Sonntag, 21. April 2019

Vorwort zu meinem Buch: Sternstunden des Buddhismus

Von Doris Zölls
(Zen-Meisterin und spirituelle Leiterin des Benediktushofes)

Das vor Ihnen liegende Buch, liebe Leserinnen und Leser, macht die Lehren Shākyamuni Buddhas mit seinen Kernaussagen, dem „bedingten Entstehen“ oder genauer dem „gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung“ und der „Leerheit“, zu seinem zentralen Thema.

Im Lauf der Geschichte und auch heute noch schleichen sich immer wieder Fehlinterpretationen dieser Lehren Buddhas ein. Seine Aussagen sind für viele von uns ja auch schwer zu verstehen und stehen zu den „üblichen“ Vorstellungen in großem Widerspruch. Wir Menschen sehnen uns nach dem Unveränderlichen, nach einem festen unveränderlichen Wesenskern, einem beständigen Absoluten, das in unserer Existenz wirksam ist und uns hält. Doch wir brauchen nicht tief zu schürfen, um zu erkennen, dass diese Sehnsucht nicht erfüllt werden kann. Das Leben ist, wie Heraklit es ausdrückte, immer im Fließen. Halten wir Menschen dennoch an einer absoluten unverrückbaren Wahrheit fest, sind Glaubenskämpfe unvermeidlich, denn jeder meint, die wahre Wirklichkeit erkannt zu haben, in Händen zu halten und sie dann auch noch gegenüber anderen verteidigen zu müssen. Die Komplexität des Lebens, sein unentwegter Wandel und seine Weiterentwicklung jedoch gehen nicht in einem Konzept auf. Ein statisches Welt- und Lebensbild ist nur eine Scheinsicherheit für uns Menschen. Halten wir an ihm fest, stürzt uns diese Haltung unweigerlich ins Leiden.

Zum Glück gab es auch immer wieder weise Menschen, die es sich zur Aufgabe machten, diesen irrigen Vorstellungen entgegenzutreten und sich für Buddhas Weisheit einzusetzen. Sie machten sich selbst auf den Weg, die Wirklichkeit genau wahrzunehmen und hinzusehen auf das, was Buddha mit seinen Aussagen zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung und zur Leerheit wirklich ausgedrückt hat. Sie versuchten, die Irrlehren aus ihrer Verengung wieder herauszuführen. Einer der ganz großen Interpreten, der Buddhas Lehre durch seine präzisen Ausführungen wieder ins rechte Licht rückte, war Nāgārjuna mit seinem Mittleren Weg. Dieses Werk ist für fast alle buddhistischen Linien des späteren Mahāyāna in Indien, des Chan in China, des Zen in Japan und des tibetischen Buddhismus von entscheidender Bedeutung.

Yudo Seggelke greift es in seinem Buch auf und vertieft mit Nāgārjunas Ausführungen die Lehren Buddhas. Aber er bleibt hier nicht stehen, er geht noch weiter und bereichert Nāgārjunas Aussagen mit denen von Dōgen aus dem Shōbōgenzō. Aber dies macht er nicht, um die Texte nur in einen neuen Zusammenhang zu setzen. Er stellt sie nicht um ihrer selbst willen dar. Ihm ist wichtig darzulegen, dass es Nāgārjuna und Dōgen wie Buddha nicht um intelligente philosophische Ideen als solche ging, sondern dass für sie die Befreiung und die Entwicklung der Menschen im Mittelpunkt standen. Der Autor sieht damit diese großen Interpretationen nicht nur innerhalb des Buddhismus als wertvoll an. Er gibt den Schriften eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Menschen auch bei uns im Westen.

Wir sind heute oft festgefahren in unseren Meinungen, kämpfen für unsere Überzeugungen und geraten immer tiefer in kriegerische Auseinandersetzungen. Die Schriften dieser alten Meister können uns wachrütteln. Sie verweisen auf eine Weisheit, die sich jenseits von Meinungen und Begriffen entfaltet.

Yudo Seggelke zeigt mit seinem Buch auf: Wir brauchen ein neues Verstehen, das über die Begrifflichkeiten hinausgeht. Die Begriffe müssen für uns lebendig werden, uns erfassen und in uns wirksam werden. Dieses Verstehen fordert von uns, dass wir unser Verstehen mit dem bewertenden und unterscheidenden Denken zurücknehmen und in ein „Nicht-Denken“ kommen. Dies hat mit Unwissenheit oder Dumpfheit nichts zu tun, im Gegenteil. Bei dem „Nicht-Denken“ geht es um ein aktives, ganz waches Wahrnehmen dessen, was ist, ohne es mit unseren Benennungen einzuengen. Um die Weisheiten, die Buddha und in seiner Nachfolge Nāgārjuna und Dōgen lehrten, zu durchdringen und wirklich zu verstehen, brauchen wir einen Paradigmenwechsel. Verstehen muss aus dem eigenen Erleben heraus entwickelt werden.

Bereits Buddha und ebenso Nāgārjuna und Dōgen wollten schon damals nicht nur als Philosophen verstanden werden, sondern ihre Lehren sollten lebendig sein und den Menschen die Basis geben, sich zu entwickeln. Die Entfaltung des Mittleren Weges sollte die Menschen aus den unheilsamen Extremen herausführen. Das Verharren bei einem „entweder – oder“ sollte vermieden werden, stattdessen sollte alles in seiner wechselseitigen Abhängigkeit und seiner Leerheit erkannt werden. Es ist das Nicht-Wissen, das am Anfang der Kette des Leidens steht, die Unkenntnis der Zusammenhänge des Lebens, die uns in die Gier und den Hass treibt.

Aus ihnen herauszufinden bedarf es daher der tiefen Einsicht in die Leerheit und die wechselseitige Abhängigkeit allen Seins und Werdens. Diese zu erkennen, dafür bedarf es der Achtsamkeit. Dieses Wort ist heute in jedermanns Munde, und doch wird oft nicht wirklich verstanden, worum es dabei geht. Die Achtsamkeit besteht aus zwei Aspekten: Einerseits geht es bei ihr um die Aufmerksamkeit, das heißt, den Ablenkungen des Geistes nicht zu folgen, und gleichzeitig um das Gewahrwerden dessen, was ist, ohne die eigenen Vorstellungen und Bewertungen auf die Dinge zu legen. In dieser Geisteshaltung entfaltet sich ein Verstehen der Zusammenhänge des Lebens.

Diese Achtsamkeit zu praktizieren, dafür steht die Zazen-Praxis. Sie zeigt sich als das direkte Handeln im Hier und Jetzt, und darin offenbart sich eine neue Wirklichkeit. Dieses unmittelbare, ganz natürliche Handeln ist absichtslos und frei von unheilsamen Vorstellungen und Erwartungen.

Yudo Seggelke beginnt mit Buddhas Kernaussagen, sie untermauert er mit Nāgārjunas Mittlerem Weg und setzt sie zu Dōgens Shōbōgenzō in Beziehung. Durch seine Akzentuierung und seine Erläuterungen werden seine Ausführungen zu einem Impuls für unseren Weg im Westen. Die wechselseitige Abhängigkeit, die Leerheit, die Kausalität geben uns die Aufgabe auf, genau hinzusehen, wie sehr wir doch an festen Vorstellungen von eigenständigen Entitäten haften und uns damit den Weg der Offenheit und Freiheit versperren. Gleichzeitig sollten wir erkennen, wie sehr alles miteinander in der ganzheitlichen Wechselwirkung verbunden ist und wir dadurch das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht verdunkeln dürfen.

Yudo Seggelke greift die großen Fragen der heutigen Zeit auf und bezieht sie auf die großen Erkenntnisse Buddhas und seiner genialen Nachfolger Nāgārjuna und Dōgen. Ich gratuliere ihm zu diesem Buch, das uns einen wunderbaren Einblick in den Mittleren Weg schenkt und dabei unsere Fragen nicht außer Acht lässt.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich beim Lesen dieses Buches inspirierende Sternstunden.



Dienstag, 9. April 2019

Buddhas Morgen-Stern: Befreiung von Stress und Einsamkeit


Bitte anklicken und genießen
Die Einsamkeit ist nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen die häufigste Todes-Ursache der modernen Welt, in der wir leben. Sie sei schmerzhaft, ansteckend und tödlich, wie der bekannte Psychiater und Gehirnforscher M. Spitzer kürzlich in einem aufrüttelnden Buch zu dieser Krankheit geschrieben hat. Und: Das Zentrum im Gehirn für Schmerzen und Leiden ist genau das selbe wie für die Einsamkeit. Einsamkeit ist Leiden. Wie Buddha lehrt, verliert der Mensch im Leiden seine Mitte und seine Lebenskraft, auch wenn er vereinsamt ist. Er ist in einer Negativ-Spirale der Depression, Kraftlosigkeit und verliert sein Selbst-Vertrauen, seinen Lebensmut und seine Kreativität. Und das gelte nicht nur für Alte und Alleinstehende. Wie können wir diese Spirale verlassen, was kann man also dagegen tun?

Zum Beispiel kann man anderen Menschen mit seine eigenen Möglichkeiten helfen, Boddhisattva-Handeln. Aber behalten Sie dabei Ihre Mitte. Dann schaffen Sie Gemeinsamkeiten und ermöglichen gemeinsame positive Entwicklung in Wechselwirkung, wie Buddha es ausdrückt (pratitya samutpada). Eine andere wirkungsvolle Befreiung von Einsamkeit, Leiden und Stress erfahren wir, wenn wir in die Natur gehen.

Die Natur hat erstaunliche heilende Kräfte gerade auch für Einsame und Leidende: Sie lässt unsere Mitte gesunden und eröffnet uns den Zugang zum Mittleren Weg, der im Buddhismus so wichtig ist: Die Extreme der Einsamkeit, Depression und der falscher isolierten Illusionen kommen dann zu Ruhe. Verzerrende Gefühle und einseitige Doktrinen der eigenen Minderwertigkeit verlieren ihre Kraft.

Von Buddha wird Folgendes berichtet: Beim Anblick des leuchtenden Morgensterns erwachte er aus dem "normalen" gebeutelten Leben und erlangte in der Natur die größte mögliche Freiheit des Menschen. Er saß dabei an einem fließenden Bach unter einem schützenden Baum. In manchen Zen-Geschichten wird berichtet, wie Menschen in der Natur die große Erleuchtung erlebten, etwa beim Anblick eine Tales voller blühender Pfirsichbäume. Und Meister Dogen sagt: Wer in der Natur erwacht, der fällt nicht zurück in Unklarheiten und sinnloses Leiden.

Wie formulierte mein Lehrer Nishijima Roshi Buddhas Erwachen?: "Gautama Buddha hatte am eigenen Leibe erfahren, dass ein asketisches Leben völlig sinnlos ist, um Erleuchtung zu erlangen, und darüber hinaus nur eine schwere körperliche und geistige Zerstörung anrichtet. Daher verließ er das asketischen Lebens in aller Entschiedenheit.

Als Gautama Buddha sich dann am Ufer des Flusses Nairanjana entlang schleppte, bemerkte ein kleines Mädchen mit Namen Sujata seinen siechen und bemitleidenswerten Zustand und gab ihm zu essen.  Er begann nun auf einem neuen Weg nach der Wahrheit zu streben, indem er bei der Yogapraxis anknüpfte.

Er benutzte dabei eine Yogahaltung, die als die beste und wirkungsvollste erfahren wird. Diese Sitzpraxis ist dieselbe, die bis in die heutige Zeit beim Zazen verwendet wird. Nachdem er diese Übung konsequent fortgesetzt hatte, saß er an einem Morgen im Zazen und bemerkte mit einem Mal, dass er nicht mehr im Bereich der Gedanken, Vorurteilen, der Sorgen und nicht in einer vordergründigen Welt der materiellen Dinge weilte, sondern dass er ganzheitlich  im Bereich der Wirklichkeit lebte. Diese Wirklichkeit war die Wahrheit, die er so lange gesucht hatte." Welche Freude!


Und weiter: "Im Shobogenzo von Meister Dogen heißt es: ´Berge, Flüsse und die Erde sind zur Wahrheit geworden´. Daher können wir verstehen, dass Gautama Buddha plötzlich die klare eindeutige Erfahrung machte, dass diese Welt genau die Wirklichkeit ist und dass diese Welt genau die Wahrheit selbst ist. Was wir genau im gegenwärtigen Augenblick tun, ist diese Wahrheit. Dies ist eine einfache Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick und dies ist genau das Erwachen."

Ich möchte hinzufügen: Die eigene gute Veränderung und Befreiung gelingt durch Freude, Wiederholung und Flow. Bleiben wir dran! Und Zazen ist eine Yoga-Haltung und keine "Geist-Meditation" der Konzentration. Es kommt vor Allem auf die gute körperliche Haltung an, also das Rückgrat wirklich senkrecht halten. Unsere ganzheitliche Sanierung ereignet sich so über die körperliche Yoga-Haltung. Das entlastet Geist und Psyche.

Durch die Erfahrung der Ganzheit mit der Natur finden wir unsere heilende Mitte und befreien uns von Stress und Einsamkeit. Wir kommen wieder zurück zu den Menschen.

Warum gehen Sie jetzt im Frühling nicht einmal zum Meditieren in die Natur, wenn der Morgenstern leuchtet?

Dazu auch mein Buch: Umwelt-Zen. Im Auge des Zen, Bd. 3, DONA-Verlag Berlin

Montag, 1. April 2019

Ist Erwachen ein kreativer Prozess ?



Kürzlich haben wir uns auf einer Sesshin in einem Blockhaus in Schleswig-Holstein Klarheit über Kreativität und Buddhismus verschaffen wollen. Denn zur Befreiung und zum Erwachen benötigen wir sicher Kreativität und Gleichgewicht beim guten Handeln. Kann man überhaupt ohne Kreativität sinnvoll handeln? Ich halte das für unmöglich!

Was hat nun Buddha in den Sieben Faktoren des Erwachens, also der Erleuchtung, authentisch und verlässlich an uns übermittelt? Dies sind die Faktoren des Erwachens:

Lacht die Schildkröte? Bitte anklicken


Buddha nennt zuerst die Achtsamkeit, also die genaue Beobachtung der eigenen Gefühle, Gedanken usw.: deren Entstehen, Dasein und Vergehen (verkürzt):

„Da erkennt ein Mensch, wenn in ihm das Erwachen der Achtsamkeit da ist: In mir ist (jetzt) die Achtsamkeit da‘.“


Diese Achtsamkeit wird im Zen-Buddhismus auch Klarheit des Augenblicks genannt.

Buddha nennt dann die Freude, denn sie ist für das Erwachen besonders wichtig. Wir wissen aus der Kreativitätsforschung, dass Freude, Gleichgewicht und Gelassenheit von zentraler Bedeutung für gelingende Kreativität ist. Wir sind kreativ und uns fällt wirklich Neues ein, wenn wir gut drauf sind. Es ist also unsinnig zu behaupten, dass wir durch Negativität, Stress, Einsamkeit, Klagen, Empörung und Rechthaberei erwachen können. Im Gegenteil, die erforderlichen wirksamen Lernprozesse auf dem Weg zur Befreiung sind ganz wesentlich durch Freude und Kreativität gekennzeichnet.

Ein weiterer Faktor des Erwachens ist Energie, Power und Ausdauer. Ein erwachender Mensch entwickelt Initiative zum Handeln und zu kreativen Tätigkeiten durch Achtsamkeit, Freude und Kraft. Von großer Bedeutung beim Erwachen sind außerdem die Meditation, die meistens als Sammlung bezeichnet wird, wie Zazen. Meditation ist heute besonders wirksam gegen Stress, Zweifelsucht  und Unruhe. Ganz wichtig zum Erwachen  sind außerdem Genauigkeit und Gleichmut.

Buddha warnt uns im Gegensatz dazu vor den Hemmnisse und Blockaden des kreativen Erwachens. Diese Hemmnisse sind zentrale Blockade-Prozesse der Befreiung und Emanzipation des Menschen. Dann kann es kein Erwachen und keine Erleuchtung geben. Welches sind solche Hemmnisse?
 
Übelwollen, Erstarren und Trägsein, Aufgeregtheit und Unruhe sowie Zweifelsucht.

Wer bei diesen Blockaden hängen bleibt, kann sich nicht befreien und sich nicht emanzipieren! 

Dann würde nämlich die Kreativität, die zum Erwachen gerade so wichtig ist, unterdrückt und zerstört. Das Kreative in uns könnte sich überhaupt nicht entwickeln. Daher sind nach Buddha das Erwachen und die Freude wirklich kreative Prozesse und von zentraler Bedeutung für unsere spirituelle Befreiung, Weiterentwicklung und Emanzipation.

Wir sollten uns daher fragen: Was sind unsere Hemmnisse und wie entwickeln wir dagegen Freude und Kreativität in unserem Leben hier und jetzt? Es hat sich dabei bewährt, zu meditieren, anderen in Schwierigkeiten zu helfen, Gemeinsames zu unternehmen und in die Natur zu gehen. Das macht echt kreativ und unterstützt das Erwachen.