche möglichst klar darstellen zu können. Die Lehre vom Handeln und Tun hat im Buddhismus eine sehr große Bedeutung und ist für den Befreiungs- und Lernprozess auf dem Buddha-Weg notwendig. Zum Handeln gehören auch immer sowohl der Geist als auch der Körper.

Dôgen stellt an den Anfang seiner Überlegungen unseren klaren Entschluss, dass wir den Buddha-Weg gehen wollen oder, wie es in einem anderen Kapitel heißt, dass wir den "Bodhi-Geist" bei uns erwecken. Auch in den vier edlen Wahrheiten und dem achtfachen Pfad steht am Anfang der Entschluss und die klare Entscheidung, diesen Weg zu gehen, um das Leiden zu überwinden. Dôgen sagt hierzu:

"Wenn ihr euch nicht entschließen könnt die Wahrheit zu erlernen, entfernt sie sich immer mehr von euch."

Er betont damit, dass man durch diesen Entschluss zwar noch nicht zur Wahrheit selbst erwacht, aber dass man ohne eine solche Entscheidung sich in seinem Leben immer mehr verirrt und sich z. B. im Materialismus verliert. Wesentlicher Teil dieses Wahrheitsweges ist moralisches Denken und Handeln und Dôgen zitiert hierzu Zenmeister Nangaku:

"Es gibt die Praxis und es gibt die Erfahrung, aber wenn sie nicht rein sind, kann man (die Wahrheit) nicht verwirklichen."


Die Moral darf natürlich nicht im Denken und bei den Ideen stecken bleiben, sondern muss in Handeln umgesetzt und im Hier und Jetzt verwirklicht werden. Gleichwohl ist der Entschluss zum moralischen Handeln zunächst im Geist und Willen angesiedelt und dies ist dann der Start für ein Leben auf dem Buddha-Weg.
Dôgen geht auf verschiedene Arten des Geistes ein, die nicht zuletzt aus der altindischen Buddha-Lehre in China übernommen wurden: z. B. citta ist Vernunft und Intellekt; hridaya ist das "denkende Herz", in dem Gefühle und mentale Aktivitäten zusammengefasst sind und vriddha ist der konzentrierte und ausgeglichene Geist. Dôgen warnt uns jedoch, dass wir dies rein theoretisch verstehen sollen, sondern sagt:

"Dann erlernt und erforscht ihr sie im tätigen Handeln, das selbst das Erwachen des Bodhi-Geistes ist."

Weiter führt er aus, dass es auf die Gegenwart und den Augenblick beim geistigen Handeln ankommt, wie dies in dem großen Kapitel Sein-Zeit (Uji) von ihm in großartiger Weise dargelegt wird. Der Lernvorgang im Geist soll dabei den Intellekt überschreiten und Dôgen sagt, dass man sowohl durch das Denken als auch durch das Nicht-Denken üben soll. Damit ist zweifellos die Zazen-Praxis angesprochen, die im Shôbôgenzô von zentraler Bedeutung ist. Die Verbindung vom Meister zum Schüler, der dann selbst Meister wird, hat außerdem eine fundamentale Bedeutung, und Dôgen spricht davon, dass dabei „der Geist durch den Geist lernt", dass also der Geist des zukünftigen Meisters von dem des vorherigen im direkten ganzheitlichen Kontakt den geistigen Lernprozess voranbringt und damit das Dharmad-Rad dreht.

Dôgens umfassende Vorstellung vom Geist und der Einheit mit der konkreten Realität wird dadurch deutlich, dass er Berge, Flüsse, die große Erde, Sonne und Mond einbezieht und sich dies alles je im gegenwärtigen Augenblick verwirklicht. Er übersteigt dabei die materielle Sichtweise der äußeren Form, die sich leicht bei den Begriffen "Berg" oder "Fluss" einschleicht. Daher sind geometrische Bezeichnungen wie Innen oder Außen, Groß oder Klein und dergleichen ungeeignet, um diese Einheit von Geist und konkreter Wirklichkeit zu erfassen. Bemerkenswert ist auch sein folgender Satz:

"Ihr solltet deshalb fest darauf vertrauen und annehmen, dass dieser Geist sich auf natürliche Weise von selbst daran gewöhnt, die Wahrheit zu erlernen. Dies nennen wir das Erlernen der Wahrheit mit dem Geist."

Daraus wird sein tiefe Vertrauen zum Buddhismus sichtbar, dass es sich um einen natürlichen Lernvorgang handelt, wenn man auf dem Buddha-Weg das Erwachen oder die Erleuchtung und Befreiung erlebt. Aber nicht eine gewaltige Willensanstrengung ist maßgebend, sondern das dauernde Üben als Handeln selbst, also die Zazen-Praxis als vollkommenes Tun im halben oder ganzen Lotussitz und damit im Gleichgewicht. Das Erwachen ist deshalb auch kein „übernatürlicher“ Vorgang, sondern gerade im Gegenteil, etwas Natürliches, das sich allerdings nach Dôgen nicht ohne Übung und Praxis verwirklichen kann.

Nishijima Roshi empfiehlt in diesem Zusammenhang jedem, zweimal am Tag Zazen zu praktizieren und sich keine Sorgen darum zu machen, ob dies zur Erleuchtung führt oder nicht. Er sagt schlicht, die richtige Zazen-Praxis ist bereits die erste Erleuchtung und es gibt keinen Unterschied zwischen Handeln und einem Ziel, das erreicht werden soll.
Neben der Zazen-Praxis ist das Handeln im Alltag mit den Pflichten und Aufgaben des Menschen ein wesentlicher Teil des Buddha-Weges und des Erlernens der Wahrheit mit dem Geist. Dabei darf man sich nicht entmutigen lassen, wenn es Rückschläge gibt oder wenn der Lernprozess "in Stücke zerfällt", sondern man soll vertrauensvoll in den jeweiligen Situationen seines Lebens nach der Buddha-Lehre handeln. Auch der Angst besetzte Gedanke an den kommenden Tod führt überhaupt nicht weiter, sondern wirkt meist wie ein Hindernis für das Handeln im gegenwärtigen Augenblick, denn das Leben gehört dem Leben und nicht dem Tod.
Im Zen-Buddhismus wird immer wieder die Einheit mit der uns umgebenden konkreten Realität betont. Dôgen zitiert hierzu einen großen Landesmeister, der von einem Mönch gefragt wird:

"Was ist der Geist der ewigen Buddhas?" und er antwortet:
"die Zäune, die Mauern, die Ziegel und die Kieselsteine."

Dies sei nach Dôgen der richtige Weg, um den Geist für die Wahrheit zu schulen und nicht in intellektuelle Spekulationen abzugleiten, sondern es geht um den ausgeglichenen natürlichen Geist in dieser Welt. Er sagt:

"Die Worte sind im Gleichgewicht, der Geist ist im Gleichgewicht und die Welt ist im Gleichgewicht."

Damit ist der erwachte Zustand des Handelns im Hier und Jetzt gemeint, der im Einzelnen in dem großen Kapitel "Das verwirklichte Universum" (Kap. 3, Genjo kôan) dargestellt wird.
Dôgen geht dann auf den Lernvorgang mit dem Körper ein und bezieht sich ganz konkret auf unseren jetzigen Körper, den wir je haben. Das Körperliche ist unverzichtbar für den buddhistischen Weg und wird als wertvoll und äußerst wichtig gesehen. Hierin unterscheidet sich der Buddhismus wie erwähnt von der westlichen Philosophie und auch von vielen Religionen. Dôgen lehnt materialistische und naturalistische Strömungen ab, die den Genuss mit dem Körper in den Mittelpunkt stellen und behaupten, dass es keiner Übung und keines Lernvorganges bedarf, weil man von Natur aus schon rein und frei sei. Dies ist mit der moralischen Lehre und dem moralischen Handeln im Buddhismus überhaupt nicht vereinbar. An anderer Stelle beschreibt Dôgen, dass "der Körper Nagarjunas die Rundheit des Mondes und die Buddhanatur" ist. Der Körper offenbart also den Buddha-Dharma sozusagen parallel zur Sprache der Lehrrede. Es gibt einige Geschichten von großen Meistern, die allein durch Handeln des Körpers ein Sutra für andere vortragen, ohne es im herkömmlichen Sinn zu lesen. Die helfenden Bodhisattvas werden so beschrieben, dass sie jeweils einen Körper annehmen, der für die Hilfe der anderen richtig und nützlich ist, und hiermit wird der Körper in den Dienst des Bodhisattva-Handelns gestellt. Der Lernvorgang zur Wahrheit soll mit dem ganzen Körper vollzogen werden und dies überschreitet die Selbstsucht des Ich. Nach buddhistischer Vorstellung besteht der Körper aus den vier materiellen Elementen Erde, Feuer, Wasser, Luft und aus den fünf Komponenten (Skanda). Dôgen sagt hierzu:

"Dies ist die Wahrheit, dass der wahre Körper des Menschen das ganze Universum der zehn Richtungen ist."

Mit dem Körper handelt man selbst aktiv oder lässt etwas geschehen, das in die Umgebung und Situation eingebettet ist. Im Handeln selbst liegt die Wirklichkeit und Wahrheit und man sollte sich vor Bewertungen wie Richtig oder Falsch, Echt oder Unecht, Recht oder Unrecht usw. hüten. Dôgen sagt, dass das Leben des Körpers den Tod nicht behindern soll und dass umgekehrt auch der Tod nicht das Leben behindert.
Am Ende dieses Kapitels zitiert Dôgen einen großen Meister mit folgendem Gedicht:

"Das Leben ist die Verwirklichung der Dynamik des ganzen Universums.
Der Tod ist die Verwirklichung der Dynamik des ganzen Universums.
Sie erfüllen den ganzen Raum.
Der reine Geist ist immer im Augenblick."


Diese tiefgründigen Worte sollen wir nach Dôgen gründlich erforschen und erfahren, was damit gemeint ist. Dies bezieht sich nicht zuletzt auf das tägliche Handeln jedes Menschen, der in Pflichten und Aufgaben eingebunden ist. Es bringt nichts, wenn er in idealistischen Vorstellungen von Paradies und Nirwana lebt, denn in der Wirklichkeit hat er es im Hier und Jetzt mit der ganzen Breite der Wirklichkeit zu tun. Dôgen rät uns dringend, die erlernten Theorien wieder abzuschütteln und unmittelbar im Gleichgewicht zu leben und zu handeln.

Samstag, 22. Dezember 2007

Die drei Welten der Ideen, der Formen und des Handelns sind der umfassende Geist

In diesem kurzen, aber sehr inhaltsreichen Kapitel des Shôbôgenzô (Kap. 47, Sangai yuishin) unterstreicht Meister Dôgen in aller Klarheit, dass auch die Welt der Formen und damit des Materiellen zum Geist des Buddha-Dharma gehören.

Emai Shan in China

Nach der alten indischen Tradition gliedern sich die drei Welten des Universums, also der gesamten Welt und des Lebens, in die drei Bereiche: Ideen/Denken, materielle Formen/Fühlen und die Welt der Nicht-Formen, die Dôgen als Handeln versteht. Genau genommen gibt es jedoch nur eine einzige umfassende Welt, sodass die Unterteilung in diese drei Welten lediglich erklärenden und pädagogischen Charakter hat und wie Dôgen hier ganz deutlich macht, keine Unterteilung und Trennung der Wirklichkeit selbst ist, wie dies im üblichen Sinn durch das gewöhnliche subjektive Denken suggeriert wird.

Hier geht es Dôgen vor allem um die Welt der Formen und des Materiellen und deren Einheit mit dem umfassenden Geist. Unsere Vorstellungen vom Universum, also von der sichtbaren und unsichtbaren Materie im Weltraum, hat meistens das Materielle im Auge, aber schon bei der naturwissenschaftlich nachgewiesenen Energie, die nach heutiger Kenntnis etwa Dreiviertel des Universums ausmacht, ist der Begriff der Materie nicht mehr ganz korrekt, weil Energie sich in Materie umwandeln kann. Das heißt aber nichts anderes, als dass unsere üblichen Vorstellungen von festen materiellen Dingen, aus denen die Welt angeblich besteht, nur von begrenzter Aussagekraft und eingeschränktem Wahrheitsgehalt sind.
Meister Dôgen zitiert Shakyamuni Buddha wie folgt:

"Die drei Welten sind nichts anderes als der eine Geist, neben dem Geist gibt es nichts anderes. Buddha und die Lebewesen- diese drei sind ohne Unterschied."

Wie schon in anderen Kapiteln des Shôbôgenzô darf man den Geist nicht wie in der europäischen Philosophie oder in der Umgangssprache üblich als etwas Immaterielles verstehen, dann wäre der Geist weitgehend identisch mit dem Denken und Bewusstsein, oder auch mit einem gedachten Weltgeist wie bei Hegel. Eine solche Trennung von Geist und Körper führt aus Sicht des Buddhismus in die Sackgasse, denn zur Wirklichkeit der Welt gehören nicht nur die Ideen und Vorstellungen, sondern auch die Form und Materie und das Handeln. Wenn das Gleichgewicht oder die Erleuchtung wirksam ist, eröffnet sich die Einheit dieser sog. drei Welten und genau dies ist der hier angesprochene buddhistische Geist.
Dôgen sagt hierzu:

"In diesem (obigen) einen Gedicht ist die Kraft und Anstrengung von Buddhas ganzem Leben gebündelt. Die Kraft und Anstrengung seines Lebens ist das vollkommene Ganze der Dynamik des ganzen Universums." Und weiter: "Deshalb sind die Worte des Tathagata, dass die drei Welten nichts anderes als der eine Geist sind, die ganze Verwirklichung des Tathagata (selbst); sie sind das Ganze seines Lebens und sind in diesem Gedicht zusammengefasst."

Es wird dann weiter ausgeführt, dass es außerhalb dieses Geistes, der mit den drei Welten identisch ist, nichts anderes gibt und geben kann und dass die drei Welten in der Wirklichkeit vorhanden sind, das heißt, auch die materielle Dimension ist wesentlicher Teil dieser Wirklichkeit. Um diese Lebensphilosophie der Dinge, der Vielfalt in der Welt und der Materie geht es Dôgen besonders in dem hier behandelten Kapitel. Mit dieser zweiten Lebensphilosophie der Form und Materie ist nach Nishijima Roshi die Wahrnehmung unauflösbar verbunden. Hierbei kommt dem Sehen wiederum eine große Bedeutung zu. Außerdem sind die sinnlichen Genüsse ein wichtiger Teil dieser Lebensdimension, da sie mit unseren Sinnesorganen und deren Reizungen fest verbunden sind. Der im Buddhismus hoch geschätzte mittlere Weg als Möglichkeit, das Leiden und die Katastrophen in unserem Leben entweder ganz zu vermeiden oder in der Folgewirkung wesentlich abzumindern, besteht gerade darin, dass man sich nicht den extremen Leidenschaften der Sinnesreizungen hingibt und dass man auch im Bereich der Ideen und Vorstellungen nicht zu Extremen neigt. Diese entarten nämlich oft unbemerkt und werden dann zu Ideologien, die viel Unheil bei den Menschen und in der Welt anrichten.

Die Wirklichkeit der drei Welten sehen wir "einerseits durch das alte Nest der Gewohnheiten und andererseits in jedem Augenblick frisch und neu." Im alten China wurde der Begriff "Nester" für gedankliche Verstrickungen und festgefahrene Vorstellungen verwendet, die nicht zuletzt durch Ideologien und Vorurteile bestimmt sind. Es ist ein erklärtes Ziel des Buddha-Weges, sich aus diesen Nestern zu befreien, die Verstrickungen zu lösen und abzuschütteln und daraus zu erwachen. Dabei ist die Übungspraxis des Zazen eine nach Dôgen und Nishijima Roshi eine ausgezeichnete Methode, um das Bewusstsein im Shikantaza von Gedanken und aufgeladenen Emotionen zu befreien. Dann hat man den Eindruck, dass man den Körper fallen lässt. Dadurch öffnet sich das „Tor zum Frieden und zur Freude“ der Wahrheit des Buddha-Dharma. Dôgen sagt weiter:


"Die drei Welten zu benutzen, um den (Bodhi) Geist zu erwecken und zu schulen und uns die Wahrheit und Nirwana erfahren zu lassen, ist nichts anderes als Buddhas Besitz." Dôgen zitiert dann auch Shakyamuni Buddha: "Die drei Welten hier und jetzt sind alle mein Besitz und die Lebewesen darin sind alle meine Kinder."

Mit den Kindern wird auf das Gleichnis im Lotus-Sutra hingewiesen, in dem die spielenden Kinder von dem Vater aus dem brennenden Haus gerettet werden, weil er sie überreden kann, das Haus zu verlassen und in die schön geschmückten Kutschen einzusteigen. Dies ist das Symbol für die Befreiung durch die Buddha-Lehre und es kennzeichnet die Sorgen und die Liebe des Vaters, um aus der brennenden und lodernden Welt der Extreme und Emotionen heraus zu kommen. Damit ist aber keine Weltflucht gemeint, sondern das Erwachen zur Wahrheit und Wirklichkeit in dieser Welt, die Dôgen hier als die drei Welten bezeichnet. Dôgen sagt weiter:

"Die Wirklichkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft behindert nicht das Hier und Jetzt, und das wirkliche Hier und Jetzt wird nicht durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingeschränkt."

Mit dem Hier und Jetzt ist die Sein-Zeit des Augenblicks und das Unmittelbare des hiesigen Ortes gemeint, also die existenzielle Erfahrung im Leben als direktes Handeln im Augenblick und in der Gegenwart. In diese Gegenwart wirkt zwar die Vergangenheit durch das Gesetz von Ursache und Wirkung hinein, ist aber in der ganzen intuitiven Fülle der Wirklichkeit ohne unterscheidendes Denken gegenwärtig. Die existenzielle Sein-Zeit wird als wahre Wirklichkeit nicht durch die gedachte Vergangenheit oder erwartete Zukunft behindert oder, wie es hier heißt, eingeschränkt. Dôgen legt großen Wert darauf, dass sowohl die Sein-Zeit im gegenwärtigen Augenblick existiert und dass auch das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht zuletzt beim moralischen Handeln die Wirklichkeit selbst ist. Er arbeitet in einem gesonderten Kapitel über das Gesetz von Ursache und Wirkung heraus, dass es keinesfalls vertretbar ist, dies beiseite zu lassen oder gar abzulehnen. Er distanziert sich damit eindeutig von einigen Strömungen im Zen-Buddhismus, die behaupten, dass ein Erleuchteter nicht mehr unter das Gesetz von Ursache und Wirkung fällt.

Dôgen behandelt in diesem Kapitel vor allem den an die Form gebundenen Bereich der Wirklichkeit und Nishijima Roshi ordnet es in einer Gruppe von insgesamt vier Kapiteln zu materiellen Thema zu. Dôgen sagt hierzu:

"Deshalb sind die Blüten und Früchte aller Dinge Buddhas Besitz, und die großen Felsen und kleinen Steine sind Buddhas Besitz. Es gibt das friedvolle Verweilen im Wald und in den Feldern, der Wald und die Felder sind schon frei."

Damit ist die Natur in ihrer ganzen Schönheit und Kraft angesprochen, aber nicht nur die Blumen und Bäume sondern auch die Felsen und Kiesel. In einem anderen Kapitel wird herausgearbeitet, dass die Natur den wahren Buddha-Dharma lehrt und diese Natur wird dort als "nicht empfindende Wesen" bezeichnet. Auch alle Lebewesen sind Teil der drei Welten und außerhalb dieser drei Welten gibt es nichts, denn dies wäre auch keine Wirklichkeit. So offenbaren sich die drei Welten und insbesondere die Welt der Formen und der Sinnesreizungen in diesem Sinne. Dôgen zählt hier häufig folgendes auf: Hecken, Mauern, Ziegel, Kieselsteine, Berge, Flüsse und die ganze Erde, aber vor allem geht es um


"die Haut, das Fleisch, die Knochen und das Mark und (Buddhas) Emporaliten einer Blume und (Mahakashyapas) lächelndes Gesicht."

Damit wird auf den großen Meister Bodhidharma, der den wahren Buddhismus nach China brachte, hingewiesen und auf die Symbolik des wortlosen Hochhaltens einer Blume durch Shakyamuni Buddha bei der Dharma-Übertragung auf seinen Nachfolger Mahakashyapas. Die aufgezählten Begriffe bezeichnen scheinbar materielle und formgebundene Dinge, haben aber in Wirklichkeit eine umfassende und viel tiefer gehende Bedeutung in der Buddha-Lehre.
Auch die Farben wie Blau, Gelb, Rot und Weiß oder Formen wie Lang, Kurz, Eckig oder Rund sind Teil der genannten Lebensdimension und gehören zu dem hier gemeinten umfassenden Geist, der mehr als die Wahrnehmung, das Denken und das Bewusstsein ist. Dôgen sagt hierzu:


"Der Geist ist das Spritzen des Wassers, der Schaum und die Flamme, der Geist ist die Frühlingsblume und der Herbstmond. Die sich ständig verändernden Augenblicke sind Geist. Weil dieser Geist niemals zerstört werden kann, ist er die wirkliche Form aller Dharmas."

Anschließend zitiert Dôgen ein berühmtes Koan-Gespräch zwischen dem älteren Meister Gensa und dem jüngeren Meister Keichin, das auch in seiner Koan-Sammlung enthalten ist und dort von Nishijima Roshi erläutert wird. Man muss wissen, dass Meister Gensa in besonders klarer Weise zwischen Fantasien und Spekulationen einerseits und der Wirklichkeit andererseits unterschieden hat und dies in den Koan-Geschichten von ihm wiedergegeben wird. Das folgende Koan erscheint zunächst kaum verständlich und zumindest sehr eigenartig zu sein, es lautet wie folgt: Der große Meister Gensa fragte:

"Wie verstehst Du, dass die drei Welten nichts anderes als der Geist sind?"
Der jüngere Meister Keichin antwortete nicht direkt auf diese Frage und zeigte auf einen Stuhl, indem er seinerseits fragte:

"Wie bezeichnest Du dies, Meister?" Gensa antwortete:
"Als einen Stuhl." Der jüngere Meister Keichin sagte dann:

"Du verstehst nicht, dass die drei Welten nichts anderes als Geist sind."
Der große Meister Gensa setzte trotzdem das Gespräch fort: "Ich bezeichne dies als Bambus und Holz, wie bezeichnest Du es?"
Der jüngere Keichin sagte: "Auch ich bezeichne dies als Bambus und als Holz."

Dann fügte der große Meister Gensa hinzu:

"Es ist unmöglich einen Menschen zu finden, der den Buddha-Dharma versteht, selbst wenn wir ihn auf der ganzen Erde suchen."

Was soll diese Koan-Geschichte ausdrücken und worum geht es eigentlich dabei? Wenn man ganz genau überlegt, sind die Dinge und die materiellen Gegebenheiten in diesem Fall durch die Begriffe „Bambus“ und „Holz“ gekennzeichnet. Dagegen ist die Bezeichnung „Stuhl“ schon eine Abstraktion und Erweiterung, denn damit ist vor allem die Funktion des Sitzens gemeint und nicht allein das Holz und der Bambus als Material. Durch die Funktion und Bestimmung eines Stuhles wird also der Bereich der Zwecke, der Gedanken und Funktionen angesprochen und wir befinden uns dann nicht mehr im Bereich der Dinge und der Materie.


Eine solche Unterscheidung ist typisch für die Koan-Geschichten, die von Meister Gensa berichtet werden. Nishijima Roshi bezeichnet bekanntlich den Bereich der Ideen, Funktionen und Zwecke als die erste Lebensphilosophie des Idealismus. Dôgen möchte hier aber auf die reine Dinglichkeit und das Materielle abheben und erläutert uns, dass diese Dimension eine der drei Welten ist und diese mit dem Geist im buddhistischen Sinne zusammenfällt. Dass der alte Meister Gensa zunächst den Stuhl erwähnt, kann man als eine Art Falle in diesem Koan-Gespräch ansehen und der jüngere Meister Keichin sagt auch richtiger Weise, dass Gensa nicht verstehen würde, dass die drei Welten nichts anderes als Geist seien und verfängt sich nicht in der aufgestellten Falle.


Beide Meister sind sich einig, dass der Bezug zum Bambus und das Holz genau richtig ist, wenn man die Welt der Formen und der Materie ansprechen will. Dies ist in der Tat für einen Menschen aus dem Westen nicht einfach zu verstehen, dass die Dinge und Materie, also z. B. die Felsen, das Wasser, die Bäume, Hecken und Gräser, nach der buddhistischen Lehre auch der Geist sind.
Wie ist nun der berühmte letzte Satz von Meister Gensa zu verstehen, dass man auf der ganzen Erde keinen Menschen finden würde, der den Buddha-Dharma versteht? Mit dem Begriff "verstehen" ist hier der intellektuelle Verstand gemeint, mit dem man in der Tat allein die Lehre des Buddhismus nicht erfassen kann. Dazu ist die Intuition für den Geist der Buddha-Lehre erforderlich, denn mit dem Denken und den verstandesmäßigen Unterscheidungen kann man die ganzheitliche buddhistische Lehre unmöglich verstehen. Der letzte Satz gehört zur vierten umfassenden Lebensphilosophie, die wir Erwachen, Erleuchtung, Gleichgewicht oder Leerheit nennen.

Dôgen bittet uns dann, dieses berühmte Koan-Gespräch nicht einfach als gegeben hinzunehmen, sondern selbst Fragen zu stellen, um tiefer einzudringen. Wenn der große Meister Gensa sagte:


"Ich bezeichne dies als Bambus und Holz", so sagt Dôgen:
"Ihr solltet diese einzigartige Aussage bis zu Ende erfahren, bevor und nachdem ihr sie gehört habt."
Wir sollen also keineswegs gläubig den alten Lehren der großen Meister und denen von Dôgen selbst folgen und sie vielleicht auswendig lernen und sie hersagen können, sondern wir sollen sie durch vielfältige tief gehende Fragen untersuchen. Wenn Meister Gensa am Ende sagte, dass es keinen Menschen geben würde, der den Buddha-Dharma mit dem Intellekt versteht, so bedeutet dies natürlich auch, dass wir das Thema dieses Kapitels: "Die drei Welten sind nichts anderes als der Geist" nicht intellektuell verstehen können.


Wir müssen dies also in der Praxis erfahren und vertiefend erforschen und dabei kann der Verstand nicht isoliert werden, wie dies in der westlichen Philosophie und der Wissenschaft häufig der Fall ist. Die Praxis ist unauflösbar mit dem Handeln im Hier und Jetzt verbunden und ohne Moral kann es keine buddhistische Lehre und kein Leben auf dem Buddha-Weg geben.

Donnerstag, 20. Dezember 2007

Die verschiedenen Arten des sozialen Handelns eines Bodhisattvas

Im Buddhismus ist das praktische Handeln zwischen den Menschen und überhaupt im sozialen Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung und wird mit dem Begriff "Bodhisattva-Handeln" gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass man anderen hilft, sie nicht mit Worten verletzt oder erniedrigt, dass man harmonisch und wirkungsvoll zusammenarbeitet und großzügig anderen etwas gibt, ohne dabei letztlich den eigenen Vorteil im Auge zu haben. Wörtlich übersetzt heißt Bodhisattva ein „Wesen auf dem Buddha-Weg, das nach der Wahrheit strebt“, also erwacht ist. Ein solcher Mensch hat das egoistische Handeln zum eigenen Vorteil überwunden, weil dies letztlich niemals zu einem guten Leben führt. Dôgen sagt im Kapitel „Die vier Arten des sozialen Handelns der Bodhisattvas“ (Kap. 45, Bodaisatta shishôbô) im Shôbôgenzô:

"Großzügig zu geben bedeutet, nicht gierig zu sein. Nicht gierig zu sein bedeutet, nicht nach Ruhm und Gewinn zu streben, nicht nach Ruhm und Gewinn zu streben bedeutet im Alltäglichen, dass man sich keine Vorteile (z. B.) durch Schmeichelei verschafft.“

Es wird dann ausgeführt, dass man auch denjenigen Menschen großzügig etwas geben soll, die man eventuell gar nicht kennt und dass man nicht auf sich selbst aufmerksam machen sollte, wenn man jemandem etwas zukommen lassen will, das ihm wichtig ist oder ihm nützt. Es muss sich dabei nicht um wertvolle oder kostbare Dinge handeln, sondern manchmal ist es eine Blume vom Wegesrand, ein kleines Geschenk von unterwegs und nicht zuletzt ein Lächeln, das man geben kann. Dôgen betont, dass man die Eigenschaft, großzügig zu geben, eigentlich von Natur aus schon hat, dass sie nur durch Egoismus und Ich-Bezug überdeckt und verzerrt ist.

Man sollte dabei vor allem den natürlichen Lauf der Dinge und den Herz-Geist unterstützen und durch Geschenke keine Verwirrung stiften; denn übertriebene Geschenke können auch Unheil anrichten, sodass sich die Menschen, die man eigentlich unterstützen wollte, zum Negativen entwickeln. Zum Beispiel könnte sich die Gier der Empfänger verstärken, und wer zu viel bekommt, kann immer gieriger werden. Dann verdunkelt sich sein Geist und die Kritiksucht macht sich breit. Durch das Geben sollten sich vielmehr die Menschen verbinden und eine zwischenmenschliche Einheit bilden.
Vor allem sollten die Schätze des Buddha-Dharma großzügig und ohne Gegenleistung gegeben werden. Dies kann z. B. nur aus einem gut gewählten und helfenden Wort bestehen. Wichtig ist, dass sich alles nach den Bedürfnissen des Empfängers richtet und dieser sich wirklich darüber freut. Beim Geben ist besonders wichtig, keine Belohnung zu erwarten und nicht enttäuscht zu sein, wenn man keine Dankbarkeit erhält.
Dôgen sagt wörtlich:

"Da ihr auf natürliche Weise bereits die Eigenschaft des Gebens besitzt, habt ihr euch selbst so empfangen, wie ihr jetzt seid. Der Buddha sagte, dass man den eigenen Körper empfangen und benutzen sollte."

Dies gilt natürlich besonders im engeren Kreis der Familie, also gegenüber den Eltern, Partnern, Kindern und anderen Verwandten und auch den Freunden, die durch die Hilfe beschenkt werden. Gerade kleine Geschenke können oft große Freude auslösen. Dôgen erwähnt in diesem Zusammenhang besonders, dass durch großzügiges Geben sich der Geist eines Menschen erstaunlich zum Positiven verändern kann, auch wenn der Geist häufig festgefahren und unbeweglich ist. Dôgen sagt:

"Großzügig zu geben bedeutet, dass wir schon beginnen, den Geist der Lebewesen zu verändern, und wir wollen ihren Geist solange verändern, bis sie die Wahrheit erlangt haben." Und weiter: "Dennoch verändert der Geist gelegentlich die Dinge und es gibt das großzügige Geben, wodurch Dinge den Geist verändern."

Er sagt also damit, dass man durch geschenkte Dinge den Geist dazu bringen kann, dass er sich öffnet und bewegt und dass ein beweglicher Geist auch die Dinge und die gesamte Situation fast wie durch ein Wunder verändert.
Für Dôgen ist es sehr wichtig, dass man "gütig und wohlwollend redet" und dass sich auch im Reden Mitgefühl und Wohlwollen ausdrückt. Verletzende und grobe Worte sollen auf jeden Fall vermieden werden, auch wenn es unterschiedliche Meinungen und Ansichten gibt. Wenn die eine Seite aggressiv und erniedrigend redet, solle die andere Seite sich davon nicht anstecken lassen und nicht darauf eingehen. In der Tat sehen Menschen, die sich streiten, eher wie Dämonen aus und verlieren eigentlich ihre menschliche Seite. In Ostasien wird die Höflichkeit beim Reden und Handeln sehr hoch geschätzt und erfahrungsgemäß lassen sich dadurch viele Kontroversen und Auseinandersetzungen vermeiden. Dôgen sagt:

"Ihr solltet die Tugendhaften loben und mit denjenigen Mitgefühl haben, die keine Tugend besitzen."

Das ist im praktischen Handeln des Alltags, im Beruf und in der Familie sicher nicht so einfach und wird aber auch im Christentum durch die Aussage "liebet eure Feinde" ausgedrückt, allerdings ist die Forderung der Liebe sicher noch schwerer zu erfüllen als die des Mitgefühls, der freundlichen Rede und des sanften Umgangs. Wir wollen daran erinnern, dass im Buddhismus gütiges Handeln und moralisches Verhalten auch beim Reden als der natürliche Zustand angesehen werden, während verletzende und böse Worte als unnatürlich und künstlich bezeichnet werden. Man sollte immer versuchen, die Feinde im Guten zu überzeugen und nicht zu bekämpfen, sodass sie ihre Härte und Aggressivität wie von selbst verschwinden lassen können. Bei Freunden geht es darum, eine gute Harmonie zu erzeugen, sodass sich alle wohlfühlen. Dôgen drückt dies wie folgt aus:

"Denkt daran, dass gütige und wohlwollende Worte aus einem gütigen und wohlwollenden Geist-Herz kommen. “Er sagt weiterhin, dass ein derartiges gütiges Reden "die Kraft und die Macht hat, den Himmel zu bewegen."

Was für das Reden gilt, ist auch richtig für das Handeln und gemeinsames Tun. Die Zusammenarbeit bei sinnvollen Aufgaben wird im Buddhismus sehr hoch geschätzt und Nishisjima Roshi betont gern, dass im Handeln selbst am besten zur Wirklichkeit und Wahrheit vorgestoßen werden kann. Wenn dies gemeinsam geschieht, befriedigt das alle außerordentlich, und gemeinsames Handeln kann mehr verbinden als wortreiches Reden, das bekanntlich auch überraschend schnell zu Differenzen führen kann. Dabei sollte nicht unterschieden werden, ob der andere, für den man etwas tut, einen hohen oder einen niedrigen Rang hat und es ist wichtig, sich eine möglichst klare Vorstellung von der guten zukünftigen Entwicklung zu machen und das Handeln darauf auszurichten. Dôgen sagt hierzu:

"Nur unwissende Menschen meinen, dass ihr eigenes Wohl beeinträchtigt wird, wenn sie das Wohl anderer über das eigene stellen."

Hiermit ist das Gute des Bodhisattva-Handelns klar ausgedrückt. Wer nur zum eigenen Vorteil und aus egoistischen Motiven handelt, wird letztlich dabei nicht glücklich und entspannt werden, sondern im Gegenteil, verengt seinen Geist und sein Herz und schadet dann irgendwann hauptsächlich sich selbst. Anderen durch eigenes Handeln sinnvoll zu helfen, ist nach buddhistischer Lehre also für den handelnden Menschen selbst das Beste und bedarf eigentlich gar keiner großartigen Überwindung. Die eigenen vorgestellten angeblichen Nachteile sind eigentlich immer nur durch einen verengten egoistischen Geist erzeugt und entsprechen meist gar nicht der Wirklichkeit.
Dôgen sagt weiter:
"Mit anderen gut zusammenarbeiten bedeutet, nicht gegen sie zu sein."
Durch das Handeln soll also kein Widerspruch und Konflikt entstehen oder gar bewusst erzeugt werden, denn ein solches Handeln ist keine Zusammenarbeit, sondern das genaue Gegenteil. Dabei ist auch die Umgebung und die gesamte Situation der Zusammenarbeit wesentlich, auch die sollte man so weit wie möglich positiv gestalten. Dôgen fährt fort:

"Der Mensch ist der Freund des Menschen, die himmlischen Wesen sind die Freunde der himmlischen Wesen und die göttlichen Wesen sind die Freunde der göttlichen Wesen."

Durch eine gute Zusammenarbeit werden die trennenden Grenzen zwischen den Menschen abgebaut und aufgehoben, sodass ein gemeinsamer Geist für die gemeinsame Aufgabe entsteht. Dies gilt auch und nicht zuletzt für die Zusammenarbeit eines Herrschers mit seinen Bürgern oder der Vorgesetzten mit ihren Mitarbeitern. Auch wenn Mitarbeiter heimlich ihre Vorgesetzten missachten, andererseits aber von ihnen geachtet werden wollen, kann dies auf die Dauer nicht gut gehen.
Schließlich ist zu bemerken, dass die verschiedenen Bereiche der zwischenmenschlichen Beziehungen und des sozialen Handelns nicht jeweils isoliert von einander zu sehen sind, sondern miteinander verbunden wirksam werden. Dadurch entsteht eine Vielfalt positiver Möglichkeiten des Gebens, des Redens, des Handelns und der Zusammenarbeit, die allen zugute kommt.

Dienstag, 18. Dezember 2007

Das Universum ist dynamisches Handeln

Aus buddhistischer Sicht und Erfahrung kann man sagen, dass diese Welt, das Universum und das Leben die Verwirklichung alles Handelns und aller Aufgaben sind. Das hört sich sicher etwas weit hergeholt an, ist es aber eigentlich gar nicht. Was ist damit gemeint und was will uns Dôgen damit sagen?
Kinder vor dem großen Buddha in Kamakura


Dieses dynamische Ganze, z. B. unseres Lebens, ist wirklich nichts Statisches, sondern es beruht auf dem Handeln je im Augenblick, indem wir unsere Aufgaben und Verpflichtungen in dieser Welt wahrnehmen und auf natürliche Weise moralisch handeln. Wenn wir leben, handeln wir automatisch, selbst wenn unser Verstand etwas festhalten will oder aufgeladene Emotionen uns wie in einem Gefängnis eingemauert haben. Ein solches Handeln im Augenblick soll nicht von düsteren Gedanken des Todes oder von anderen Ängsten überschattet werden, denn das Handeln vollzieht sich im Hier und Jetzt der Gegenwart und nur dies ist die Wirklichkeit, und dann sind wir frei. Die große Wahrheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist Befreiung und sie ist Verwirklichung, wenn diese handelnd gemeistert wird.
Dann befreit das wahre Leben unser bisheriges Leben und der wahre Tod befreit uns von den Ängsten des Todes. Auf diese Weise meistern wir in der Wahrheit Leben-und-Tod. Gerade im Augenblick je in der Gegenwart wird so das Leben gemeistert. Dies überschreitet Begriffe und Vorstellungen wie Groß und Klein und sogar der großen und der begrenzten Welt. Die üblichen Maße für die Zeit, dass z. B. etwas lang oder kurz andauert, haben keine Bedeutung und lösen sich auf. Das Leben ist dann auch kein gedachter Prozess des Erscheinens und Vergehens oder die Erwartung der zukünftigen Verwirklichung der Erleuchtung. Die Welt offenbart sich als dynamisches Handeln, indem wir praktizieren, unsere Aufgaben wahrnehmen und unseren Verpflichtungen gerecht werden. Dies schließt auch die vielfältigen materiellen Dinge und Zusammenhänge um uns herum ein, aber wir sollten dies nicht einfach leichtgläubig hinnehmen, sondern gründlich bedenken. Jedes einzelne Ding, jeder einzelne Dharma und jeder Augenblick ist Teil des Lebens. Dôgen sagt hierzu:

"Es gibt keinen einzigen Augenblick und keinen einzigen Dharma, der nicht das Leben ist, und es gibt keine einzige Tatsache und keine einzige Funktion des Geistes, die nicht das Leben ist."

Dogen gibt dann ein sehr aufschlussreiches Gleichnis von einem Segelboot auf dem Meer, das von den Menschen im Boot bedient wird und dadurch mit dem Wind im Wasser vorwärts kommt. Er sagt:

"Das Leben kann damit verglichen werden, dass zum Beispiel ein Mensch in ein Boot steigt: In diesem Boot setze ich den Mast, ich führe das Ruder und ich bediene das Segel. Ich werde von dem Boot getragen und es gibt (eigentlich) kein Ich, sondern nur (mein Handeln mit) dem Boot. Durch mein Handeln mit dem Boot wird dieses Boot erst zu einem (wirklichen) Boot."

Hier wird also keinesfalls gesagt, dass es um die Gegenstände wie das Boot, das Ruder, das Segel, den Mast usw. geht, die von einem Menschen bedient werden, denn damit wäre eine Trennung der Objekte von dem handelnden Subjekt behauptet. Sondern Dôgen sagt ganz klar, dass erst durch das gesamte Handeln im Zusammenhang das Boot mit dem Menschen zu einem wirklichen Boot wird. Er sagt:

"Der Himmel, das Wasser und die Küste kommen zusammen und werden der Augenblick des Bootes. Und diese unterscheiden sich ganz eindeutig von anderen Augenblicken abseits vom Boot.“

Das Leben ist also das, was ich tue und mache, und auch ich bin das, was ich mache. Das Ich besteht also aus Augenblicken des Handelns im sinnvollen Ganzen und es existiert nicht als dauerhafte getrennte Entität, die quasi wie ein Ding gedacht wird, aber eine Seele besitzt. Damit verblüfft uns Dogen mit der Aussage, dass wir aus Handlungs-Elementen je im Augenblick bestehen.
Ein alter Meister sagte:
"Das Leben ist die Offenbarung und Verwirklichung der Welt des Handelns und aller Funktionen; der Tod ist die Offenbarung und Verwirklichung aller Handlungen und Funktionen."

Es geht dabei nicht um den Beginn oder das Ende der Welt oder meines Lebens, sondern es geht um die Gegenwart, in der sich das Handeln als Welt und als Ich offenbart und verwirklicht. Die Welt baut sich sozusagen aus Handlungs-Elementen auf, die sich dynamisch verändern und je in der Wirklichkeit existieren. Dogen bittet uns, dies gründlich zu erfahren und zu erforschen und nicht einfach gläubig hinzunehmen. Wenn wir nur im Kopf denken, dass die Erde eine Einheit ist und dass der Raum eine Einheit ist, so liegen wir falsch. Solche Gedanken und solche Worte entspringen nur dem Gehirn und sind nicht die Wirklichkeit im Hier und Jetzt. Die Wirklichkeit und Dynamik des Universums besteht jenseits von Vorstellungen, Hoffnungen und Ängsten des Lebens und des Todes. Diese wirkliche Welt als Leben und Tod existiert,

"wenn zum Beispiel ein starker Mann seinen Arm beugt und anspannt und wenn ein Mensch im Schlaf die Hand nach hinten ausstreckt und nach seinem Kissen greift."

In dieser Welt des dynamischen Handelns gibt es wunderbare Kräfte und große Klarheit und Schönheit. Die Welt entwickelt ihre ganze wunderbare Kraft im gegenwärtigen Augenblick, auch im vorherigen Augenblick gab es eine solche Offenbarung und Verwirklichung, aber dies können wir nur erinnern und nicht erleben und erfahren. Dôgen sagt zum Abschluss dieses kurzen, aber außerordentlich inhaltsreichen Kapitels, dass das hier Gesagte dringend darauf wartet, dass es verwirklicht wird.

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Die Kunst, eine Bambus-Flöte zu spielen

Die japanische Bambusflöte des Zen hat die Bezeichnung "Shakuhachi" und besteht aus einem Bambusrohr mittlerer Dicke, deren Nodien durchstoßen worden sind, sodass ein durchgehendes Rohr aus Bambus entsteht.

Das Mundstück ist eine einfache geschärfte Blaskante, die in der richtigen Weise und mit der richtigen Lippenspannung angeblasen wird, damit der Ton entsteht. Die japanische Zen-Flöte hat fünf Löcher, vier auf der Oberseite und eine unten für den Daumen, beruht also grundsätzlich auf einem System von fünf Tönen, also der Pentatonik. Viele alte Musikstücke und Lieder früherer Kulturen haben diese Pentatonik als musikalische Grundlage. Dies gilt zum Beispiel auch für die Indios in Südamerika und ihre Musik. Deren Flöte (Kena) hat sogar gewisse Ähnlichkeiten mit der japanischen Shakuhachi. Daraus wird auch die alte Verwandtschaft der amerikanischen Indianer mit ostasiatischen Völkern nicht zuletzt aus Japan deutlich.
Der Name „Shakuhachi“ bezeichnet eine Länge der Flöte von 1,8 japanischem Fuß, das entspricht etwa 54 cm. Die heutigen Shakuhachi-Flöten sind allerdings länger, meine eigene hat z. B. eine Länge von knapp 2,4 Fuß, dies entspricht etwa 72 cm.
Die abgebildete Flöte wurde von Ikkei Hanada, meinem damaligen Shakuhachi-Lehrer gebaut, er hat auch die Noten geschrieben.

Eine solche buddhistische Zen-Flöte zu spielen nennt man in Japan auch den "Bambusweg". Dieses Flötenspiel ist also eine buddhistische Kunst wie etwa das Bogenschießen, das Blumenstecken, der Schwertkampf usw. Obwohl oder gerade weil die Bambusflöte eigentlich ein sehr urtümliches, um nicht zu sagen, achaisches Instrument ist, hat sie eine außerordentlich große Vielfalt und Breite von Ausdrucksmöglichkeiten, je nach dem wie man sie anbläst. Man kann die Tonhöhe dadurch stufenlos verändern, dass man die recht großen Löcher nur teilweise mit dem Finger abdeckt oder indem man die Flöte aus verschiedenem Winkel anbläst, sie also im Verhältnis zum Mund nach oben oder nach unten zieht. Außerdem hat man natürlich alle Möglichkeiten, durch den Atem zu steuern und zu gestalten, so wie man auch vielfältige Melodien singen kann.
Die Herkunft der Shakuhachi liegt teilweise im Dunkeln der Geschichte.

Man kann aber davon ausgehen, dass sie etwa seit dem siebten Jahrhundert in China benutzt wurde und dann über Korea nach Japan gelangte. Es gibt vermutlich zwei zu unterscheidende Epochen: die erste unmittelbar in den folgenden Jahrhunderten nach dem Eintreffen in Japan und die zweite etwa nach dem 16. Jahrhundert, als in Japan das Spiel der Shakuhachi zu höchster Blüte entwickelt wurde. Jede Bambusflöte unterscheidet sich teilweise von der anderen, denn es handelt sich ja um den natürlich gewachsenen Bambus, der im Wuchs zwar durchaus ähnlich, aber niemals ganz gleich ist. Heute wird die Shakuhachi meist aus dem unteren Teil des Bambus gebaut, der den festen Wurzelstock enthält. Die Wurzeln werden dabei abgeschnitten, der Wurzelstock wird durchbohrt und dies gibt der Flöte eine feste, fast kernige Ton-Grundlage, die besonders in den tiefen Lagen wirksam ist.

Das Spiel der Shakuhachi-Flöte ist eng mit der Lebensphilosophie des Buddhismus verknüpft und es bedarf lebenslanger Übung, um zu der Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit zu gelangen, die den Weg des Buddhismus selbst ausmacht. Es gibt verschiedene Traditionen des Shakuhachi-Spiels, die einerseits den spirituellen, buddhistischen Bereich anspricht, und zum anderen konzertant in der Kammermusik ausgeprägt ist, dort z. B. zusammen mit dem Saiteninstrument der Koto. In diesem Fall müssen die Flöten in der Tonhöhe vereinheitlicht werden, damit ein tonlich harmonisches Zusammenspiel mit anderen Instrumenten ermöglicht wird. Ich habe seiner Zeit die buddhistische Tradition des „Myo An“ (Hell-Dunkel) von dem japanischen Shakuhachi-Meister Hanada erlernt, der nunmehr in Deutschland lebt. Jetzt habe ich zusammen mit meinem Bruder bei Fritz Nagel Unterricht.

Wie Herrigel in seinem Buch, „Die Kunst des Bogenschießens“, beschreibt, hatte er nach mehreren Jahren des Unterrichts und des Lernens erleben können, dass "es geschossen hat." Sein Bogenmeister verneigte sich darauf, weil sich das "Etwas" ereignet hatte, das mehr ist als das Subjekt, also hier der Mensch und mehr ist als das Objekt, hier der Bogen, der Pfeil und die Sehne. Dann verbindet sich das Handeln weit darüber hinaus gehend auf natürliche Weise mit diesem Etwas, sodass sich ein Schuss natürlich wie von selbst löst. Man kann auch sagen, dass sich „ein Schuss ereignet“. Im Augenblick der höchsten Spannung muss alles locker vor sich gehen, sodass der Schuss "wie eine reife Frucht fällt“.

Den von Herrigel beschriebene Weg des Bogenschießens gibt es in gleicher Eindringlichkeit auch bei den anderen verschiedenen buddhistischen Übungen und Künsten: Es ist zunächst ein vorsichtiges Herantasten an die Aufgabe oder die damit verbundenen Dinge, ein stetes Üben, bei dem das Ich und das Selbst immer mehr in den Hintergrund treten und das Handeln und Tun sich sozusagen vom Subjekt und Objekt ablöst und sich, wie Nishijima Roshi betont, die Wirklichkeit selbst öffnet . Im Handeln gibt es dann kein intellektuelles Erinnern an das Vergangene und keine Erwartung für die Zukunft, denn beides würde nur vom Denken und Verstand erzeugt werden, sondern das Handeln findet je im Augenblick ganzheitlich und intuitiv statt. Nach Dôgen ist dies genau die Sein-Zeit, die er in dem grundlegenden Kapitel Uji in seinem Werk "Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" (Kap. 11 des Shôbôgenzô) beschreibt.

Wie bei der Zazen-Praxis verhindert eine willentliche bewusste Anstrengung mit dem Ziel, das perfekte Flötenspiel zu erreichen, genau das Wesentliche des Shakuhachi-Weges. Dôgen führt immer wieder aus, dass eine willentliche bewusste Anstrengung, die Erleuchtung zu erlangen, ganz genau verhindert, dass sich das Erwachen oder die Erleuchtung bei der richtigen Sitzhaltung des Zazen „ereignen“ kann. Die buddhistische Praxis ist ein intuitives wunderbares Ganzes, bei dem nicht der Verstand vorherrscht und auch nicht die Emotionen dominieren.
Warum ist das Spielen der Shakuhachi ein praktisches Beispiel für die buddhistische Lehre und das buddhistische Handeln und Leben selbst? Wie können sich die naturhaften Töne dieser Bambusflöte mit der buddhistischen Lehre verbinden?

Wir nehmen einen Ton mit unseren Ohren als sinnliche Wahrnehmung auf und öffnen uns beim Spielen und beim Zuhören ganz der Gegenwart des Hier und Jetzt. Wenn die Gedanken des Menschen abschweifen, wird dies z. B. dem Spieler irgendwann bewusst, weil er merkt, dass die Töne an Lebendigkeit, Schönheit und Spiritualität verlieren. Die Shakuhachi ist ein sehr empfindliches Ding, das wie ein „Lebewesen handelt“, sodass gewaltsames Blasen und auch abschweifende Gedanken nicht selten oft dazu führen, dass der Ton ganz wegbleibt. Es erfordert zunächst sehr viel Geduld, um als Anfänger überhaupt irgend welche Töne zu erzeugen und es gibt Schüler, die drei Monate und mehr benötigen, damit sich überhaupt zum ersten Mal ein Ton vorstellt. Dann bedarf es vieler Jahre, in denen man stetig und ausdauernd übt, bis eine gewisse Leichtigkeit und Natürlichkeit beim Spielen entsteht und die Töne zunehmend naturhaft werden und sich eine Einheit von Mensch, Flöte, Luft, Ton, Spieler, Raum Zuhörer usw. einstellt. Es ist in der Tat dann überhaupt nicht mehr sinnvoll, von einem Subjekt, also dem Spieler, und einem Objekt, nämlich der Flöte, zu sprechen. Die aus der Lunge ausströmende Luft wird vor allem durch die Muskulatur des Bauches gestaltet und gesteuert und weniger durch die Muskulatur der Brust. Die Lippen müssen eine bestimmte Spannung haben und zugleich locker sein, damit es einen vollen natürlichen Ton gibt. Wenn man beim Spielen oder Zuhören in den ganzen Augenblick der Gegenwart eintaucht, verwirklichen sich wunderbare Töne, die mit Worten nur unzureichend beschrieben werden können und die mit dem Verstand nur spärlich zu fassen sind. Dann gilt: "Es bläst, es klingt, es hört."

Es ist nicht das Ziel in der Shakuhachi-Tradition von Myo An virtuos und technisch beeindruckend zu spielen oder gar besondere Effekte und Tricks zu erzeugen. Den Ton der Flöte hört man oder spielt man genau in der Gegenwart einer weit offenen Intuition. Man muss sich also ganz für diese Gegenwart aufmachen, störende Gedanken und drückende Gefühle müssen verschwinden, damit man sich dem Ton und seiner Schönheit öffnen kann und damit die Töne Leben bekommen. Der Spieler hat dann die vielen Jahre und Stunden des Übens vergessen. Er vergisst auch sein Ich und hat sein Denken fallen gelassen und aufgelöst. Er lebt ganz in der Gegenwart und dadurch ist er in der Wirklichkeit und Wahrheit ankommen, wie es Meister Dôgen in seinem großartigen Kapitel der Sein-Zeit sagt.

Es gibt eine intuitive Verbindung im Lauf des Spielens und der Melodie mit dem jeweils Vorigen, das vorher lebendige Gegenwart gewesen ist. Dies ist aber kein intellektuelles Erinnern, es ist auch kein konkreter Gedanke, sondern es ist eine intuitive lebendige Spur aus dem vorherigen in der Gegenwart. Gäbe es eine solche intuitive Verbindung nicht, würde man überhaupt keine Melodie erkennen und könnte nur Geräusche hören. Der zukünftige Verlauf beim Spielen oder Hören ist ebenfalls nicht im Denken verankert, sondern ein intuitives Verbinden mit dem, was kommen wird. Ohne diese Intuition des Gesamten im gegenwärtigen Augenblick kann es keine Musik und kein Flötenspiel geben. Das Denken beim Spiel der Bambusflöte muss wie die Vergangenheit und Zukunft vergessen werden, genauso wie die Trennung von Subjekt und Objekt, vom Medium der Luft oder gar von den physikalischen Zusammenhängen. Sonst kann man sich der ganzen Ton-Fülle der Gegenwart nicht öffnen oder entfalten und das „Etwas“ kann nicht erscheinen, weil es durch das intellektuelle Denken oder durch wühlende Emotionen gestört oder unmöglich wird. Das gleiche gilt bei Eitelkeit und Imponiergehabe.

Der große Nutzen des Bambusweges ergibt sich dadurch, dass man eine sehr konkrete Rückmeldung erhält, ob diese Freiheit des Augenblicks, die notwendig ist für das natürliche und freie Spiel, vorhanden ist oder nicht. Man erhält ganz schnell eine Meldung, ob die Töne "in Ordnung" sind oder nicht. Die Shakuhachi ist gewissermaßen ein sensibles Messgerät für die Wirklichkeit im Augenblick aber auch für die durch Denken und Emotionen erzeugte Verzerrung und Verkrampfung des Spielenden. Gerade weil diese Bambusflöte so ursprünglich und einfach ist, kann sie eine solche klare Rückmeldung für uns leisten. Bei eher technischen Instrumenten, wie zum Beispiel dem Klavier oder einer elektronischen Orgel, ist dies wenig oder überhaupt nicht möglich, sodass deren Eignung für den buddhistischen Weg um vieles geringer ist.

Obgleich man beim wahren Shakuhachi-Spiel nicht mit dem Verstand denkt, ist das Bewusstsein nicht ausgeschaltet. Es ist ein Achtsamkeit der Klarheit und Offenheit, und der Spieler handelt in der Gegenwart und lässt das Spielen geschehen. Dann ist das Spiel jedes Stückes jeweils eigenständig im Hier und Jetzt und erhält seine Lebendigkeit gewissermaßen aus sich selbst. Jede Besonderheit eines Tones in der Gegenwart erzeugt Spuren bei den kommenden Tönen, ohne dass dies als bewusster Gedanke vorhanden wäre. So sind Vergangenheit und Zukunft eingeschmolzen in der Gegenwart und dies alles geht jenseits von Denken und Emotionen vor sich.

Bei der Musik kann man den Augenblick des Tones nicht festhalten. Diese Musik fließt natürlich dahin und gerade die Offenheit der Gegenwart beim Spielen und Hören gibt uns eine tiefe Befriedigung und Freude und macht uns frei. Sorgen, Ängste und Verletzungen aus der Vergangenheit sind vergessen und wir sind gewissermaßen in eine wunderbare Glocke des Tones eingehüllt. Aber diese Glocke schließt uns nicht ab und engt uns nicht ein, sondern sie öffnet uns in den Raum hinein und "stößt durch den Himmel", wie Meister Dôgen dies wohl ausdrücken würde. Dann sind wir ganz im Hier und Jetzt oder wie es im Shôbôgenzô heißt: "Geist hier und jetzt ist Buddha." Dies ist wie das Leben selbst, wenn man es mit Gewalt festhalten will, gibt es keine lebendigen Töne und keine Musik!

Montag, 3. Dezember 2007

Die Wirklichkeit des Mondes

Wir wissen, dass Meister Dôgen den Mond sehr liebte und sich viel mit dessen Wirklichkeit und Schönheit beschäftigt hat.

Der Mond verändert während des Jahres fortwährend seine Gestalt: Einmal verschwindet er ganz als Neumond, dann bildet er eine schmale oben und unten spitze Sichel, die breiter und zu einem Halbmond wird und schließlich gibt es den Vollmond, der in klaren Nächten so hell scheint, dass man in seinem Licht fast ein Sutra lesen kann. Danach nimmt der Mond wieder ab, wird kleiner und schmaler bis er wieder als Neumond verschwindet. Der Mond bewegt sich also fortwährend in seiner Gestalt und seinem Standort am Himmel und unterscheidet sich insofern von der Sonne, die immer als helle Scheibe über den Himmel wandert und uns auch hinter dichten Wolken das Tageslicht gibt.
In diesem Kapitel "Der Mond" (Kap. 42, Tsuki) untersucht Dôgen anhand des Mondes die Wirklichkeit und diese unterscheidet sich grundsätzlich von der Wahrnehmung (materielle Sicht) und den Vorstellungen (Idealismus). Über dieses kompakte und nicht einfach zu verstehende Kapitel habe ich ein längeres Gespräch mit Nishijima Roshi geführt, in dem er unterstrich, dass der Buddhismus die Wirklichkeit zum Inhalt hat und er daher von dem buddhistischen Realismus sprach. Den Mond kann man nicht anfassen, das heißt, die sinnliche Wahrnehmung des Greifens und Tastens kann nicht verwendet werden. Der Mond ist immer entfernt und ungreifbar, ganz gleich, auf welche Weise man versucht, ihm nahe zu kommen. Wenn man auf den höchsten Berg der Umgebung steigt, ist man von ihm genau so weit entfernt wie auf dem flachen Lande. Man ist beim Mond ganz auf die sinnliche Wahrnehmung des Sehens angewiesen, denn er er gibt auch keine Töne von sich, er duftet nicht und lässt sich nicht anfassen. Warum hat Meister Dôgen gerade das Beispiel des Mondes gewählt, um den grundsätzlichen Unterschied von Wirklichkeit einerseits und der Wahrnehmung sowie Denken andererseits herauszuarbeiten? Der Mond wird auch in vielen Gedichten und von tiefer Poesie besungen und hat schon immer die Fantasie der Menschen beflügelt und getragen.

Im Buddha-Dharma hüten wir uns vor falschen romantischen Gefühlen, sondern wollen zur Wirklichkeit selbst vorstoßen und vorgefasste Meinungen, Ideologien, falsche Emotionen und Hektik auflösen. Aber wir sind weit offen für die Schönheit des Universums, der Welt und der Natur. Dazu müssen wir genau unterscheiden, was sozusagen künstlich durch Ideen und Denken erzeugt wird und uns dann romantische Gefühle vorgaukelt aber nicht wirklich und nicht echt ist. Diese Klarheit wird im Buddhismus Erleuchtung, Erwachen, Gleichgewicht oder auch Leerheit genannt. In dem Kapitel „Sein-Zeit“ erläutert Dôgen die buddhistische Lehre des Augenblicks im Hier und Jetzt und Nishijima Roshi betont dabei, dass die Vergangenheit lediglich eine Erinnerung ist und die Zukunft aus Erwartungen besteht. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft sind danach die Wirklichkeit und Wahrheit selbst, denn diese gibt es nur im Handeln und im Gleichgewicht des gegenwärtigen Augenblicks. Dôgen sagt in diesem Zusammenhang:

"Die runde Verwirklichung vieler Monde ist nicht nur drei und drei vorn und drei und drei hinten. Wenn die vielen Monde ihre Rundheit verwirklichen, sind sie (aber auch) nicht nur (gedachte) drei und drei vorn und drei und drei hinten. "

Was ist damit gemeint? Die Redewendung "drei und drei vorn und drei und drei hinten" bedeutet im alten chinesischen Sprachgebrauch, dass etwas abzählbar ist, dies ist also ganz konkret die materielle Sicht der Dinge. Dôgen betont hier, dass mit einer solchen Zählweise die Wirklichkeit nicht ausreichend gesehen, beschrieben und erfahren werden kann. Wenn man zum Beispiel abzählt, wie viele verschiedene Formen der Mond im Laufe eines Monats hat, kann man ihn damit nicht richtig beschreiben. Er begründet seine Sicht und zitiert Shakyamuni Buddha:

"Buddhas wahrer Dharma-Körperist genau so wie der Raum.Seine Form offenbart sich den Dingen entsprechend.Er ist wie der Mond im Wasser. "

Mit dem wahren Dharma-Körper ist die umfassende Wirklichkeit gemeint, die zwar körperlich erscheint, aber weit mehr ist. Der Raum hat im Buddhismus eine doppelte Bedeutung; er ist zum einen materielles Element wie im alten Indien und zum anderen ist er bedeutungsgleich mit der Leerheit, die Nishijima Roshi als Gleichgewicht bezeichnet und die im Shôbôgenzô meist Erwachen heißt. Die Dinge der Welt offenbaren sich für den Menschen umfassend im Gleichgewicht. Wer also erwacht ist, hängt nicht mehr nur an der äußeren Form und Materie, die man sehen und berühren kann sondern geht darüber hinaus und dies sei dasselbe wie der Mond im Wasser. Das Bild des sich im Wasser spiegelnden Mondes wird mehrfach im Shobogenzo verwendet. Es hat die Bedeutung des wahren Mondes, des wahren Wassers, der Verbindung beider, ohne dass sie sich gegenseitig als Subjekt und Objekt gegenüberstehen oder gar behindern. Dôgen sagt dazu:

"Die hundert Dinge und zehntausend Phänomene verwirklichen sich so wie sie sind und sie sind Buddhas wahrer Dharma-Körper und wie der Mond im Wasser."

Dôgen geht dann auf die wirkliche Zeit des Erlebens und Erfahrens ein. Wir wissen heute, dass der Mond im Sonnensystem sich in einem genau zu berechnenden Zyklus um die Erde bewegt und dass beide wiederum um die Sonne kreisen. Diese naturwissenschaftlich exakte Angabe der Laufbahn des Mondes kannte Dôgen natürlich noch nicht. Sie entstammt dem naturwissenschaftlich materiellen Verständnis der Welt und wurde seit dem 19. Jahrhundert auch bezeichnend „Himmelsmechanik“ genannt. Man konnte zu Dôgens Zeiten natürlich die verschiedenen Phasen des Mondes genau beobachten, wie etwa die Phase des Neumondes, der abnehmende und zunehmende schmalen Sichel und des Halbmondes.

Dabei müssen aber die Gedankeninhalte und das wirkliche Erleben in der Sein-Zeit nach Dôgen klar unterschieden werden. Im Hier und Jetzt erlebt man nur je einen Mond im gegenwärtigen Augenblick und wenn man offen dafür ist, sind die Gedanken an andere Mondphasen und Formen der gesehenen Mondscheibe nur Erinnerung oder Erwartung, sie haben aber überhaupt keine wahre Erlebnisqualität der Wirklichkeit. Damit unterscheidet sich das gedachte Bild des Mondes von der wirklichen Erfahrung in der Wirklichkeit und nach Dôgen ist nur dies der wahre Mond.

Der Mond ist aber auch oft Gegenstand romantischer Schwärmerei, gefühlsbetonter Gedichte, um nicht zu sagen sentimentaler Beschreibungen. Dabei werden Ideen und Fantasien zum Mond durch Worte erzeugt, die von dem wirklichen Erleben und Erfahren unterschieden werden müssen. Dôgen sagt uns, dass wir uns derartigen romantischen Gefühlen eventuell hingeben können, wenn wir uns voll bewusst sind, dass es nicht die Wirklichkeit ist sondern nur eine romantische Vorstellung. Er betont weiterhin, dass derartige Fantasien viel weniger Schönheit und Kraft besitzen als die Wirklichkeit des Mondes selbst!

Auch Beobachtungen und Überlegungen, auf welche Weise der Mond die Dinge beleuchtet, stammen häufig aus dem Bereich des Denkens und sollten von dem unmittelbaren Erleben und der Praxis unterschieden werden. Gleiches gilt für Bezeichnungen wie "alter" oder "neuer" Mond. Hierbei werden Vergleiche gezogen und Vorstellungen eingebracht, deren es in der Wirklichkeit gar nicht bedarf. Dôgen zitiert hier einen alten Meister mit dem folgenden Gedicht:
"Geist-Mond allein und rund.Licht verschlingt Zehntausende Phänomene. Licht erleuchtet weder Dingenoch gibt es überhaupt Dinge. Licht und Dinge verschwinden beide,was ist das? "
Mit dem „Geist-Mond“ ist die ganze Wirklichkeit und Wahrheit gemeint und „allein und rund“ bedeutet, dass es vollkommen ist so wie es ist, dass nichts fehlt und nichts hinzugefügt werden kann. Dôgen sagt selbst hierzu:

"Weil (die Buddhas) diese (Einheit des Lichts mit den Dingen) verwirklicht haben, erscheinen sie sogleich mit dem Körper eines Buddhas und lehren den Dharma, wenn die Menschen durch den Körper eines Buddhas befreit werden müssen. Und sie erscheinen sogleich mit einem gewöhnlichen Körper und lehren den Dharma, wenn die Menschen durch einen gewöhnlichen Körper befreit werden müssen. "

Damit ist auf eine zentrale Aussage des Bodhisattva-Handelns verwiesen: Der helfende Bodhisattva nimmt die Form oder den Geist an, in denen er am besten helfen kann und die am besten geeignet sind, eine wirklich wirkungsvolle Hilfe zu leisten. Der Begriff "Geist" bedeutet hier nicht etwas Gedachtes, Abstraktes oder Spirituelles, sondern wird z. B. im Kapitel: "Geist hier und jetzt ist Buddha" beschrieben, bedeutet also das konkrete Handeln im Zustand des Gleichgewichts und nicht gedachte Vorstellungen, die nur im Bereich der Ideen angesiedelt sind.
Dôgen gibt anschließend ein berühmtes Gespräch zwischen einem Mönch und einem Meister wieder: Ein Mönch fragte einst den Meister:

"Wie ist der Mond, wenn er noch nicht rund ist?"
Der Meister antwortete: "Er verschlingt drei oder vier (Monde)."
Der Mönch fragte weiter: "Und nachdem er rund geworden ist?"
Der Meister sagte: "Dann speit er sieben oder acht (Monde) aus."

Dieses Koan ist bei Dôgen auch in der Sammlung von 301 Koan-Geschichten (Shinji Shôbôgenzô) enthalten und ist in der Tat zunächst recht rätselhaft. Was soll es heißen, dass der Mond drei oder vier andere Monde verschlingt und dann sieben oder acht ausspuckt? Nishijima Roshi erklärt dies folgendermaßen: Zunächst wird beschrieben, dass man durch Ideen und Ideologien die Vielfalt der Welt und Dinge fälschlich vereinfacht, also aus drei oder vier wirklichen Monden nur einen einzigen gedachten macht und auf diese Weise die Wirklichkeit verzerrt und grob vereinfacht. Wir alle kennen ideologische Menschen, die nach einem sehr einfachen Schema die Welt einteilen und bewerten. Die heutigen Soziologen würden vermutlich sagen, dass die Komplexität der Welt unsachgemäß reduziert wird und Meister Dôgen will uns davor warnen, weil natürlich durch grobe Vereinfachungen auch erhebliche Gefahren für unser Leben Entstehen können. Die Idee eines Mondes ist also nicht die Wirklichkeit selbst und unterscheidet sich so grundsätzlich von dem wirklichen Mond.

In der zweiten Aussage heißt es, dass sieben oder acht Monde ausgespieen werden. Dies bedeutet, dass man im erwachten Zustand des Gleichgewichtes seine sieben, acht oder noch mehr Ideologien wegwirft, um die Wirklichkeit selbst zu erfahren und zu erleben. Die Zahl sieben oder acht bedeutet also „sehr viele“ Ideologien und Vorstellungen, die aber der Wirklichkeit überhaupt nicht entsprechen.

Am Ende dieses kurzen, aber außerordentlich wichtigen Kapitels beschreibt Meister Dôgen das Bild, wie Wolken vor einem Mond vorbeiziehen und wir das subjektive Gefühl haben, dass sich beide bewegen, dass also der Mond sozusagen gegen die Wolke wandert. Die wesentliche Aussage hierbei ist, dass im wirklichen Leben zwei Objekte wie die Wolke und der Mond gar nicht unterschieden werden können und dass unsere Wahrnehmung und Beobachtung uns leicht einen Schein vorgaukelt, den es so in der Wirklichkeit nicht gibt.

In diesem Fall sagt uns Dôgen, dass der Beobachter, die Wolke und der Mond je im Augenblick eine Einheit bilden, dass das wirkliche Erleben ein Handeln ist und dass sich die Ideen und Illusionen von einem Mond als Wirklichkeit ablösen müssen, wenn das Gleichgewicht und das Erwachen verwirklicht sind. Er geht dann auf die Redewendung ein, dass bei einem gespaltenen Geist es "den ersten und den zweiten Mond" gibt und will damit sagen, dass derartige Unterteilungen in der Vorstellung und im Denken bestehen, aber nicht in der Wirklichkeit selbst.

Donnerstag, 29. November 2007

Die Zedern im Garten

Die Zeder ist ein schöner Nadelbaum, der in gemäßigtem Klima, wie z. B. in Japan und den größten Teilen von China, sehr gut gedeiht. Er hat ähnlich wie unsere Tannen und Kiefern immer grüne Nadeln, aber meist einen dickeren Stamm.


Zedern vor dem Kloster Tokein


Es gibt Zedern mit gewaltigem Stammdurchmesser, die sehr alt sind und ihre Umgebung weit überragen. Zedern wurden häufig in den Gärten und am Eingang der buddhistischen Klöster gepflanzt und hatten in der buddhistischen Ausbildung ähnlich wie der Bambus eine besondere Bedeutung für das ganz konkrete Hier und Jetzt, aber auch gleichnishaft für die Bedeutung der Buddha-Lehre.

In dem Kloster Tokein in Japan gibt es zum Beispiel vier gewaltige Zedern, die unten am Bach bei der kleinen Steinbrücke stehen, über die man einige Stufen hinauf auf den Vorplatz des Klosters gelangt. Auch in den Wäldern Japans findet sich ein größerer Bestand von Zedern. In Europa gibt es sie überall in südlichen Ländern, sie wachsen aber auch in geschützten Lagen in Deutschland. Weiterhin sind die Zedern in Marokko und im Libanon berühmt. Diese Wälder wurden allerdings stark abgeholzt, weil dieses Holz vielfach verwendet wurde und wird, da es eine besonders hohe Qualität besitzt. Bei alten Bäumen ist der gewaltige Stamm der Zedern unten besonders breit und verjüngt sich nach oben, sodass sich eine Form des ganzen Baumes ergibt, als ob es sich um eine Baum-Pyramide handelt, die im oberen Teil quer stehende Äste trägt, und diese auch im Winter begrünt sind. Beim Anblick alter Zedern hat man in der Tat den Eindruck von auf der Erde fest gewurzelter Kraft, Ruhe und der Dauerhaftigkeit, die natürlich besonders im Winter zu sehen sind, wenn andere Bäume kahl und entlaubt sind.

Die Koan-Geschichten über die Zeder waren im alten buddhistischen China und auch in Japan sehr berühmt und Meister Dôgen erläutert in diesem Kapitel "Die Zeder" (Kap. 35, Hakujûshi) sein Verständnis hierzu und zitiert einige Gespräche berühmter Meister. Er berichtet von dem außergewöhnlichen Meister Joshu, der bereits 61 Jahre alt war, als er sich mit ganzer Kraft entschloss, den Buddha-Weg zu gehen, sich dann dreißig Jahre mit ganzer Hingabe dem Lernen widmete und weitere dreißig Jahre als großer Meister und Lehrer tätig war und wie berichtet wird, zum Kern der Buddha-Lehre vorstieß. Er soll also 120 Jahre alt geworden sein. Von ihm wird berichtet, dass er zu Beginn seines Buddha-Weges und seiner Ausbildung sagte:

"Ich werde diejenigen befragen, die mehr wissen als ich, selbst wenn es sich um ein siebenjähriges Kind handelt. Ich werde diejenigen belehren, die weniger wissen als ich, selbst wenn es sich um einen alten Mann von hundert Jahren handelt."

Damit soll sicher zum Ausdruck gebracht werden, dass er überhaupt nicht nach äußeren Merkmalen oder nach Rang oder Ansehen in der Gesellschaft den Buddha-Weg studieren und lernen wollte, sondern dass er überall auf der Suche nach dem wahren Buddha-Dharma war. Er wollte jederzeit alles, was er wusste und erfahren hatte, an andere weitergeben, wenn dies sinnvoll und für die anderen nützlich war.

Dôgen lobt diesen Meister Joshu sehr, weil er ein großes Beispiel und Vorbild für die Klarheit und Konsequenz des Lernens auf dem Buddha-Weg sei und es auch viele Geschichten und Anekdoten über ihn gibt, die im Zen-Buddhismus große pädagogische Kraft entwickelt haben.
Als er selbst Leiter des Klosters war, verzichtete er auf viele Annehmlichkeiten, um sich in seiner kleinen Schar von Mönchen ganz dem Buddha-Dharma zu widmen. Es wird berichtet, dass es im Kloster manchmal an Nahrungsmitteln mangelte, sodass die Reissuppe immer dünner wurde und immer weniger Reiskörner enthielt. Es fehlte auch an Holzkohle und Feuerholz, sodass bequeme Mönche das Kloster bald wieder verließen, da es als Aufenthaltsort für ein leichtes angenehmes Leben völlig ungeeignet war. Es wird berichtet, dass getrockneter Kuhdung zum Heizen verwendet wurde, weil kein anderes Heizmaterial verfügbar war und dass sich dadurch im Winter ein Geruch von Kuhmist durch die Räume des Klosters zog. Dôgen sagt hierzu:

"Daraus könnt ihr die fleckenlose Reinheit eines Ordens erkennen. Die Spuren (dieser Überlieferung) solltet Ihr heute erforschen und erlernen. Es gab dort wenige Mönche, es heißt, dass dort nicht einmal zwanzig versammelt waren. Das Leben dort war schwer zu ertragen ..., nachts gab es kein Licht und im Winter kein Holzkohlenfeuer."

Da der Meister Joshu auch selbst ein sehr einfaches und bedürfnisloses Leben führte und mit großer Kraft und Klarheit den Buddha-Dharma lehrte, hielten es nur diejenigen Mönche bei ihm aus, die wirklich bis zum Kern der Buddha-Lehre und der Praxis gelangen wollte. Dieser Meister wurde später "Joshu der ewige Buddha" genannt. Ihm waren abstrakte Diskussionen und romantische Träumereien zum Buddhismus völlig fremd. Er versuchte seinen Schülern immer wieder den Weg zur konkreten Wirklichkeit im Hier und Jetzt zu zeigen und sie aus ihren abstrakten, festgefahrenen und „Nestern“ von verengten Denkwelten herauszuholen. Er warnte besonders vor süßlichen Erwartungen zur Erleuchtung und betonte, dass ein erwachter Mensch auch die ganze Breite des Lebens erfährt und daher auch Schwierigkeiten und Probleme zu meistern hat. Das folgende Koan-Gespräch ist besonders berühmt: Eines Tages wurde Meister Joshu von einem Mönch gefragt:

"Was war die Absicht unseres Vorfahren (Meister Bodhidharma), als er vom Westen kam?"
Der Meister antwortete: "Die Zeder im Garten."

Der Mönch war mit dieser Antwort unzufrieden, weil er sich eine schöne, spirituelle und erhebende Belehrung von seinem Meister erhofft hatte und sagte daher:

"Meister belehrt einen Menschen nicht mit einem (materiellen) Ding."
Der große Meister Joshu sagte darauf:
"Ich belehre einen Menschen nicht mit einem (materiellen) Ding."

Der Mönch wiederholte dann seine Frage:
"Was war die Absicht unseres Vorfahren, der vom Westen kam?"
und Meister Joshu antwortete so kurz und knapp wie vorher:
"Die Zeder im Garten."

Wie können wir dieses typische Koan entschlüsseln? Es wurde schon erwähnt, dass Meister Joshu besonders darauf aus war, die Schüler aus dem Bereich der unwirklichen Träume, Fantasien und Wunschbilder herauszuholen, um sie in die Wirklichkeit des Alltags und der Zazen-Praxis zu führen. Zweifellos bemerkte er, dass der Mönch eine hoch spirituelle oder geistige, zumindest aber poetische Belehrung von seinem Meister erwartete und erhoffte und genau dem hat der Meister nicht entsprochen, sondern ihn im Gegenteil auf den Boden der Wirklichkeit im Klostergarten zurückbringen wollen. Aus nur materieller Sicht hat die Zeder natürlich wenig mit den Absichten von Bodhidharma zu tun. Auf der anderen Seite ist bekannt, dass in China in dieser Zeit hoch spekulative und theoretische Diskussionen zur Buddha-Lehre vorherrschten, und dass Bodhidharma durch seine praxisbezogene konkrete Lehre erst den eigentlichen Beginn des Zen-Buddhismus in China markierte.

Danach entwickelte sich nicht zuletzt durch eine Vielzahl hervorragender Meister der Buddhismus sich zu einzigartiger Blüte. Wie es heißt, „gingen die fünf Blütenblätter des Dharma auf und trugen Früchte“. Meister Bodhidharma wollte also sehr wohl aus der spekulativen Theorie herauskommen und genau dies erklärte Meister Joshu seinem fragenden Mönch, aber er sagte damit auch, dass es nicht um die äußere Form und die materielle Sicht dieses Baumes ging, sondern dass die Natur selbst, wie es in einem anderen Kapitel des Shôbôgenzô heißt, den Dharma lehrt, weil alle nicht empfindenden Wesen ihn lehren. Wenn der Mönch die Zeder nur als Ding versteht zeigt dies, dass er in der Trennung von einem subjektiven Ich, das sieht und wahrnimmt und dem Objekt der Zeder, die wahrgenommen wird, verhaftet ist. Dôgen sagt dazu:

„(Bodhidharmas) Absicht vom Westen zu kommen und seine Absicht, Dinge zu benutzen, standen nicht im Gegensatz zueinander. Seine Absicht war auch nicht unbedingt der wunderbare Geist des Nirvanas, die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, denn seine Absicht war jenseits von (Begriffen wie) Geist, Buddha und Ding.“

Damit distanziert sich Dôgen sowohl von einer rein dinglichen Sicht der Welt als auch von einer Welt der Begriffe und Vorstellungen und seien sie noch so hochstehend wie „Geist und Buddha“. Dôgen erläutert dann weiter, dass es genau auf den Augenblick des Fragenden ankommt und was dabei mit geschieht und was er erfährt. Er warnt uns also davor, vorschnell den Mönch zu kritisieren sondern vielmehr seinen Beitrag zu schätzen, dass dieses Koan zustande kam und so viele Suchende gelehrt hat. So hat er zwar mit seiner Frage und seinem mangelnden Verständnis auf der einen Seite sicher einen Fehler gemacht, auf der anderen Seite ermöglichte er aber die pädagogische Kraft dieses Koans durch die Antworten des Meisters. Aus dieser Sicht kann man wirklich überhaupt keinen Mangel daran erkennen. Die ganze Koan-Geschichte muss in dem gegebenen Zusammenhang gesehen werden, und dabei ist nicht die Person des Mönchs maßgeblich, sondern welche Kraft aus dem Gespräch auf uns übergehen kann. Dôgen sagt hierzu:

"Weil der alles umfassende Geist frei von Ablehnung und Zuneigung ist, ist er (wie) die Zeder im Garten. Wenn die Zeder kein Ding wäre, könnte sie keine Zeder sein."

Damit ist klar gesagt, dass auch die materielle und dinghafte Sicht ein Teil der Wirklichkeit ist und dass sie unbedingt erforderlich ist, um überhaupt in der Wirklichkeit zu leben. Aber sie ist nur eine Teilwahrheit und und dies ist auch der Grund, warum eine materialistische Weltsicht den Menschen zwar Bequemlichkeit, aber eigentlich nichts Wesentliches geben kann. Materialistische Menschen veröden im Laufe ihres Lebens und Nishijima Roshi sieht im Materialismus auch nur eine von vier Lebensphilosophien und Lebensformen.
Dôgen zitiert dann eine weitere berühmte Koan-Geschichte wie folgt: Ein Mönch fragte:

"Hat die Zeder die Buddha-Natur oder nicht?"
Der Meister antwortete:
"Sie hat die Buddha-Natur."
Der Mönch fragte dann weiter:
"Wann wird die Zeder ein Buddha?"

Der große Meister Joshu antwortete darauf fast paradox:

"Sie wartet, wenn der Raum auf die Erde fällt."
Der Mönch konnte damit natürlich wenig anfangen und fragte weiter:
"Wann fällt der leere Raum auf die Erde?"
und der Meister antwortete darauf:
"In der Zeit, in der die Zeder Buddha wird."

Wie kann man nun an dieses Koan herangehen? Zweifellos geht es darum, die Bereiche der wirklichen Zeder, der Sein-Zeit und des Augenblicks in der Wirklichkeit miteinander zu verbinden. Dôgen sagt hierzu:

"Der große Meister spricht von dem Augenblick, wenn der Raum auf die Erde fällt und von dem Augenblick, wenn die Zeder ein Buddha wird. Aber er sagt damit nicht, dass die zwei (Augenblicke) aufeinander warten."

Wenn man auf ein großes Ereignis wartet, so sind dies zweifellos Gedanken, Hoffnungen oder Ängste, die sich im Geist und im Gehirn abspielen und dies bedeutet, dass man nicht im Hier und Jetzt, also im Augenblick, wirklich lebt. Dass der Himmel auf die Erde fällt könnte man so interpretieren, dass die materielle Sicht von oben und unten überwunden und dass die übliche Trennung von Himmel und Erde aufgehoben wird.

An anderer Stelle sagte Meister Joshu, dass es zweifelhaft ist, ob alles die Buddha-Natur hat, und er will damit einem bestimmten Mönch helfen, aus seinen spekulativen festgefahrenen Vorstellungen und Gedanken über die Buddha-Natur herauszukommen. In diesem Fall sagt er das Gegenteil, dass die Zeder die Buddha-Natur hat, dass man also die nur materielle Sichtweise erweitern muss, um die Wirklichkeit und die Lehre des Buddha-Dharma einzubeziehen. Erst wenn die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden wird, kann man also das, was mit dem Begriff und der Vorstellung „Buddha-Natur“ bezeichnet wird und was über den Begriff hinausgeht, erleben und erfahren.
An anderer Stelle bezeichnet Dôgen dies als "das Etwas", das sich ereignet und vom Denken nicht erfasst werden kann. Nishijima Roshi interpretiert die Aussage
"wenn der Raum auf die Erde fällt"
als Symbol für die Verwirklichung der Wahrheit und dass die Zeder in dem Augenblick Buddha werden kann, wenn der Mönch die Wahrheit selbst verwirklicht.
Dôgen fordert uns dann wie in vielen Kapiteln auf, uns selbst Fragen zu stellen und uns nicht einfach mit dem von ihm Gesagten zufriedenzugeben. Er erläutert zum Koan weiter:

"Joshus Aussage, dass die Zeder die Buddha-Natur hat (geht der Frage auf den Grund), ob eine Zeder wirklich ist oder nicht und ob die Buddha-Natur wirklich ist oder nicht."

Er will damit also sagen, dass die Zeder dann Buddha wird, wenn wir Menschen die Wahrheit verwirklicht haben und dann fällt der „Raum auf die Erde“, weil die üblichen physikalischen Dimensionen und die materielle Sicht der Welt verlassen werden. Die materielle Sicht der Zeder ist jedoch nicht grundlegend falsch, sondern sie ist nur eindimensional und kann die umfassende, alles einschließende Wirklichkeit nicht erkennen und schon gar nicht erfahren.

Dienstag, 27. November 2007

Der Geist der großen Meister, die ewige Buddhas sind

In dem Kapitel "Der Geist der ewigen Buddhas" (Kap. 44, Kobusshin) fasst Dôgen viele Bereiche der großen buddhistischen Lehre des Shôbôgenzô verhältnismäßig kurz aber sehr aussagekräftig zusammen.

Datong, großer Buddha


Seine hohe Verehrung für die alten großen Meister in Indien und in China, die er häufig die „ewigen Buddhas“ nennt, kommt hier besonders klar zum Ausdruck. Er erläutert eindeutig, dass der Begriff "Geist" nicht ohne den Körper und auch nicht ohne die vielen Dinge in der Welt verstanden werden darf. Sowohl in Deutsch als auch allgemein in westlichen Sprachen denkt man bei dem Wort „Geist“ schnell an etwas Unkörperliches und nicht Materielles, da wir die grundsätzliche Unterscheidung von Körper und Geist in unserer Kultur stark verinnerlicht haben. Auch der englische Begriff "mind" wird meist als Gegensatz zum Körperlichen und Dinglichen verstanden. Demgegenüber gibt es im Buddhismus eine solche grundsätzliche Trennung nicht, und Nishijima Roshi erklärt dies so, dass wir im Westen nur das Ideelle des Idealismus als Geist verstehen und von dem Körperlichen und Form-Gebundenen des Materialismus abgespalten haben und dass eine solche Spaltung nunmehr im 21. Jahrhundert wirkungsvoll überwunden werden kann und muss.
Der Geist der alten großen Meister und Vorfahren im Dharma ist ganzheitlich zu verstehen und umfasst mehr als nur das Denken und die Wahrnehmung durch unsere sinnesgebundenen Organe wie Augen, Ohren, und das Tasten, Schmecken usw.
Zunächst betont Dôgen die lebendige Ader der Übertragung im Buddhismus von einem großen Meister, den er als ewigen Buddha bezeichnet, zum anderen. Er sagt:

"Die Dharma-Weitergabe der alten Meister umfasst vierzig Vorfahren, wenn wir die sieben Buddhas einbeziehen, bis zu Meister Daikan Enô und umfasst auch vierzig Buddhas, wenn wir von Daikan Enô zurück bis zu den sieben Buddhas gehen."

Diese lebendige und authentische Weitergabe der Buddha-Lehre von einem Meister zum nächsten hat im Buddhismus eine ganz große Bedeutung. Es geht dabei um die Einheit des Meisters und des Schülers, der danach selbst Meister wird. Dies vollzieht sich in einem lebendigen, ganzheitlichen Vorgang und im gegenwärtigen Augenblick des Hier und Jetzt bei der Übertragung. Dabei hat jeder Meister selbstverständlich auch seine Besonderheiten, weil er eben auch ein wirklicher Mensch ist. Dôgen sagt hierzu:

"Da Daikan Enô dieselbe Tugend (wie die sieben Buddhas) hatte, hat er den authentischen Dharma von den sieben Buddhas empfangen und er hat ihn von sich selbst empfangen und an die späteren Buddhas weiter gegeben."

Dieser Augenblick des Empfangens und der Weitergabe des wahren Dharma ist nach Dôgen nicht mit den Vorstellungen der linearen Zeit des Vorher und Nachher sowie der Vergangenheit und der Zukunft zu erfassen. Vielmehr findet dies unmittelbar in der Sein-Zeit statt, die in Kapitel 11 (Uji) des Shôbôgenzô tiefgründig aufgezeigt und erläutert wird. Im Buddha-Dharma und im Zazen empfängt man das Selbst, das aber nicht mit dem abgegrenzten Ich verwechselt werden darf und benutzt es, indem man handelt und sich dadurch aktiv verwirklicht.
Es wird dann erläutert, wie die großen Meister sich aufeinander beziehen, sich als Einheit verstehen und die Anwesenheit der anderen Meister trotz der zeitlichen Trennung von manchmal vielen Jahrhunderten erleben. Obgleich die alten Meister „körperlich“ nicht mehr anwesend sind, gibt es eine lebendige, gegenwärtige und unverzichtbare Gemeinschaft.
Hierzu sind Aussprüche vieler großer Meister überliefert. Z. B. zitiert Dôgen seinen eigenen Lehrer Tendo Nyojô mit den Worten:

"Ich begegne Wanshi, dem ewigen Buddha."

Meister Wanshi lebte aber etwa einhundert Jahre vor Tendo Nyojô, ist also gar kein Zeitgenosse von ihm. Weiterhin wird die gegenseitige große Hochachtung der Meister und ewigen Buddhas füreinander mit klaren Worten betont. Besonders wenn sie in derselben Zeit lebten, gab es sehr enge Verbindungen zwischen ihnen und sie lernten voneinander in direktem Austausch oder auch über Mönche, die von einem zum anderen wanderten und von den anderen großen Meister berichteten. Eine solche fruchtbare Wechselwirkung kommt nach Dôgen dann zustande, wenn die Meister je am lebendigen Buddha-Dharma teilhaben und sich daher umfassend intuitiv verstehen können. Dôgen rät uns:

"Ihr solltet die Lebzeiten eines ewigen Buddhas erfahren und erforschen"
,
und er meint damit, dass wir uns nicht mit einem vordergründigen Verstehen zufrieden geben sollen und dass wir uns nicht nur in schöne romantische Stimmungen über die alten großen Meister versetzen sollten, sondern wirklich eine intuitive Einheit mit ihnen anstreben und verwirklichen. Ein von Dôgen hoch verehrter Meister, der Nachfolger von Daikan Enô war und Landesmeister genannt wurde, antwortete auf die Frage eines Mönchs, was der Geist der ewigen Buddhas sei:

"Die Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine."

Dieser berühmte Ausspruch beschreibt die umfassende Wirklichkeit der Dinge und Phänomene dieser Welt und soll klären, dass wir uns nicht den Geist der ewigen Buddhas als etwas Immaterielles und nur Ideelles vorstellen sollen. Dôgen vergleicht dies mit dem "Öffnen der Blumen", also der Entfaltung der buddhistischen Lehre in der Welt, die häufig durch diesen Ausdruck bezeichnet wird. Er sagt weiterhin:

"Ferner mag es noch den ewigen Geist geben, der Buddha praktiziert, den ewigen Geist, der Buddha erfährt, den ewigen Geist, der Buddha wird und es mag sein, dass das ewig Zeitlose eines Buddhas das Wirken dieses Geistes ist."

Der Begriff "Geist" ist hier wieder umfassend zu verstehen und schließt alles mit ein. Dies wird durch die Aufzählung der Praxis des Erfahrens und des Buddha-Werdens im obigen Zitat gekennzeichnet. Praktizieren und Erfahren sind nach westlicher Vorstellung häufig der Gegensatz zum denkenden Geist, der meist mit dem Denken und Bewusstsein gleichgesetzt wird. In diesem Kapitel wird ähnlich wie in der zentralen Aussage: "Geist hier und jetzt ist Buddha", die Einheit von Denken und Bewusstsein, Materiellem und Körperlichem, Handeln und Erfahren mit dem höchsten Zustand des Erwachens und der Erleuchtung herausgearbeitet. Dieser höchste Zustand geht vor allem über das Denken und die übliche Wahrnehmung hinaus. Dôgen zitiert dabei den berühmten Ausspruch:

"Es ist unmöglich einen Menschen zu finden, der den Buddha-Dharma versteht, selbst wenn wir ihn auf der ganzen Erde suchen."

Das Verstehen muss also zur Intuition im Sinne des Buddha-Dharma erweitert werden, das alles einschließt, um den hier gemeinten Geist zu bezeichnen.
Die Aufzählung von Zäunen, Mauern, Ziegeln und Kieselsteinen wird häufig nur in zwei Sichtweisen verstanden: Einerseits aus der subjektiven Sicht, zum Beispiel des Beobachtenden oder Denkenden und andererseits aus der objektiven Sicht, dass nämlich diese Zäune, Ziegel usw. materiell vorhanden sind. Dôgen macht noch einmal deutlich, dass weder die subjektive noch die objektive Sichtweise ausreichend ist, und dass auch deren Kombination die Wirklichkeit und Wahrheit der buddhistischen Lehre nicht erfassen kann.
Am Ende dieses Kapitels warnt uns Dôgen noch einmal, die Welt zu idealisieren und uns in einen paradiesischen Zustand hineinzuträumen. Er zitiert ein Gespräch eines Mönchs mit einem großen alten Meister wie folgt: Der Mönch fragte:

"Was ist der Geist der ewigen Buddha?" Der Meister antwortete darauf fast unverständlich:
"Die Welt ist zertrümmert." Der Mönch fragte weiter:
"Was geschieht, wenn die Welt zertrümmert ist?" und der Meister antwortete:
"Wie wäre es möglich, ohne meinen Körper zu sein?"

Dass die Welt zertrümmert ist oder zusammenbricht, soll sicher bedeuten, dass es nach wie vor auch für die großen Meister keine heile Welt oder das reine Paradies auf dieser Erde gibt, sondern dass es auch immer Zerstörung und teilweisen Untergang gibt. Durch den ewigen Geist der Buddhas bekommt eine solche Zerstörung jedoch eine neue heilende Qualität, sie wird so gesehen, wie sie ist, ohne dass die übliche Panik und die großen Ängste ausbrechen und uns in die Verzweiflung werfen. Dass in der Welt etwas zusammenbricht, wird von uns häufig mit dem Körperlichen und Materiellen in Zusammenhang gebracht. Wie schon in den anderen Zitaten ist der Körper und die Form aus Dôgens Sicht Teil des Geistes der ewigen Buddhas und kann daher keineswegs als minderwertig oder unwesentlich bewertet werden.

Bekanntlich neigen idealistische Menschen dazu, den Körper und die materiellen Gegebenheiten der Welt als weniger wichtig oder sogar als kaum existent einzustufen und sie träumen sich gern in eine ideale Welt ohne Probleme und ohne Zusammenbrüche hinein. Dies vergrößert aber nach der buddhistischen Lehre ihr Leiden, da sich die Spannung zwischen Wirklichkeit und Ideal immer mehr vergrößert und man unter der Wirklichkeit immer mehr leidet und dazu neigt, aus ihr zu entfliegen. Eine solche Flucht aus der Wirklichkeit schlägt dabei immer auf den Menschen selbst zurück und ist überhaupt keine dauerhafte Lösung, um mit den Problemen der Welt fertig zu werden. Der Körper sollte aber auch nicht egoistisch für die eigenen Vorteile verwendet werden, sondern zum Beispiel im Bodhisattva-Handeln und im Einklang mit Moral und Ethik verwirklicht werden. Dôgen sagt schließlich:

"So blühte der Geist der ewigen Buddhas und nach allen Buddhas trug er seine Früchte."

Dienstag, 20. November 2007

Goethes Faust und die vier Lebensphilosophien des Buddhismus

Tempelwächter in Datong

Bei einem kürzlichen Besuch in Tokyo erklärte mir Nishijima Roshi , dass er Goethes Faust außerordentlich schätzt und dass er in seiner ersten größeren Veröffentlichung im Jahr 1975 beschrieben hat, wie er die vier buddhistischen Lebensphilosophien aus dem großen Werk die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (Shôbôgenzô) von Dôgen in Goethes Faust wieder entdeckte. Goethe ist in der Tat ein ganz außergewöhnlicher Mensch, Handelnder, Dichter und wenn man so will, auch Philosoph des Westens, der sich kaum in eine der Hauptströmungen des westlichen Geistes und insbesondere der Philosophie einordnen lässt. Es ist sicher bekannt, dass Goethe im Japan der heutigen Zeit eine ganz hohe Wertschätzung entgegen gebracht wird und dass vor allem der „Faust“ wohl zu den bekanntesten Werken der westlichen Dichtung zählt. Nishijima Roshi sagte mir auch, dass er mit seinen Deutsch-Kenntnissen den Faust in deutscher Sprache gelesen habe, und ich ihm daher eine CD besorgte, in die er regelmäßig hineinhört.
Goethe war zweifellos ein umtriebiger Mensch, Dichter und Denker, der auch in der praktischen Politik als Minister Verantwortung trug und sich außerordentlich für Naturwissenschaften interessierte und durch damals extreme Naturerlebnisse, wie zum Beispiel die Besteigung des Brockens im Harz, bekannt wurde. Er hat zeit seines Lebens am Faust gearbeitet und umformuliert und seine verschiedenen Lebensphasen dort eingebracht. Bevor wir auf die von Nishijima Roshi herausgearbeiteten vier Lebensphilosophien aus dem Shôbôgenzô eingehen, wollen wir uns noch einmal kurz den Inhalt des Faust vergegenwärtigen.

Ganz zu Anfang äußert Goethe seine Zurückhaltung gegenüber Worten, denn er verwirft den Satz: "Am Anfang war das Wort" und sagt stattdessen: "Am Anfang war die Tat." Er setzt sich damit ganz deutlich von der Wortgläubigkeit mancher Religionen ab, die den religiösen Inhalt z. T. zurückstellen und die Worte selbst als Heiligtum ansehen. Wenn man bedenkt, dass die aufgeschriebenen Texte meist zunächst mündlich überliefert wurden und dann von autorisierter Stelle oft nach mehrfachen Übersetzungen aus verschiedenen Sprachen in eine kanonisierte Form gebracht wurden, sind in der Tat erhebliche Zweifel anzumelden, ob die Worte allein den religiösen, spirituellen Inhalt übermitteln können.
In Goethes Faust kommt dann die berühmte Stelle:

"Habe nun, ach! Philosophie
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie!
Durchaus studiert mit heißem Bemühn.
Da steh´ ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor."


Damit erteilt Goethe dem theoretischen Wissen und auch der Theologie eine deutliche Absage und sagt im Kern, dass man durch Ideen und Gedanken nicht zur Wahrheit vorstoßen kann und dass selbst eifriges und unaufhörliches Studieren der Schriften und Theorien nicht viel weiter hilft. Er sagt damit im Klartext, dass man durch Denken, Philosophie und die Sprache allein die Wirklichkeit nicht erfassen kann, so nützlich diese Bereiche auch sein mögen. Goethes Faust beschäftigt sich dann auch nicht weiter mit Theorien und Philosophien, sondern will diesen staubigen Bereich der Studierstube verlassen, um ins volle Menschenleben ein zu treten.

Durch den Pakt mit dem Teufel lässt er sich dann bekanntlich verjüngen und begegnet bald der schönen und für ihn außerordentlich attraktiven jungen Frau, nämlich Gretchen. Damit beginnt eine leidenschaftliche und „wilde“ Liebesbeziehung zwischen zwei doch sehr verschiedenen Menschen. Faust mit seinem gewaltigen Fundus an Wissen und seiner Fähigkeit der schöpferischen Sprachgestaltung auf der einen Seite und Gretchen in ihrem täglichen Arbeitsablauf und der einfachen Lebendigkeit des Alltags. Diese Phase im Leben von Faust gehört also der sinnlichen Welt, der Freude an der Sexualität, der Liebe, des Schönen und überhaupt an der lebendigen Vielfalt des pulsierenden Lebens. Sie bewundert die geistige Kraft und das großartige Wissen von Faust, und er bewundert ihre einfache Klarheit und Schönheit des Lebens ohne äußeren Glanz und äußeren Reichtum und erkennt in der eigentlich ärmlichen Umgebung ihres Lebens so viel Fülle und Schönheit. Die sinnliche Welt wird also keineswegs nur durch Reichtum und äußeren Glanz in einer materialistischen Oberflächlichkeit gezeigt und dargestellt, sondern mit großer menschlicher Tiefe und Fülle.

Die Phase der Sinnlichkeit endet bei Faust bekanntlich damit, dass Gretchen das ihr anvertraute Kind versehentlich vergiftet, um sich der Liebe mit Faust hinzugeben und gemeinsam die Welt der Sinne zu genießen. Wir wissen, dass Goethe tief von einer solchen dramatischen Entwicklung mit schlimmem Ausgang durch einen damals laufenden Prozess gegen eine junge Frau ergriffen war und ihn dieses Schicksal außerordentlich bewegte. Faust versucht dann noch Gretchen mithilfe des Teufels aus dem Kerker zu befreien, aber Gretchen lehnt dies ab, weil ihr Faust unheimlich geworden ist und sie sagt, dass sie sich vor ihm graut. Ganz offensichtlich will Goethe mit dieser zweiten Phase im Leben des Faust sagen, dass auch die Sinnlichkeit des Lebens nicht zur Wahrheit und Wirklichkeit hinführt und dass es sehr leicht passieren kann, dass sich das Leben der Betroffenen auf Katastrophen zubewegt, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.

So kann man vielleicht das Gleichnis des getöteten Kindes auch als die vergebliche Hoffnung interpretieren, durch die Sinnlichkeit, also durch äußere Form und Schönheit zur Wahrheit vorzustoßen. Dieses Kind ist genau dadurch gestorben, dass vielleicht zu viel Raum für die Sinnlichkeit geschaffen werden musste, und es durch eine überhöhte Dosis von Schlafmitteln ruhig gestellt werden sollte.
Faust tritt dann in eine nächste Lebensphase ein und gewinnt durch aktives und schöpferisches Handeln große Macht und großen Reichtum. Damit ist er in die Phase des Tuns oder wie Goethe es am Anfang nennt, der „Tat“, eingetreten. Faust übernimmt damit Verantwortung für viele Menschen, die in seinem Herrschaftsbereich leben und schafft durch seine Tatkraft und sein schöpferisches Unternehmertum große Werte, die nicht nur für ihn, sondern auch für andere Menschen wichtig und notwendig sind und nicht zuletzt deren Lebensgrundlage bilden. Nach der Lebensphase des Denkens und der Sinnlichkeit zeigt uns Goethe also die Höhen und Tiefen, die Möglichkeiten und Abgründe und das ganze bunte Durcheinander des Handelns in der mittleren Lebensphase des Menschen. Faust wird in dieser Phase auch von großem Ehrgeiz erfasst und vergisst teilweise seine Menschlichkeit und Humanität, indem er zum Beispiel das friedliche alte Ehepaar Philemon und Baucis von ihrem kleinen Besitz vertreiben will, um diesen in sein großes Reich eingliedern zu können, weil es dort angeblich noch fehlen würde.
Am Ende wird Faust trotz oder wegen seines pulsierenden, turbulenten Lebens erlöst, denn er hört die Stimme:

"Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen."

Goethe will damit offensichtlich sagen, dass wir uns mit vorschneller Kritik zurückhalten müssen, selbst wenn in der Phase der Sinnlichkeit und der Schaffensperiode böse Fehler und Vergehen passieren und sich der Mensch nach landläufiger Vorstellung "schuldig macht."
Ich erinnere mich an meinen Deutschunterricht in der Schule, in dem wir den Faust "durchgenommen" haben und unser Deutschlehrer damals versuchte, uns den Inhalt klarzumachen oder besser gesagt, seine Interpretation des Faust vortrug.

Er war ein äußerlich eher zurückhaltender und bescheiden auftretender Lehrer, der allerdings bei uns Schülern leider kein hohes Ansehen genoss. Er gab grundsätzlich verhältnismäßig schlechte Zensuren, ließ sich aber zum Teil nach längeren Diskussionen mit den jeweils betroffenen Schülerinnen und Schülern darauf ein, die Zensuren zu verbessern. Dies hat natürlich nicht dazu beigetragen, sein Ansehen zu verbessern. Manche staunten dann allerdings, als sie ihre schlechten Abitur-Noten in Deutsch sahen, denn nun war nichts mehr zu machen. Ich gehörte übrigens auch dazu. Er war fest im protestantischen Christentum verwurzelt und hatte sicher die besten Absichten, Ideale und Vorstellungen vom Leben und seiner Tätigkeit als Lehrer.

Aber Schülerinnen und Schüler der Oberstufe in der Umbruchzeit nach dem zweiten Weltkrieg ließen sich nicht so leicht irgendwelche schönen Sprüche und Ansichten ohne Widerspruch vorlegen, denn sie hatten als Kinder noch die gewaltigen Propagandasprüche des Faschismus und Nationalsozialismus in den Ohren und trauten auch vielen Aussagen des Christentums nur in recht begrenztem Umfang. Viele von uns hatten noch mit den Resten der Munition aus dem zweiten Weltkrieg gespielt und waren ohne Vater aufgewachsen, weil diese im Krieg umgekommen oder verschollen waren. Wir hatten schon als Kinder Tod, Vertreibung und Katastrophen kennen gelernt.
Wir kommen nun zu dem berühmten Pakt des Fausts mit dem Teufel, in dem es heißt, dass der Teufel die Seele endgültig behält, wenn Faust folgendes sagt:


"Werd´ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!"


In unserem Deutschunterricht wurde dies so interpretiert, dass Faust in seinem ganzen vielfältigen pulsierenden Leben keinen einzigen Augenblick erlebt hatte, der so schön war, dass er ihn festhalten wollte und zu diesem Augenblick gesagt hätte: „verweile doch, du bist so schön“. Das Resümee wäre also, dass das ganze Leben wie es Faust exemplarisch für die Menschen gelebt hatte, keine schönen Augenblick aufweist. Sein Leben ging durch große Höhen und Tiefen, denn zunächst war er ein berühmter Wissenschaftler und Philosoph, dann hatte er eine tief gehende Liebesbeziehung und wurde ein mächtiger Politiker und Wirtschaftskapitän. Dass ein solches Leben keinen einzigen Augenblick hoher Qualität enthält, zu dem man sagen könnte, „Augenblick du bist so schön“, bleibe noch eine Zeit lang bestehen, ist sicher sehr unwahrscheinlich. Der Pakt könnte also bedeuten:

„Wenn ich nur einmal in meinem ganzen Leben einen solchen Augenblick genießen dürfte, dann bin ich bereit, meine Seele dem Teufel zu übergeben.“

Aber einen solchen Auzgenblick soll Faust angeblich niemals erlebt haben. Es wird deutlich, dass dies ein ausgesprochen pessimistisches, um nicht zu sagen depressives Weltbild ist, in dem Philosophie, Sinnlichkeit, Handeln und Tatkraft so gering geschätzt werden, dass sich kein einziger schöner Augenblick ergeben kann.
Am Schluss wird Faust dennoch durch den Engel mit den Worten:

"Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen"


aus den Fängen des Teufels befreit. Allerdings bin ich mir überhaupt nicht sicher, ob unser damaliger Deutschlehrer dem wirklich zugestimmt hätte. Aus seiner Sicht muss das Leben von Faust weitgehend fehl gelaufen sein. Er selbst würde vermutlich ein frommes Dasein und ein stilles und unauffälliges Leben abseits von den Pulsschlägen der Welt und des Lebens vorgezogen haben. Sicher hat ihn auch gestört, dass im ganzen Faust die christliche Religion nur eine geringe Rolle spielt und dass ganz am Anfang die Theologie sogar als inhaltsleer und letztlich sinnlos abgelehnt wird.

In dieser negativen Interpretation des Faust, in der es keinen einzigen schönen Augenblick gegeben haben soll, ist allerdings doch die „Lebensphilosophie“ des Augenblicks grundsätzlich anerkannt worden. Das verblüfft wirklich! Es ist also ein ganz besonderes Verständnis der Zeit erkennbar, denn es wird nicht auf eine Zeitstrecke, sondern eben auf einen Augenblick abgehoben. Schon wenn es einen einzigen schönen Augenblick gäbe, und dies müsste ja eigentlich in einem weit ausgreifenden, pulsierenden Leben möglich sein, bekommt der Teufel die Seele des Menschen. So wird zwar der Ansatz des wichtigen Augenblicks anerkannt, aber es soll keinen schönen Moment im Leben geben, der sich lohnen würde. Wenn man einmal von dem spezifischen Pakt zwischen Faust und dem Teufel absieht, kann es wohl kaum eine Weltanschauung geben, die einen größeren Pessimismus enthält, so düster ist und von einem wirklich freudlosen Dasein kündet. Dies kann aber nicht im Sinne von Goethe sein.

Im Faust ist es Tatsache, dass der Teufel die Seele nicht bekommt, obgleich man sicher feststellen kann, dass Faust in seinem vielfältigen Leben so manche moralisch bedenkliche Tat begangen hat und dass sein Handeln immer wieder für andere Menschen große Probleme und sogar Katastrophen herbeigeführt hatte. Wollte Goethe damit zum Ausdruck bringen, dass ein solches turbulentes Leben letztlich nicht moralisch verurteilt werden kann? Dachte er möglicherweise dabei auch an sein eigenes Leben, das ja durchaus ähnliche Bereiche durchlaufen hatte?
Wir wollen noch einmal den Satz genau untersuchen: "Augenblick verweile doch, du bist so schön". Wenn man ihn mit denselben Worten etwas anders gliedert, kann man sagen:

"Augenblick, du bist so schön, verweile doch."

Da aber ein Augenblick bekanntlich niemals verweilen kann, ist es also unmöglich, dass er überhaupt fortdauert. Denn dies ist genau sein typisches Kennzeichen, weil es sich nicht um eine Zeitstrecke, sondern eben nur um einen Augenblick in der Gegenwart handelt. Man kann also auch sagen, der Augenblick ist schön aber es liegt in seiner Natur, dass er nicht verweilen kann, denn sonst wäre es ja auch kein Augenblick sondern eine Zeitdauer. In diesem Fall hätte der Faust den Teufel ganz cool überlistet, denn er konnte viele schöne Augenblicke in seinem Leben haben und hat diese sicher auch genossen, aber der Teufel konnte seine Seele nicht erobern, weil diese Augenblicke von Natur aus gar nicht andauern konnten, also niemals verweilen würden. Faust hätte mit dieser Klugheit und tiefen Lebensweisheit das Böse also ausgetrickst, weil der Teufel an die Dauerhaftigkeit der Zeit glaubte und Faust wusste und erfahren hatte, dass das Leben immer nur aus Augenblicken besteht, und dass wir nur je im Augenblick die Wirklichkeit, Wahrheit und Schönheit des Lebens, der Welt und des Universums erleben und erfahren können.

Nishijima Roshi hat mir seine Interpretation genau so erläutert. Sie hat damit eine weitgehende Übereinstimmung mit Dôgens vier Phasen der menschlichen Entwicklung, die sich wie folgt gliedern:

1. Ideen, Glauben, Gedanken, Denken, Theorie aber auch Ideologien, Sekten, usw. In den Idealen sind zwar moralische Ziele enthalten, die jedoch kaum in die Wirklichkeit umgesetzt werden können, denn sie sind nur im Geist.

2. Wahrnehmung, Naturwissenschaft, sinnliche Genüsse, sich dem Genuss hingeben, Schönheit der äußeren Formen und Farben, materielle Vorteile, also materielles Genuss, aber auch Gier, Egoismus und Oberflächlichkeit.

3. Handeln, Aktivitäten, schöpferisches Schaffen, Aufbauen, Einheit von Körper und Geist im Handeln und Überwinden der gedachten Trennung von Subjekt und Objekt.

4. Höchster Lebenszustand, intuitive Weisheit, intuitive Entscheidungskraft und moralisch richtiges Handeln im Hier und Jetzt. Dies ist die Sein-Zeit des Augenblicks, die den Menschen die höchste Erfüllung und die größte Lebensfreude bringt. Im Buddhismus wird dies als Erwachen, Erleuchtung, Gleichgewicht oder Leerheit bezeichnet.

In der Tat sind die Ähnlichkeiten mit dem Lebensablauf in Goethes Faust verblüffend. Wir können annehmen, dass Goethe noch keine Kenntnis der buddhistischen Lehre hatte. Zwischen Europa und dem damals überwiegend buddhistischen Indien und Afghanistan war nach der Antike die Verbindung abgerissen und unterbrochen. Die Renaissance, die Goethe so viel bedeutete, bezog sich auf die griechische und römische Antike und hatte keinen erkennbaren Bezüge zum buddhistischen Indien. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in kleineren, oft esoterischen Kreisen, eine Renaissance der indischen Kultur und auch die ersten Übersetzungen der buddhistischen Lehre, zum Beispiel das großartige Werk von Karl Eugen Neumann „Die Reden Gotama Buddhos“. Diese Texte wurden gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Pali übersetzt und können zumindest im deutschen Sprachraum, als die ersten verlässlichen Basistexte des Buddhismus angesehen werden.

Wesentliche Fortschritte ergaben sich zum Beispiel durch den Philosophen Herrigel, der mit seinem Büchlein "Die Kunst des Bogenschießens" im 20. Jahrhundert eine große Breitenwirkung erreichte. Interessanterweise gibt Herrigel in seiner Literaturliste jedoch das große Werk „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ (Shôbôgenzô) von Dôgen nicht an und es scheint so, dass er dieses Werk überhaupt nicht kannte. Gleichwohl werden seine Beschreibungen des Zen-Buddhismus auch von den meisten Japanern sehr geschätzt. Dies nicht zuletzt, weil er in den verschiedenen Phasen, in denen er die Kunst des Bogenschießens erlernt, die typische Lebensform des japanischen Buddhismus schildert, und weil er diese auch selbst erfahren hat.

Selbst ein kritischer Geist tut sich meines Erachtens schwer, die Analogie von Goethes Faust und der im Buddhismus formulierten Wahrheit der vier Lebensphasen oder Lebensphilosophien einfach abzulehnen. Eine Falsifizierung ist daher kaum möglich. Umgekehrt sind die Parallelen und Ähnlichkeiten in der Tat verblüffend, vor allem weil wir davon ausgehen können, dass keine kulturellen und kommunikativen Brücken zwischen dem damaligen Europa und dem ostasiatischen Buddhismus bestanden. Daher bleibt uns nur der Schluss, dass Goethe als Geistes- und Lebensgenie zu einer ähnlichen Wahrheit vorgestoßen ist, die in Indien vor ca. 2500 von Gautama Buddha gefunden und formuliert wurde und die später nach Ostasien, also China, Japan und Korea, gekommen ist.