Dieses muss seine Ursachen darin haben, dass der Sinn der Lehre und das praktische Handeln der Menschen weit auseinanderklaffen, ohne dass sich die Akteure wirklich bewusst sind, warum sie nicht nach der reinen Lehre ihrer Religion handeln. Gautama Buddha und die großen Meister in Indien und China legten daher ein so großes Gewicht auf die Einheit mit dem praktischen Handeln im Hier und Jetzt und Meister Dôgen sagt in diesem Kapitel verkürzt, dass das Bewahren und die Weitergabe der reinen Praxis unbedingt notwendig ist für den wahren Buddhismus.
In den oft ergreifenden Lebensgeschichten der großen Meister legt Dôgen den Finger in die Wunde, wenn Theorie und Praxis voneinander abweichen oder sogar im Gegensatz zueinander stehen. Er rät uns, dass uns selbst wir mit großer Sorgfalt beobachten, um zu erkennen, nach welchen Motiven wir wirklich handeln und denken. Er warnt immer wieder davor, dass die Gier nach Ruhm, Macht und Profit zum wesentlichen Motor unseres Lebens wird und weist darauf hin, dass wir das eigene Selbst oft nicht einmal in Umrissen wahrnehmen. Eine wesentliche Ursache ist die dualistische Trennung von handelndem Subjekt und dem Objekt, die oft dazu führt, dass die eigenen nicht erlaubten Motive auf den anderen abgewälzt werden, der dann moralisch verurteilt und abgelehnt wird. Auch in buddhistischen Gruppen kann man leider häufig beobachten, dass das Streben nach Ruhm, Anerkennung, Einfluss und auch materiellem Gewinn verschleiert wird und dass genau diese Interessen an anderen vergrößert wahrgenommen werden. Eine wirklichkeitsnahe und ausgewogene Sichtweise ist dann nicht mehr möglich. Buddhisten machen also manchmal leider dabei keine Ausnahme, obgleich sie doch viele theoretische und praktische Hinweise im Buddha-Dharma besitzen, die verhindern sollen, dass Lehre und Praxis weit auseinander klaffen.
Die großen alten Meister werden von Dôgen als leuchtende Beispiele des tatkräftigen und moralisch einwandfreien Handelns beschrieben, und dies entwickelt beim Leser und Lernenden hohe Motivationsenergien. Es kann eigentlich gar nicht ausbleiben, dass wir uns mit Bescheidenheit und Einfachheit an die großen lebenden Meister erinnern, die die lebendige buddhistische Lehre von Gautama Buddha bis zu uns in die Gegenwart authentisch übermittelt hat. Wäre diese Kette nur an einer Stelle durch unfähige und verblendete Meister unterbrochen worden, dann wäre der lebende Buddha-Dharma nicht bei uns angekommen. Dabei gibt es immer wieder herausragende geniale Meister, welche die buddhistische Lehre in ihrer Zeit von Verkrustungen und Fehlentwicklungen befreien und nicht zuletzt dadurch die Lebendigkeit und Kraft des Buddhismus erhalten.
Dôgen sagt hierzu:
„Die Tugend einer solchen Praxis erhält und bewahrt euch selbst und sie erhält und bewahrt die Welt. Das Wesentliche ist, dass im Augenblick meiner Praxis die ganze Erde und der ganze Himmel in allen zehn Richtungen vollkommen mit der Tugend (meines Tuns) vereint sind."
Dabei ist es gar nicht von wesentlicher Bedeutung, was mir oder den anderen voll bewusst ist, denn die reine Praxis übersteigt das, was wir denken und sagen können, sie darf allerdings damit auch nicht im Widerspruch stehen.
Dôgen sagt weiter:
"Deshalb verwirklicht sich das Tun der Buddhas durch unser Tun, und ihre große Wahrheit ist von der unseren durchdrungen. Die Tugend dieses Rings (der Wahrheit) existiert durch das Bewahren der reinen Praxis."
Damit legt er ein großes Gewicht auf die Praxis der Buddhisten in der Gegenwart, die genau durch ihr reines Handeln die Buddhas und die Lehre verwirklichen. Dôgen betont, dass erst durch diese reine Praxis überhaupt die Wahrheit und Wirklichkeit der Welt ermöglicht wird, dass also der Mond und die Sterne, die Erde und der Raum, Körper und Geist, die materiellen vier Elemente und die fünf Komponenten des Menschen und der Welt (Skanda) Wirklichkeit sind.
An anderer Stelle hebt Dôgen die Bedeutung beim Übungsweg jedes einzelnen Menschen hervor, dass man am Anfang den Bodhigeist erweckt, also eine klare Entscheidung trifft, sich auf diesen Weg zu begeben. Dann braucht man Ausdauer, Bescheidenheit, Zähigkeit und Vertrauen, um auf diesem Pfad weiterzugehen, sich von den Tagträumen einer grandiosen Erleuchtung zu lösen und die ganze Fülle und Schönheit der wirklichen Welt nach und nach zu entdecken und sich selbst zu verwirklichen und dies alles an andere weiterzugeben. Dôgen sagt dazu:
"Selbst wenn die Tugend der reinen Praxis sich nicht zeigt, müsst ihr lernen und erfahren, dass sie wirklich existiert, denn sie wurde niemals durch irgendetwas befleckt, was verborgen oder offenbar existiert oder nicht existiert."
Dies geschieht genau im Augenblick des Hier und Jetzt und im Gleichgewicht, das vor allem durch die Zazenpraxis ermöglicht wird, wenn wir "Körper und Geist fallen lassen" und das „Tor des Friedens und der Freude zum Dharma öffnen“. Durch einseitige Theorie und Denken ist dies nicht zu erreichen, denn ohne die umfassende und bewährte Praxis geht es nicht. Einseitige Theorie führt nur allzuleicht dazu, dass man zergliedert, bewertet, gegeneinander aufrechnet und sich in Spekulationen verliert, die dann oft von eigenen Interessen und der eigenen Gier weitgehend unbewusst gesteuert werden. Dagegen verlässt die reine Praxis auch die engen Grenzen des Ich, das sich selbst ängstlich schützen will, das gierig etwas haben will und misstrauisch die anderen beäugt, ob die etwas an sich reißen und uns stehlen wollen. Die reine Praxis und das reine Handeln sind unauflösbar mit dem Jetzt der Sein-Zeit verbunden, während das Denken sich oft in entfernten Räumen und gedachten Zeiten verliert. Dôgen sagt hierzu:
"Diese reine Praxis zu vernachlässigen, durch welche die Buddhas erst wirklich werden und die euer Tun und Handeln erst zu einer reinen Praxis machen, bedeutet, dass ihr die Buddhas missachtet und ihnen keine Gaben schenkt. ... Hier und jetzt öffnen sich die Blumen und fallen die Blätter: Dies ist nichts anderes als die Verwirklichung und das Bewahren der reinen Praxis."
Er geht dann darauf ein, dass das absichtsvolle Handeln zum eigenen Vorteil genau das Gegenteil bewirkt und in die Sackgasse führt. Wenn man bei der Zazen-Praxis zum Beispiel fast krampfartig das großartige Ziel der eigenen Erleuchtung erreichen will, so hat das mit Sicherheit zur Folge, dass diese gerade nicht eintritt und sich überhaupt nicht ereignen kann. Die wahre Zazen-Praxis des Shikantaza ist nach Nishijima Roshi die erste Erleuchtung, je im Augenblick und sie darf nicht durch ehrgeizige Ziele behindert werden, denn dann kann sie überhaupt nicht mehr stattfinden. Die großartigen spirituellen Zustände des Gleichgewichts und Erwachens lassen sich nicht mit dem Denken und den Worten der Zielerreichung erfassen, und dies wäre nach Dôgen damit zu vergleichen, dass der verlorene Sohn in der Welt herumirrt und verarmt, obgleich er eigentlich im Besitz eines großen Schatzes ist.
Dôgen betont, dass das Streben nach der Wahrheit und reinen Praxis in jedem Alter möglich und notwendig ist. Gerade in der heute oft überalterten Gesellschaft, in der die Menschen sechzig, siebzig, achtzig Jahre oder noch älter werden, bekommt eine solche Aussage eine neue große Aktualität und Durchschlagskraft. In der Tat verbringen viele ältere Menschen, die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind, ihre Zeit damit, sich ohne große eigene Anstrengung nur unterhalten zu lassen, leider oft ohne fundierte Informationen alles und jedes kritisieren und beurteilen und den eigentlich dringenden Fragen von Leben und Tod, von Wirklichkeit und Wahrheit, ausweichen. Zudem hat die moderne Tourismus-Industrie gerade für alte Menschen eine Fülle von Ablenkungsaktivitäten entwickelt, bei denen eine innere Verödung kaum vermieden werden kann.
"Sorgt euch nicht darum, ob ihr in der Blüte der Jahre oder im Alter steht, praktiziert nur jeden Augenblick entschlossen die Wahrheit und erforscht das Höchste."
Er nimmt dabei auf den sog. Flankenheiligen in Indien Bezug, der erst im hohen Alter zum Buddha-Dharma kam und trotz verächtlicher Bemerkungen der jüngeren Mönche seine Übungspraxis ernsthaft und mit bewundernswerter Ausdauer machte. Er wurde Flankenheiliger genannt, weil er sich nicht mehr bequem auf die Seite legen wollte, sondern unablässig und ausdauernd praktizierte.
Dôgen erwähnt dann die großen Meister in China wie zum Beispiel Daikan Enô, Baso Ungan und berichtet von dem Zenmeister Daichi, dessen Worte wie folgt übermittelt werden: "Ein Tag ohne Arbeit ist ein Tag ohne Essen." Er arbeitete auch im hohen Alter mit den jungen Mönchen im Kloster und verweigerte die Nahrung, als man ihm die Arbeitsgeräte wegnahm, damit er sich schonen könne. Er aß erst wieder, als er an der Arbeit im Rahmen seiner Möglichkeiten teilnehmen konnte.
Dôgen zitiert außerdem den großen Meister Dai-i:
"Zwanzig Jahre lang lebte ich auf dem Berg Isan. Ich habe auf dem Berg Isan Mahlzeiten gegessen, ich habe auf dem Berg Isan Kot entleert, aber niemals habe ich Isans Weg gelernt."
Damit wird gesagt, dass dieser Meister sich ganz der Übungspraxis gewidmet hat, dass es ihm nicht um äußere Anerkennung oder eine große Schülerzahl ging und dass er gerade dadurch zu einem großen Meister in der Kette des Buddhismus wurde, der den lebendigen Buddhismus bei sich entwickeln konnte und an andere weitergab.
Der große Meister Joshu erweckte den Bodhi-Geist erst mit sechzig Jahren und entschied sich dann in großer Eindeutigkeit und Klarheit, den Buddhaweg zu gehen. Von ihm wird ein berühmter Satz übermittelt:
"Ich werde diejenigen befragen, die mehr wissen als ich, selbst wenn es ein siebenjähriges Kind ist, ich werde diejenigen belehren, die weniger wissen als ich, selbst wenn es ein alter Mann von hundert Jahren ist."
Auch hier wird die Bedeutung des Alters von Dôgen aufgelöst, denn Joshu selbst war schon sehr alt, als er zum Buddhismus kam und er scheute sich nicht, die wahre Lehre auch von einem siebenjährigen Kind anzunehmen. Es wird weiter berichtet, dass er mit achtzig Jahren selbst Meister wurde und dann vierzig Jahre lang "die Menschen und Götter geführt und gelehrt hat." Es werden viele Geschichten von seiner ausdauernden und auch kompromisslosen Übungspraxis berichtet. Er war allen Spekulationen und träumerischen Illusionen abgeneigt und führte seine Schüler immer wieder unmissverständlich auf die Wirklichkeit im Hier und Jetzt zurück. Joshu gehört in der Tat zu den ganz großen Meistern in der chinesischen Geschichte des Buddhismus.
"Hofft nicht auf das große Erwachen! Das große Erwachen ist nichts anderes als euer täglicher Tee und Reis, begehrt auch nicht das Nicht-Erwachen. Nicht am Erwachen (zu haften) ist eine kostbare Perle."
Er führt dann aus, dass die Gier nach Ruhm und Profit nicht sinnvoll sei, dass es aber auch dogmatisch und unmenschlich sei, diese aggressiv und militant abzulehnen. Auch dann sei man nämlich der Gier nach Ruhm und Profit verhaftet, wenn auch im umgekehrten Sinne der Ablehnung und nicht der Anziehung. Eine emotional aufgeladene Ablehnung hält den Menschen ebenso gefangen wie die Gier.
Es ist sicher nicht falsch, an dieser Stelle auf die Menschen zu verweisen, die sich darüber aufregen, dass andere gierig nach Reichtum streben, da dies doch sinnlos sei. Man wird dabei den Verdacht nicht los, dass eher Sozialneid das Motiv der vehementen Ablehnung ist, denn sonst wären diese Menschen viel gelassener. Wer im Gleichgewicht ist, wird von den Ideen des Reichtums und des Ruhms also weder positiv noch negativ beherrscht.
Die große Bedeutung der reinen Praxis wird von Dôgen durch das folgende Zitat der Buddhas und großen Vorfahren belegt:
"Wenn ein Mensch fähig wäre, das Jetzt eines Buddhas zu verstehen und es entschlossen zu verwirklichen, und sei es auch nur einen Tag lang, so wäre dieser Tag ungleich mehr wert, als wenn er hundert Jahre leben würde."
Dôgen bringt die große Bedeutung der reinen Praxis durch folgende Aussage auf den Punkt:
"Es ist eine bedauernswerte Verschwendung von Tagen und Monaten, wenn man hundert Jahre lang in den Tag hineinlebt. Selbst wenn jemand hundert Jahre lang wie ein Sklave lebt, der von den Klängen und Formen (dieser Welt) hin- und hergetrieben wird, aber in all diesen Jahren nur einen einzigen Tag lang die reine Praxis bewahrt, so hätte er an diesem Tag nicht nur ein Leben von hundert Jahren praktiziert, sondern auch andere Leben von hundert Jahren erlöst."
Er fordert uns daher eindringlich auf, keinen Tag und keinen Augenblick zu verschwenden und die Zeit nutzlos vergehen zu lassen. Er sagt, dass ein Tag der reinen Praxis von größtem Wert ist und er sei viel höher einzuschätzen als ein großer teurer Edelstein. Dôgen sagt dann über den großen Meister Seppo, der in vielen Koan-Gesprächen mit Meister Gensa zitiert wird:
"Ihr solltet Seppos Dharma-Anstrengung im Bewahren der reinen Praxis mitempfinden. Es wäre traurig, wenn ihr dies nicht selbst erfahren und erforschen würdet."