Donnerstag, 26. Juni 2008

Leben-und-Tod und die Befreiung im Buddhismus

In dem kurzen aber außerordentlich wichtigen Kapitel über Leben und den Tod in der Wirklichkeit des Buddhismus (Kap. 92, Shoji ) beschreibt Dogen sein Verständnis dieses wichtigen Themas. Der Tod wird bekanntlich in der modernen westlichen Welt wenig behandelt und ist weitgehend tabuisiert.


Er wird als große Katastrophe des Lebens gekennzeichnet und aus dem Leben weitgehend verbannt. Nur in der virtuellen Schein-Welt der Medien von Film, Fernsehen und Playstation werden Morden und Sterben verfremdet und sensationell hergerichtet zur alltäglichen Unterhaltung dargeboten. Die Gedanken von Alter und Tod sind in einer materialistischen auf die Jugend fixierten Lebenswelt in der Tat schwer zu ertragen und werden folgerichtig aus dem Alltag weitgehend ausgeblendet. Kann hier die Lehre Gautama Buddhas Lösungen anbieten, die das damit verbundenes psychische und physische Leiden überwinden oder zumindest erträglich machen? Dies war eine zentrale Schicksalsfrage des jungen Gautama, die ihn schließlich in die Hauslosigkeit gehen ließ, indem er sein angenehmes und wohlhabendes Leben beendete.

Dogen bearbeitet dieses Thema auf der Grundlage seiner umfassenden buddhistischen Praxis und Lehre, die in anderen wesentlichen Kapiteln seines vierbändigen Werkes Shobogenzo dargelegt werden. Gerade bei der stark mit Emotionen und Ängsten besetzten Frage des Todes und des leidvollen Lebens sagt er, dass ein intellektuelles nur theoretisches Verstehen dessen, was Tod und Leben ist, unzureichend sei. Leben und Tod seien im Hier und Jetzt eingebettet und die Wirklichkeit in unserem täglichen Leben und Handeln selbst. Vor allem geht es ihm darum, dass Leben und Tod in der ganzen Wirklichkeit nur im Augenblick der Gegenwart geschehen und dass Vorstellungen, Gefühle, Ängste und Worte nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden dürfen.

Das japanische Wort Shoji kann nicht wörtlich übersetzt werden, da wir im Westen in allen Sprachen zwei getrennte Worte, nämlich „Leben“ und „Tod“ haben, die immer als vollständig getrennt gedacht werden. Dies betont besonders R. Elberfeld in seiner Übersetzung dieses Kapitels. Im Einklang mit Nishijima Roshi wollen wir daher diese Einheit durch eine Schreibweise mit Bindestrich „Leben-und-Tod“ verdeutlichen. So lautet auch die englische Überschrift dieses Kapitels.
Da das Kapitel über Leben-und-Tod im Shobogenzo relativ kurz ist, aber eine zentrale Bedeutung hat, soll im Folgenden die englische Fassung von Nishijima/Cross vollständig ins Deutsche übersetzt und deren Verständlichkeit durch Klammer-Zusätze und Kommentare verbessert werden. Wenn Leben und Tod ohne Bindestrich geschrieben werden, ist damit die gewöhnliche Vorstellung und gedachte Realität gemeint, die Leiden verursacht und durch den Buddha-Dharma überwunden wird. Dogen betont im Folgenden, dass auch der Begriff und ein gedachter Buddha nicht ausreichen, denn sie sind keine Wirklichkeit im Augenblick des Hier und Jetzt. Dogen formuliert wie folgt:

„Weil es im Leben-und-Tod Buddha (als Wirklichkeit) gibt, gibt es nicht Leben und Tod (nur als Idee und Theorie, die keine Wirklichkeit sind). Wir können auch sagen: Weil in (einem solchen) Leben-und-Tod gerade nicht (die Idee und Theorie eines) "Buddha" vorhanden ist, sind wir nicht im (wirklichen) Leben-und-Tod verunreinigt.“

In diesem Absatz wird die buddhistische Wirklichkeit von Leben-und-Tod der gewöhnlichen Vorstellung des Lebens und des Todes gegenüber gestellt und unterschieden. Wenn Leben-und-Tod als Wirklichkeit im menschlichen Leben erfahren werden, so muss dies aber auch von der buddhistischen Lehre und dem Begriff “Buddha“ unterschieden werden.

„(Diese) Bedeutung wurde von (den Meistern) Kassan und Jozan ausgedrückt. (Dies) waren die Worte zweier Zen-Meister und es waren die Worte von Menschen, die die Wahrheit erlangt hatten. Daher ist entschieden festzustellen, dass sie nicht vergeblich niedergelegt (und an uns übermittelt) wurden.“

Meister Kassan ist bekannt dafür, dass er selbst viele Jahre damit gerungen hatte, Worte und buddhistische Wirklichkeit zu trennen. Als er später selbst Meister und Leiter eines Klosters geworden war, legte er darauf beim Buddha-Weg und dem höchsten Zustand des Erwachens den größten Wert. Sein Entwicklungsgang ist in einem sehr wichtigen Koan-Gespräch im Shinji Shobogenzo, Buch 1, Nr. 90 geschildert und wurde von Nishijima Roshi ausführlich kommentiert.

„Ein Mensch, der sich vom Leben und Tod befreien will, sollte genau diese Wahrheit erhellen. Wenn jemand nach Buddha außerhalb von Leben-und-Tod sucht, ist es dasselbe, als wenn ein Wagen mit seiner Deichsel nach Norden gerichtet ist, um in (das südliche Land) Etsu zu fahren. Dasselbe gilt, wenn man nach Süden schaut und hofft, den nördlichen Polarstern zu sehen.“

Dogen will damit bildhaft und eindeutig sagen, dass beides völlig unsinnig ist. Die Befreiung von Leben und Tod als Leiden könne nur durch die Wirklichkeit von Leben-und-Tod in der Wirklichkeit des Buddha-Dharma erreicht werden.

„Dies bedeutet, dass man so mehr und mehr (bindende) Ursachen von Leben und Tod (als Leiden) anhäuft und vollständig den Weg der Befreiung verloren hat. Wenn wir verstehen, dass nur Leben-und-Tod (als Buddha-Dharma) selbst das Nirvana sind, trifft es nicht mehr zu, dass man das Leben und den Tod hasst und das Nirvana erstrebt. Dann existieren zum ersten Mal die (wahren) Hilfsmittel, um sich von Leben und Tod zu befreien.“

Durch die falschen Vorstellungen von Leben und Tod verhärten sich diese nach Dogen immer mehr in einem selbst verstärkenden Prozess des Lebens. Er versteht Nirvana nicht als Hoffnung auf ein jenseitiges Paradies nach dem Tod, sondern als Teil des wirklichen Lebens im gegenwärtigen Augenblick. Ein solcher höchster Zustand ist das Erwachen zur Gegenwart.

„Es ist ein Fehler, wenn wir dies so verstehen, dass wir uns von der Geburt als dem Anfang zum Tod (als dem Ende) bewegen. Geburt ist ein Zustand in einem Augenblick und dieser hat für sich eine Vergangenheit und wird eine Zukunft haben. Aus diesem Grund wird im Buddha-Dharma gesagt, dass (im gegenwärtigen Augenblick) das Erscheinen genau das Nicht-Erscheinen ist (, denn sie fallen im Augenblick zusammen). Auslöschen (und Tod) sind ein Zustand in einem Augenblick, der auch eine Vergangenheit und Zukunft hat.“

Wie im Kapitel „Sein-Zeit“ (Uji) erklärt wird, gibt es im Augenblick kein Erscheinen und auch nicht die Vorstellung des Nicht-Erscheinens. Die gegenwärtigen Augenblicke des Lebens sind damit unabhängig und stehen für sich selbst. Es ist unsinnig zu sagen, dass sie entstehen, da dies nur gedacht ist.

„Dies ist der Grund, warum gesagt wird, dass Verschwinden genau das Nicht-Verschwinden ist.“
Was für das Erscheinen gilt, trifft genau so für das Verschwinden und Vergehen zu, deren Vorstellung im Augenblick ebenfalls keinen Sinn macht.

„In der Zeit, die Leben genannt wird, gibt es nichts außerhalb des Lebens. In der Zeit, die Tod genannt wird, gibt es nichts außerhalb des Todes. Wenn daher das Leben kommt, ist es genau das Leben und wenn der Tod kommt, ist es genau der Tod. Sagt nicht, wenn ihr dem gegenübersteht, dass ihr Sklave von (Leben und Tod) seid und werdet nicht durch Wünsche an sie gefesselt.“

Damit wird gesagt, dass das Leben sich im Augenblick voll und ganz verwirklicht. Wir sollen uns weder gedanklich noch emotional an Leben oder Tod klammern.

„Dieses Leben-und-Tod ist genau das heilige Leben des Buddhas. Wenn wir es hassen und es loswerden wollen, ist es dasselbe, als wenn wir das heilige Leben Buddhas verlieren wollen. Wenn wir darauf fixiert sind und wenn wir an Leben-und-Tod anhaften, ist dies auch dasselbe, als wenn wir das heilige Leben Buddhas verlieren.“

Wir sollen uns auch nicht auf die Theorie und Lehre von Leben-und-Tod fixieren und damit die Wirklichkeit verdecken. Darauf hat nicht zuletzt Meister Kassan hingewiesen.

„Wir konzentrieren uns ganz auf die Bedingung von Buddha. Wenn wir ohne Abneigung und ohne Sehnsucht sind, dann treten wir zum ersten Mal in den (wahren) Geist Buddhas ein. Aber bedenkt dies nicht (nur) mit dem (verstandesmäßigen) Geist und sagt es nicht in Worten!
Wenn wir genau unseren eigenen Körper und unseren eigenen Geist loslassen und sie in das Haus Buddhas werfen, werden sie von der Seite Buddhas in Handeln umgesetzt. Wenn wir dies dann fortlaufend befolgen, ohne irgendeine Gewalt auszuüben und ohne unseren Geist (intellektuell) zu benutzen, werden wir frei von Leben und Tod und wir werden Buddha. Wer würde (dabei nur) im (denkenden) Geist verweilen?

Es gibt einen sehr einfachen Weg Buddha zu werden:

Kein Unrecht zu erzeugen, ohne Anhaftung an Leben-und-Tod zu sein, tiefes Mitgefühl für alle Lebewesen zu haben, die über uns Stehenden zu ehren und Mitleid für die unter uns Stehenden zu empfinden. Wir sollten frei vom einem Geist sein, der Abneigung gegenüber den tausend Dingen (dieser Welt) hegt und frei sein von dem Geist, der sie begehrt. Der Geist, der ohne Denken und ohne Gram ist: dieser wird Buddha genannt. Suche nichts anderes.“

In dieser Aufzählung wird zuerst auf das moralische Handeln verwiesen und das Mitgefühl angesprochen. Dann wird der Zustand des Gleichgewichts und des Mittleren Weges betont, der frei von Hass und Abhängigkeit ist und nicht in träumerische Romantik abgleitet. Dabei wird die buddhistische klare Intuition von dem gewöhnlichen unterscheidendes Denken abgegrenzt. Auch emotionaler Gram widerspricht der positiven buddhistischen Wirklichkeit, die nicht zuletzt im Lotos-Sutra großartig beschrieben wird.

Donnerstag, 19. Juni 2008

Die wirkliche Form aller Dharmas (Teil 2)

Im Fortgang dieses Kapitels wiederholt Dôgen mit Nachdruck noch einmal, dass alle Dharmas von den Buddhas allein und zusammen mit den Buddhas vollständig verwirklichen können, dass die Natur, der Körper, die Energie, das wirkliche Handeln, die wirklichen Ursachen, die wirklichen Bedingungen, die wirklichen Wirkungen und die wirklichen Ergebnisse sind.

Großer Buddha in Leshan, China


Er sagt weiter:

„Weil die Existenz der Wahrheit so wie diese ist, sind die Buddha-Länder der zehn Richtungen nur allein die Buddhas zusammen mit den Buddhas.“

Und dies gelte für alle und sogar für deren Hälfte also immer und auf jeden Fall.
Dôgen zitiert Gautama Buddha auf der Grundlage des Lotos-Sûtras wie folgt:
„Ich und die Buddhas der zehn Richtungen sind direkt in der Lage diese Dinge zu wissen.“

Danach bezieht er alles Gesagte auf den Augenblick der Gegenwart, sagt dass alles je im Hier und Jetzt vollständig erkannt und verwirklicht wird. Es geht ihm in diesem Kapitel in ganz besonderer Weise darum, die Wirklichkeit selbst anzusprechen und nicht in allgemeinen Überlegungen, Theorien und schönen Worten hängen zu bleiben. Dabei wird die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben, so als ob ein „Mensch sich selbst im Wasser gespiegelt sieht und das Spiegelbild den Menschen sieht“. Er bezieht die Dharma-Übertragung und Bestätigung mit ein und sagt:

„Die Buddhas empfangen zusammen den Dharma zum Guten für die Buddhas, die zusammen sind.“

Dies gilt für Leben-und-Sterben und Kommen-und-Gehen, die damit wirklich existieren. Er sagt weiter:

„Auf dieser Basis existiert das Streben des Geistes, der Übung und von Leben und Nirwana.“
Dabei erfassen wir diese Wirklichkeit und halten sie fest und lassen sie ein andermal wieder los:
Mit diesem Lebensblut öffnen die Blumen und werden die Früchte entwickelt. Mit diesen Knochen und diesem Mark existieren Mahâkâshyapa und Ânanda. Die Formeln des Windes und des Regens, des Wassers und des Feuers wie sie sind, sind die vollkommene Verwirklichung von sich selbst.“


Er sagt, dass wir das Gewöhnliche und das Heilige auf der Grundlage dieser konkreten Körper-Energie umwandeln. Dies gilt auch für die ganz konkreten Wirkungen-und-Ursachen, die nicht voneinander getrennt werden können. Wir überschreiten dann nach Dôgen sogar die Buddhas und Vorfahren im Dharma. Auf der Grundlage dieser unmittelbaren Ursachen-und-Wirkungen wird der Erdboden in Gold umgewandelt. In gleicher Weise wird der Dharma übermittelt und die Robe weitergegeben.

Dôgen zitiert dann Gautama Buddha aus dem Lotos-Sûtra und dieser spricht davon, dass wir „das Siegel der wirklichen Form für die anderen Menschen lehren“. Dabei ist das umfassende und intuitive Lehren, Zuhören und Verstehen gemeint, indem wir „mit den Augen hören“ und mit den „Ohren sehen“. Damit wird auch unterstrichen, dass es nicht um das angehäufte Wissen für sich selbst geht, sondern dass die Lehre für die anderen maßgeblich ist, um sie auf den Buddha-Weg zu führen.

Der höchste Zustand und die Verwirklichung selbst werden mit dem Lotos-Sûtra gleichgesetzt, denn in diesem Sûtra geht es nicht um erbauliche Geschichten und märchenhafte idealisierte Welten. Das Sûtra ermöglicht den Handelnden, dass sie die „geschickten Mittel“ eines Bodhisattva zur Verfügung haben und anderen damit helfen.
Er zitiert Shâkyamuni Buddha:

Das höchste und vollkommene Erwachen (Anuttara samyak-sambodhi) aller Bodhisattvas ist ganz mit diesem Sûtra verbunden. Dieses Sûtra öffnet das Tor der geschickten Mittel“.

Bodhisattvas sind nach Dôgen

„nicht zwei Menschen, sie sind jenseits vom Selbst und von anderen. Sie sind auch keine Persönlichkeiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern Buddha zu werden ist ihr Dharma-Verhalten, indem sie den Bodhisattva-Weg praktizieren.“

Dôgen betont, dass die Buddhas und Bodhisattvas immer weiter praktizieren und sich damit von den gewöhnlichen Menschen unterscheiden. Er bezeichnet die geschickten Mittel als Tor des Lernens und der Praxis des ganzen Universums und nicht als etwas Vorübergehendes und Ausgedachtes. Am Ende dieses theoretischen und grundsätzlichen Abschnitts dieses Kapitels sagt Dôgen:

„Obgleich dieses Tor der geschickten Mittel sich so offenbart, dass es das ganze Universum der zehn Richtungen mit dem (wirklichen) Universum der zehn Richtungen abdeckt, sind jene, die sich von allen Bodhisattvas unterscheiden, nicht in ihrem Weltraum.“

Er zitiert dann den großen Meister Seppo, den er sehr schätzte:

„Die ganze Erde ist das Tor der Befreiung, aber die Menschen wollen nicht hineingehen, selbst wenn man sie drängt und zieht.“

Damit wird die Schwierigkeit angesprochen den gewöhnlichen Menschen das Glück und die Befreiung der buddhistischen Lehre nahe zu bringen und sie zu motivieren, selbst zu praktizieren und sich in die Lehre immer tiefer einzuarbeiten. Es hat wenig Sinn, dass ein Lehrer versucht, einen Schüler mit Gewalt zu bedrängen, denn das Streben nach der Wahrheit und Befreiung muss wesentlich in dem Menschen selbst angelegt sein. Der Lehrer kann zwar dabei helfen und die guten und richtigen Impulse aufgreifen und fördern, aber ohne die eigene Kraft und Initiative kann man in „das Tor der Befreiung“ nicht eintreten. Dieses ist gleichzeitig das Tor der geschickten Mittel, die im Lotos-Sûtra eingehend beschrieben werden.

Dôgen bedauert, dass in den letzten 200 bis 300 Jahren viele falsche Lehrer den wahren Kern des Lotos-Sûtra weder erfasst haben noch richtig lehren konnten. Oft hätten sie die Form von dem Inhalt und Sinn abgetrennt und damit die in diesem Kapitel behandelte wirkliche Form vollständig missverstanden. Auch Meister Nagarjuna betont gleichlautend in einem besonderen Kapitel des MMK die Einheit von Inhalt und Form und verwirft eine Unterscheidung, die weder dem Inhalt noch der Form gerecht werde.

Dann zitiert er den Zen Meister O-an Donge, der 1163 starb, also einer späten Phase des chinesischen Buddhismus angehört. Dieser lehrte nach der Überlieferung einen Mönch mit dem Namen Tokki:

Wenn du auf einfache Weise (den Buddha Dharma) verstehen willst, beobachte 24 Stunden (des Tages) lang nur den Zustand, wenn der Geist erscheint und sich die Bilder bewegen.“ Weiter sagte er: „Außerdem ist dies ohne räumliche Form und Abgrenzung. Außen und Innen sind eine Einheit.“ …“Diejenigen, die diesen Zustand erreicht haben, heißen Menschen, die in der Wahrheit leicht und unbeschwert sind, die aufgehört haben zu studieren und frei in ihrem Tun sind.“

Dôgen kritisiert diesen Meister O-an, weil er sich zwar bemüht habe, das Wesentliche der wirklichen Form und des Buddha Dharma auszudrücken, aber dabei nicht zum Kern vorgestoßen sei. Das Beobachten der kommenden und gehenden Gedanken und der aufsteigenden und vergehenden Bilder im Geist sei nicht die volle Wirklichkeit. Genauso sei die Formulierung „innen und außen“ missverständlich, da sie die umfassende Wirklichkeit nicht beschreibt. Auch die Zeitstrecke von 24 Stunden eines Tages entspräche nicht der Wirklichkeit des Augenblicks im Hier und Jetzt, sondern sei an Vorstellungen und gelernten Denkgewohnheiten der linearen Zeit gebunden. Trotzdem lobt er schließlich den Meister O-an im Verhältnis zu vielen anderen Lehrern dieses Zeitalters, da er wenigstens einen Teil der Wirklichkeit von der wahren Form gelehrt habe.

Am Ende des Kapitels zitiert Dôgen seinen eigenen Meister Tendo Nyojo, den ewigen Buddha, der anders als die Meister im damaligen China des Nachts informelle Lehrreden und Lehrgespräche mit seinen Mönchen abhielt. Dôgen schildert dabei seine eigene tiefe Bewegung und beschreibt recht genau, wie er nachts in den Raum des Meisters ging und vorher ein Räucherstäbchen anzündete. Er erwähnt, dass die Mönche möglichst frühzeitig zu diesem Treffen mit dem Meister kamen, um auch die Fragen der anderen Mönche und die Antworten des Meisters hören zu können. Er zitiert dessen Gedicht:

„Es gibt (sanfte) Kälber heute Nacht auf dem Berg Tendo.
Gautamas goldenes Antlitz offenbart wirkliche Form.
Wie könnten wir dessen unermesslichen Wert begleichen, wenn wir es erwerben wollten?
Der Ruf des Kuckucks, darüber eine einzelne Wolke.“


Der Begriff „sanfte Kälber“ wurde für die friedlichen Mönche verwendet, die sich in dem Kloster von Tendo Nyojo in der Sommernacht versammelt hatten. Der Kuckuck rief unmittelbar und wurde von allen direkt als Wirklichkeit wahrgenommen. Er ist Teil der wirklichen Form, die beim Hören nicht auf die sinnliche Wahrnehmung der Ohren beschränkt ist.

Es folgt eine Koan-Geschichte des großen Meisters Gensa, der Nachfolger von Meister Seppo war und häufig in ganz besonderer Weise die reale Wirklichkeit betonte und herausarbeitete. Dôgen schätzte diesen Meister sehr, und es gibt viele berühmte Koan-Geschichten von ihm. Als er die jungen Schwalben des Klosters zwitschern hörte, sagte er:

„(Dies ist) die tiefgründige Lehre und Sprache der wirklichen Form und sie lehrt hervorragend den wahren Kern des Dharma.“

Danach stieg er von seinem Meistersitz herab. Aber ein Mönch erwartete noch weitere Erklärungen von ihm und sagte: „Ich verstehe nicht.“ Der Meister sagte:
Geh fort! Niemand glaubt dir.“

Was soll damit gesagt werden? Dôgen erklärt im folgenden Text, dass man das Wesentliche und die Natur des Buddha Dharma nicht mit dem Verstand erfassen und mit Worten erschöpfend erklären kann. Die Aussage des Mönchs, dass er nicht versteht, was der Meister gesagt hat, kann bedeuten, dass er im Buddha Dharma noch nicht kundig ist. Es könnte aber auch bedeuten, dass er die Grenzen des Verstehens und unterscheidenden Denkens bereits erkannt und erfahren hat und damit einen wesentlichen Bereich des Buddha Dharma bereits erfasst hat.

Die Aussage: „ Geh fort“ erscheint zunächst etwas barsch, soll aber sicher heißen, dass es keinen Sinn macht, lange darüber zu sprechen, wie die Schwalben zwitschern, sondern dass man dies am besten direkt erlebt und erfährt. Es habe keinen Sinn, sich vielschichtige Gedanken zu machen und sich feinsinnig und vielleicht sogar spitzfindig darüber zu unterhalten, wenn die Wirklichkeit der zwitschernden Schwalben unmittelbar erfahren wird. Man sollte also den Schwalben genau zuhören, sich öffnen und mit ihrer Wirklichkeit verschmelzen und keine ablenkenden und störenden Unterhaltungen pflegen.

Die Aussage: „Geh fort!“ kann also auch bedeuten: „Komme zur Wirklichkeit im Hier und Jetzt der jungen zwitschernden Schwalben und dieses wunderbaren Sommertages!“.
Am Ende des Kapitels sagt Dôgen.

„Denkt daran, die wirkliche Form ist das wahre Lebensblut, das vom rechtmäßigen Nachfolger empfangen und an den authentischen Nachfolger weitergegeben wurde. Alle Dharmas sind der vollständig verwirklichte Zustand der Buddhas allein, zusammen mit den Buddhas. Und der Zustand der Buddhas allein zusammen mit den Buddhas ist die Schönheit der Form, wie sie ist.“

Montag, 16. Juni 2008

Die wirkliche Form aller Dharmas (Teil 1)

Meister Dôgen baute seine buddhistische Lehre wesentlich auf dem Lotos-Sûtra auf, dem er im Gegensatz zum landläufigen Verständnis eine neue Bedeutung und Tiefenschärfe gab.

Bailin Si in China



In den beiden Kapiteln, „Die Dharma Blume dreht die Blume des Dharma“ (Hokke ten Hokke ) und in diesem Kapitel (Kap. 50, Shohô jissô) ist es ihm in großartiger Weise gelungen, die Wirklichkeit und das Universum selbst in Worte zu fassen, soweit dies überhaupt möglich ist. Zweifellos hatte er damit einen inneren Widerspruch zu bewältigen, weil die Wirklichkeit und Wahrheit selbst nicht erschöpfend mit Worten beschrieben werden kann, da sie über Beschreibungen hinausgehen. Aber der verbale Ausdruck ist andererseits unbedingt notwendig, um den Buddha Dharma lehren und übermitteln zu können.

In dem Kapitel Hokke ten Hokke wird vor allem die Großartigkeit und Schönheit des Universums beschrieben und gesagt, dass die Wirklichkeit dieser Welt einer wunderbaren Lotos-Blume gleicht. Diese dreht sich und ist in dauernder Bewegung, also keinesfalls statisch und festgelegt. In diesem Kapitel wird die Wirklichkeit umfassend in einem gewaltigen Wurf beschrieben und gleichzeitig heraus gearbeitet, was Dôgen unter Dharma versteht. Dieser Begriff ist für das westliche Denken nicht einfach zu fassen, denn der Dharma bedeutet sowohl die Wirklichkeit des Lebens und Universums selbst als auch die buddhistische Lehre. Damit wird die Identität beider hervorgehoben. In der westlichen Philosophie ist im Allgemeinen das Denken von der Wirklichkeit getrennt und beschreibt eine eigene Welt. Nishijima Roshi nennt eine solche theoretische Lehre Idealismus, deren bedeutendste Vertreter sicher Plato und Hegel sind.

Die Dharmas werden wie in diesem Kapitel auch in der Pluralform verwendet und bedeuten dann die einzelnen Dinge und Phänomene der Wirklichkeit. Dazu gehören materielle Dinge, äußere Formen aber auch Gedanken, Bilder und Ideen. Darüber hinaus bezeichnet der Begriff Dharma und Phänomen den Sinn, die Bedeutung und die Bewertung. Derartige Phänomene würden wir heute auch dem Bereich der Psyche oder der Seele zuordnen.

Der japanische Titel dieses Kapitels enthält das Wort Sho, das Vielfalt, Alles und Vielfältiges bedeutet. Der Begriff bedeutet die Dharmas, also sowohl physische Dinge als auch geistige Phänomene. Jitsu bedeutet wirklich und real und das Wort bedeutet die Form. Daher lautet die Übersetzung des Titels: „Alle Dinge und Phänomene sind wirkliche Formen.“

Diese Form geht über die Sichtweise der Materialisten hinaus, die nur das rein Materielle und die äußere Form als Wirklichkeit anerkennen und damit nur einen Teil der buddhistischen Realität erfassen können. Im Buddha-Dharma wird das Handeln, der Augenblick und der höchste Zustand des Erwachens, der alle Lebensdimensionen umfasst und gleichzeitig übersteigt als große Wirklichkeit in der Welt verstanden und gelebt. Dôgen beschreibt dies in einem anderen grundlegenden großartigen Kapitel über die Verwirklichung des Universums, der Welt und des Menschen (Kap. 3 Genjo koan ). In diesem Kapitel entwirft er eine groß angelegte Gesamtlehre des Buddhismus und der Wirklichkeit auf der Grundlage des neu von ihm gedeuteten Lotos-Sûtra.

Viele verstehen dieses Sûtra als die Beschreibung einer wunderbaren, idealen Welt, also z. B. des Nirwana, die aus Edelsteinen, Gold, Silber, Blumen, wunderbaren Düften, schöner Musik und prachtvollen Farben besteht. Man könnte daher glauben, dass es sich um eine idealisierte Welt ohne Hässlichkeit, Böses, ohne Abgründe, ohne Verbrechen und ohne Betrug handelt und dass diese der „bösen“ Realität gegenübergestellt wird. Dôgen versteht das Lotos-Sûtra grundlegend anders: Er sagt, dass die Wirklichkeit selbst von wunderbarer Schönheit und Ausgeglichenheit ist, und der höchste Zustand des Erwachens, also die Erleuchtung, ist jedem zugänglich.

Damit sind die Beschreibungen im Lotos-Sûtra keine verklärten Bilder eines jenseitigen Paradieses und einer anderen idealen gedachten und erträumten Welt, sondern sie sind die in Worte gefassten Gleichnisse unsere Wirklichkeit, unseres Universums und eigenen Lebens im Hier und Jetzt. In einer solchen Realität wird der Gegensatz von äußerer Form und innerem Sinn aufgehoben, denn dieser besteht nur im Denken und bei theoretischen Überlegungen. Dôgen setzt die wirkliche Form mit den Dharmas, also der Vielfalt der Welt gleich. Er beschreibt alle Dharmas als Form, Natur, Körper, Geist, Welt, Wolken und Regen und sagt dazu:

“so wie sie sind“. Diese sind gleichzeitig auch Handeln: Gehen, Stehen, Sitzen und sich Niederlegen, so wie dieses Handeln ist. Auch Sorge und Freude, Bewegung und Ruhe sind die wirklichen Dharmas, wie sie sind. Weiterhin gehören dazu die Gegenstände der buddhistischen Zeremonien, nämlich der Zen-Stab und der Fliegenwedel und zwar genauso, wie sie sind. Dôgen zählt auch die sich drehenden Blume, das lächelnde Gesicht, die Weitergabe des Dharma, sowie dessen Bestätigung zu den Dharmas, so wie sie sind. Er erwähnt weiterhin das Lernen in der Praxis und das Streben nach der Wahrheit, genauso wie sie sind. Schließlich fügt er die Dauerhaftigkeit der Pinien und die Reinheit des Bambus, so wie sie sind, hinzu.

Er beschreibt also als die Wirklichkeit der Dharmas sowohl Dinge und materielle Gegebenheiten, Handlungen, psychische Bereiche wie Sorgen und Freude, Gegenstände der buddhistischen täglichen Zeremonien, aber auch die übermittelten Wahrheiten des Buddha Dharma wie das Drehen der Dharmablume und das Lächeln im Gesicht der Menschen. Das Streben und die Suche nach der Wahrheit, sowie das praktische Lernen und Studieren der buddhistischen Lehre sind genauso enthalten, wie die wunderbare Natur der Pinien und des Bambus. Psychische Phänomene und der Sinn des Lebens haben bei Dôgen die unbestrittene Qualität der Wirklichkeit und dies unterscheidet sich fundamental von dem Lebensverständnis der Materialisten.
Dôgen zitiert dann Shakyamuni Buddha aus dem Lotos-Sûtra:

„ Die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas können direkt vollkommen verwirklichen, dass alle Dharmas wirkliche Formen sind. Was „alle Dharmas“ genannt wird, sind Formen wie sie sind, die Natur wie sie ist, der Körper wie er ist, die Energie wie sie ist, das Handeln wie es ist, die Ursachen wie sie sind, die Bedingungen wie sie sind, die Wirkungen wie sie sind, die Ergebnisse wie sie sind und der höchste Zustand des Gleichgewichts, des Wesentlichen und der Einzelheit wie sie sind.“

Die Formulierung: „Wie es ist“ oder „Wie sie sind“ soll den direkten Bezug zur Wirklichkeit herstellen und geht über Worte und Denken der Lehre hinaus. Dogen zeigt mit seinen Worten also direkt auf diese Wirklichkeit. Nach seinem Verständnis und seiner Erfahrung handelt das Lotos-Sûtra nicht von Theorie und idealisierten Welten, sondern von der Wirklichkeit selbst, die von unglaublicher Schönheit und Vielfalt ist, wenn man sie sehen kann, wie sie ist.

Nach Dôgen äußert sich der höchste Zustand des Erwachens und des Gleichgewichts als Offenbarung und Ausdruck der wahren Natur der Dharmas. Sie sind dann ohne Verzerrungen und Verkürzungen als wirkliche Form klar intuitiv erfassbar. Dabei wird nichts weggelassen oder nichts hinzugefügt. Alles geschieht darüber hinaus im vollständigen Gleichgewicht und dem Lernen in der Praxis.

Anschließend betont Dôgen, dass die wirkliche Form aller Dharmas identisch ist mit der Bedeutung der Formulierung „die Buddhas allein, zusammen mit den Buddhas“ können dies vollständig erfahren. Das heißt, dass die Buddhas und die Vorfahren im Dharma, also die großen Meister in Indien und China für sich und zusammen dies alles vollständig erkennen und verwirklichen. Dôgen betont, dass wir dies alles nicht nur als eine Beschreibung verstehen sollen, sondern als die Wirklichkeit selbst. Die Form soll dabei nicht so gesehen werden, als ob sie ohne Sinn und Bedeutung sei, aber es ginge auch nicht allein um das „Wesen und die Essenz“, die formlos und unabhängig von der Materie sei. Er sagt wörtlich:

Wir bezeichnen den Zustand in dem alle Dharmas wirklich alle Dharmas sind als die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas, und nennen dies den Zustand, in dem alle Dharmas genau wirkliche Formen sind“.

Damit wird die Identität der Wirklichkeit, des Universums, der Welt und des Lebens mit den Buddhas ausgedrückt. Dann sei die wirkliche Form nur die wirkliche Form selbst. Wenn die Buddhas in dieser Welt allein und zusammen mit Buddhas erscheinen, ereignet sich das Lehren, die Praxis und die Erfahrung, dass alle Dharmas die wirklichen Formen sind.
Dôgen betont, dass dabei der Augenblick je im Hier und Jetzt die Wirklichkeit ist und dies sei die vollkommene Verwirklichung.

Er zählt im Folgenden die Bereiche und Begriffe, die schon am Anfang dieses Kapitels genannt wurden auf und verbindet sie mit der Augenblicklichkeit, in der allein die Wirklichkeit vorhanden ist und sich offenbart. Dies gilt also für die Form, die Natur, den Körper, die Energie, das Handeln, die Ursachen, die Bedingungen, die Wirkungen und Ergebnisse.
Dôgen distanziert sich damit von der Vorstellung, dass Ursache, Bedingungen und Wirkungen immer nur ein gedachter Zusammenhang sind. Dabei muss allerdings gesagt werden, dass häufig die wirklichen Ursachen gerade bei psychischen Phänomenen weitgehend unklar sind und scheinrationale Ursachen in unserem Bewusstsein sind.

Hier gibt es in der Tat wichtige Zusammenhänge zur Lehre von Sigmund Freud, der die Heilung der Psyche dadurch in Gang bringt, dass sich der Patient der ungeschminkten Wirklichkeit stellt, seine Verdrängungen auflöst und zusammen mit dem Therapeuten eine falsche Verursachung oder Verdrängung überwindet. Die tatsächlichen Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen weichen oft grundsätzlich von den Vorstellungen und subjektiven psychischen Wahrheiten der Menschen ab. Dies sichert zwar nach Freud ein kurzfristiges Überleben im Alltag, bleibt aber als psychische Krankheit schädigend erhalten und muss in einem schmerzhaften Lernprozess zusammen mit dem Therapeuten angegangen und neu bewältigt werden. Dadurch wird die Grundlage zur Heilung angelegt.

Dôgen arbeitet so den Unterschied zwischen einem vorgestellten und ausgedachten Zusammenhang von Ursache und Wirkung und der Wirklichkeit von Ursache und Wirkung selbst heraus. In einem anderen Kapitel erklärt er, dass das Wirklichkeitsgesetz von Ursache und Wirkung mit der buddhistischen Theorie des Handelns im Augenblick keinesfalls im Widerspruch steht. Dies wurde und wird in der Tat von manchen Zen-Buddhisten und sogar von Lehrern fälschlich vertreten und sogar gelehrt.

Weil diese Wirkungen, Formen, die Natur, der Körper und die Energie direkt miteinander verbunden sind, ist dies die wirkliche Form. Weil diese Wirkungen die Formen, die Natur, den Körper und die Energie nicht beschränken, sind sie wirkliche Formen. Wenn man die Verbindung miteinander so belässt, sagt dies 80 oder 90% der Wirklichkeit aus. Wenn man es so belässt, dass es keine gegenseitige Beschränkung gibt, ist das ein Ausdruck der vollständigen Verwirklichung. Die Aussage: „Formen wie sie sind“, bedeutet nicht eine einzelne Form und auch keine Verallgemeinerung, sondern dies ist nicht zählbar, ohne Grenzen nicht vollständig in Worten auszudrücken und die Wirklichkeit selbst, die nicht mit dem Verstand ausgelotet werden kann. Maßeinheiten wie hundert oder tausend sind ebenfalls nicht brauchbar. Dôgen sagt hierzu wörtlich:

“Wir sollten als Maß (nur) das Maß aller Dharmas verwenden und wir sollten als Maß (nur) das Maß der wirklichen Form gebrauchen. Der Grund ist, dass die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas vollständig verwirklichen können, dass alle Dharma wirkliche Formen sind.“

Freitag, 13. Juni 2008

Die Übertragung des Buddha-Dharma von Angesicht zu Angesicht.

Der Buddha-Dharma wird in Ostasien immer von Angesicht zu Angesicht vom Meister auf den Schüler übertragen. Dies ist ein umfassender, ganzheitlicher Vorgang im Augenblick, der zwar durch eine Zeremonie gegliedert ist, aber durch die unmittelbare, intuitive Erfahrung und das Erleben gekennzeichnet ist.

Die Übertragung wird nicht dafür gegeben, weil bestimmtes Wissen und die Eckpunkte der Theorie des Buddhismus abgefragt und bestätigt wurden und ist nicht mit einem Examen wie in der westlichen Ausbildung zu vergleichen. Die Kenntnis der buddhistischen Lehre, zum Beispiel der wesentlichen Sûtras, ist zwar wichtig, aber nicht ausreichend für das buddhistische Vertrauen des Meisters in den Schüler, das Voraussetzung für die Dharma-Übertragung ist. Durch den engen unmittelbaren Kontakt zwischen Lehrer und Schüler wird die Wirklichkeit des Hier und Jetzt für den Schüler erlernbar. Diese Wirklichkeit des ganzen Menschen wird an die nachfolgende Generation übergeben.

In Ostasien spielt dabei das tägliche Verhalten und Arbeiten, der Umgang mit anderen Menschen und vor allem die Ernsthaftigkeit bei der Suche nach Wirklichkeit und Wahrheit eine entscheidende Rolle. Nach Dôgen ist eine Übertragung unmöglich, wenn der Schüler nicht die Zazen-Praxis gründlich erlernt hat und sie auch wirklich ausübt. Der erfahrene Meister kann z. B. schon durch die Sitzhaltung beim Zazen erkennen, wie authentisch und richtig diese Übung ausgeführt wird.
Daher sitzt er so, dass er die Übenden von hinten oder von der Seite sehen kann, während die Schüler ihr Gesicht der Wand zuwenden. Es gibt eine tiefe, aufrichtige Verbindung vom Lehrer zum Schüler und umgekehrt, die ein hohes Maß an Vertrauen auf beiden Seiten voraussetzt und die deutlich darüber hinausgeht, nur bestimmte Fertigkeiten oder bestimmtes Wissen zu übermitteln. Eine persönliche Begegnung und tiefe Verbindung zwischen beiden ist daher Grundvoraussetzung für eine authentische Übertragung des Dharma. Diese ist damit verbunden, dass der vorherige Schüler dann selbst zum Meister wird und die Autorisierung erhält, selbst den Buddha-Dharma zu lehren und an andere Schüler weiter zu geben.

Damit sind wesentliche Eckpunkte dieses Kapitels (Kap. 57, Menju) gekennzeichnet. Nach zenbuddhistischem Verständnis hat Gautama Buddha zum ersten Mal den Buddha-Dharma auf Mahâkâshyapa übertragen, er hielt dabei eine Udumbara-Blüte empor, drehte sie in den Händen und Mahâkâshyapa lächelte in innigem Verständnis dabei. Daraufhin sagte Shakyamuni Buddha:
"Ich besitze die Schatzkammer des wahren Dharmaauges und den wunderbaren Geist des Nirwanas, ich übertrage sie an Mahâkâshyapa."

Der authentische Buddha-Dharma wurde dann von einer Generation zur anderen übertragen, bis er durch Bodhidharma nach China kam und weiter über Daikan Enô in verschiedenen Linien weiter übertragen wurde. Dôgen selbst gehört der Linie über seinen eigenen Meister Tendô Nyojô an, brachte den Dharma nach Japan, wo er schließlich zu Kodo Sawaki, Renpo Niwa und Nishijima Roshi übermittelt wurde. Eine solche Übertragung erfolgte immer von Angesicht zu Angesicht, Meister und Schüler waren also im Hier und Jetzt der Gegenwart und damit in der Wirklichkeit anwesend. Damit realisiert sich je die Wahrheit des Buddhismus und bleibt dadurch lebendig, aussagekräftig und umfassend. Dôgen sagt hierzu:

"Der ehrwürdige Mahâkâshyapa erhielt die Übertragung von Angesicht zu Angesicht durch den Geist, den Körper und die Augen (seines Meisters). Er verehrte Shakyamuni Buddha, brachte ihm Gaben dar, warf sich vor ihm nieder und diente ihm. Er machte unendlich viele und enorme Anstrengungen und niemand weiß, durch wie viele Tausende und Zehntausende Veränderungen er ging. Sein Gesicht und seine Augen waren nicht (mehr) sein (früheres) Gesicht und seine (früheren) Augen, denn der Tathagata übertrug ihm unmittelbar sein Gesicht und seine Augen."

Gesicht und Augen werden dabei von Dôgen als Gleichnis verwendet, die die Identität zwischen Schüler und Meister bezeichnen und vor allem das umfassende Verständnis und die ganzheitliche Sichtweise des Lebens und der Welt durch den Begriff der Augen wiedergeben. Der Dharma wird also immer unter vier Augen übergeben und dies wird in einem authentischen Dokument verbrieft. In der Linie von Dôgen und Nishijima Roshi werden die Namen aller Meister der Übertragungslinie auf weiße Seide geschrieben. Dabei wird ein Kreis gebildet, der mit Gautama Buddha seinen Anfang hat und mit den Namen der letzten Dharma-Übertragung endet. Alle diese Namen werden dann durch eine rote Linie miteinander verbunden, sodass ein Kreis der verbundenen Namen aller vorangegangener Meister entsteht.

Dôgen betont, dass man im Augenblick der Übertragung erfährt, dass Gautama Buddha selbst und alle Meister im Augenblick hier und jetzt anwesend sind und dass man sich die Übertragungslinie nicht als abstrakten Vorgang der Geschichte vorstellen soll. Er sagt:

"Wenn das Angesicht übertragen wird, wird es immer an dem Ort des Angesichts empfangen und weitergegeben. (Die Buddhas) benutzen den Geist und sie geben und empfangen die Übertragung von Geist zu Geist durch den Geist. Sie verwirklichen den Körper und sie geben und empfangen die Übertragung von Körper zu Körper durch den Körper“

Auf diese Weise werde die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges übermittelt. Er betont den ganzheitlichen Aspekt der Übertragung, die schneller und unmittelbarer vor sich gehe, als dies gedacht oder gesagt werden könne. Er sagt weiterhin, dass bevor der Schüler ein einziges Wort erfasst oder den halben Satz verstanden habe, die authentische Übertragung von Angesicht zu Angesicht gegenwärtig sei. Dabei ist die tiefe Verehrung des Schülers gegenüber dem Meister selbstverständlich, denn der lange gründliche Lernprozess des Schülers ist nur durch umfassendes Vertrauen zum Lehrer möglich.
Wie Dôgen an anderer Stelle betont, ist es sehr schwierig, den Buddha-Dharma zu finden, zu erlernen und zu praktizieren, wenn man nicht einem wahren Lehrer begegnet ist und umfassend die intuitive Weisheit der buddhistischen Lehre erlernt habe. Die Suche nach einem wahren Lehrer ist daher von größter Bedeutung und Dôgen ist selbst ein Beispiel dafür, dass man eventuell unter erheblichen Schwierigkeiten in ein fremdes Land reisen muss, bis man endlich den richtigen Lehrer gefunden hat.
Dôgen sagt, die Übertragung des Buddha Dharma
„ist das Geben und Empfangen eines Gesichts, dem nichts fehlt und dem nichts hinzugefügt wird. Ihr solltet euch glücklich schätzen, dieser Übertragung von Angesicht zu Angesicht begegnet zu sein. Ihr solltet an sie glauben, sie annehmen und ihr ehrerbietig dienen, auch wenn es euer eigenes Gesicht ist.“

Dôgen kritisiert gegen Ende dieses Kapitels einen angeblichen Meister (Shoko), der schon selbst zum Meister ernannt worden war und dann die Schriften des großen Meisters Unmon intensiv studierte. Er war dann der Meinung, dass er die buddhistische Lehre dieses Meisters vollständig verstanden habe, obgleich er nur dessen Schriften studiert hatte. Er behauptete von da an, dass er der Nachfolger von Meister Unmon sei, ohne dass er diesen persönlich gekannt hatte und ihm nicht von Angesicht zu Angesicht begegnet war. Für Dôgen ist daher der Dharma nicht authentisch übertragen worden, denn die Schriften allein können die tiefe Verbindung von Angesicht zu Angesicht auf keinen Fall ersetzen. Dôgen sagt:
„Du (Shoko) hast keinen Meister gesehen und keinen Dharma Vorfahren gekannt. Du kennst und siehst nicht einmal Dich selbst. Es gibt keinen Meister, der Dich gesehen hätte, Du hast nicht erfahren, dass der Meister sein Auge öffnet. In Wahrheit ist es Deine Sichtweise die nicht vollkommen und Deine Dharma Nachfolge, die nicht reif ist.“

Es ist bekannt, dass Meister Unmon bereits vor 100 Jahren gestorben war, als Shoko die Behauptung der Dharma - Nachfolge aufstellte und sich entsprechend verhielt. Er fügt hinzu, dass ein Erwachen, das sich auf geschriebene Texte stützt, immer von einem lebenden Meister bestätigt werden muss und eine solche Dharma-Übertragung im anderen Fall überhaupt nicht gültig ist. Er sagt:
„Shoko sollte sich immer wieder neue Strohsandalen kaufen, einen wahren Lehrer suchen und den Dharma empfangen.“

Sonntag, 1. Juni 2008

Der große Schatz von Buddhas Sûtras.

Dieses Kapitel Nr. 52 hat auf Japanisch denselben Titel Bukkyo wie Kapitel 24, in dem die Lehren Buddhas behandelt werden. Hier geht es vertieft um den Sinn und den Wert der Sûtras selbst, das heißt, die geschriebene buddhistische Lehre.

Dôgen verdeutlicht am Anfang, dass die Buchstaben, Worte und Theorien allein nicht ausreichen, sondern dass die Sûtras identisch mit dem Universum, den Dingen und Phänomenen sind. Dies alles verwirklicht sich beim Handeln in der Praxis des Alltags. Er wendet sich gegen einseitige Lehrmeinungen im damaligen China, welche die Lehren und Sûtras für überflüssig erklären und die sich nicht oder unzureichend mit ihnen beschäftigen. Es sei unsinnig zu behaupten, dass die Arbeit an den Sûtras verlorene Zeit sei oder Schaden anrichtet, wenn man auf dem Buddhaweg lernt. Er betont in diesem Kapitel ganz klar, dass es unbedingt notwendig ist, sich mit den überlieferten buddhistischen Schriften, also den Sûtras, eingehend und gründlich zu beschäftigen und hält dies für unabdingbar, um zum wahren Kern des Buddha-Dharma vorzudringen. Angebliche buddhistische Schulen, die nur die Praxis als wesentlich ansehen und Buddhas geschriebene Lehren verachten, sind aus seiner Sicht schädlich und gefährlich für den Weg des Erwachens. Die Sûtras sind für ihn

"die konkrete Offenbarung des ganzen Universums, das hier und jetzt die wahre Wirklichkeit ist."

Er sagt am Anfang des Kapitels:

"Alle Buddhas und Dharma-Vorfahren in Indien und China haben sich zweifellos einerseits auf einen guten Lehrer und andererseits auf die Sûtras gestützt.“
Es ist in der Tat nicht vorstellbar, dass die buddhistische Lehre, die keineswegs als einfach und eindimensional bezeichnet werden kann, ohne schriftliche Unterlagen studiert und erlernt werden kann. Wenn man sich das umfangreiche Schrifttum der Lehrreden des Gautama Buddha selbst oder die vielen Bände des Mahâyâna-Buddhismus vergegenwärtigt, kann eine derartige Fülle von Lehren, Anweisungen, Gleichnissen und philosophischen Untersuchungen kaum allein mündlich durch den Lehrer übermittelt werden. Es ist noch viel weniger möglich, dass ein Schüler diese Lehren ganz eigenständig erarbeiten kann. Dies wäre auch völlig unsinnig, da wertvolle unabdingbare überlieferte Informationen im Lernprozess notwendig sind und nicht weggelassen werden können. Sonst können Umwege und schmerzliche Sackgassen nicht vermieden werden.
Gerade die authentischen Schriften von Gautama Buddha und den großen Meistern wie Nagarjuna und Dôgen selbst sind von unschätzbarem Wert und für jeden ernsthaften Schüler auf dem Buddhaweg unerlässlich. Auf der anderen Seite warnt Dôgen häufig davor, sich in theoretischen Abstraktionen zu verlieren und die buddhistische Lehre nur als philosophischen Gedankenkomplex zu verstehen. Die Kommentatoren und theoretischen Lehrer des Buddhismus könnten nämlich nur einen Teil des lebenden Buddha-Dharma selbst verstehen, erfahren und an Schüler weitergeben.

Peter Gäng schätzt, dass die gesamten Schriften allein des Mahâyâna-Buddhismus etwa den zehnfachen Umfang der griechischen Philosophie haben, die etwa in der gleichen Zeit entstanden ist. Beides wurzelt in den indo-europäischen Sprachen, Denkwelten und den überwiegend unbewussten kulturellen Vorstellungen. Beide Weltanschauungen benutzen also die selben zugrunde liegenden Weltanschauungen und gefühlsmäßigen Strukturierungen des Menschen und der Welt.
Gautama Buddha geht jedoch darüber hinaus und hat die strikte Trennung von Philosophie einerseits und Handeln und praktischem Alltag andererseits abgelehnt und damit den Weg zur Überwindung des Leidens gewiesen. Ganz wesentlich sind dabei die Methoden der Meditation und Imagination und vor allem des Samadhi, also der Zazen-Praxis, bei der „Körper und Geist“, also das gewöhnliche Ich, fallen gelassen werden. Ähnliche Methoden sind aus der griechisch-europäischen Kultur nicht bekannt.

Ein großer Unterschied ist darin zu sehen, dass Gautama Buddha sich nicht als Philosoph, sondern als Heiler verstand, der den Menschen einen Ausweg aus unnötigen und selbst erzeugten Leiden lehren konnte. Dabei sind psychische Krankheiten und die existenzielle Angst vor Alter, Krankheit und Tod von zentraler Bedeutung.

Dôgen lehrt im Shôbôgenzô zweifellos das ganze Spektrum und die ganze Bandbreite der buddhistischen Lehre und beschränkt sich nicht auf die theoretischen und philosophischen Aspekte. Aber er begeht auch nicht den Fehler, dass er diese Lehre abwertet und für unwesentlich oder sogar schädlich erklärt. Leider ist eine solche Theorie-Feindlichkeit bei einigen zenbuddhistischen Gruppen zu beobachten. Dies galt zu Dôgens Zeiten, trifft aber auch heute sowohl im Osten als auch im Westen zu. Sicher trägt dazu auch eine falsch verstandene Koan-Methodik bei, bei der die Vernunft und das Denken der Menschen oft lächerlich gemacht und geradezu als Merkmal der Nicht-Buddhisten angesehen werden. Dabei drängt sich nach Dôgen der Verdacht auf, dass es sich eher um die Trägheit des Denkens handelt.
Wie Nishijima Roshi herausgearbeitet hat, lassen sich die Koan-Geschichten mit intuitiver Vernunft entschlüsseln und ´erfassen´. Nach dem Verständnis von Meister Dôgen sollen die Koans zwar die Grenzen des diskursiven Denkens und der Sprache aufzeigen, aber sie haben nicht den Sinn, das Denken zu diffamieren oder allgemein als völlig überflüssig oder gar gefährlich zu brandmarken.
Dôgen sagt:

"Gute Lehrer haben alle ein tiefes Verständnis der Sûtras. Ein tiefes Verständnis zu haben bedeutet, dass sie die Sûtras als ihren Lebensbereich und ihren Körper und Geist ansehen. Sie entwickeln die Sûtras zu einem Werkzeug, um anderen Menschen die Lehre darzulegen."

In diesem Zitat kommt die unauflösbare Verbindung der Sûtras mit den jeweiligen Lehrern zum Ausdruck und verdeutlicht, dass es sich beim Schüler um einen ganzheitlichen Lernprozess auf dem Buddha-Weg handelt. Dôgen hebt in diesem Zusammenhang auch die Zazen-Praxis hervor und betont, dass die guten Lehrer die in den Sûtras enthaltenen Lehren und die Praxis selbst erforscht und praktiziert haben. Er erläutert:

"Das Gesicht zu waschen und Tee zu trinken ist das ewige Sûtra eines guten Lehrers."

Es ist bemerkenswert, dass er die Natur selbst als Sûtra versteht. Er verweist auf das große Erwachen von Gautama Buddha selbst, als dieser den Morgenstern am Himmel in der Natur erblickte. Es wird weiter auf die berühmten Geschichten des Erwachens alter Meister beim Anblick der Pfirsichblüten und dem besonderen Klang hingewiesen, der entstand, als ein kleiner Stein ein Bambusrohr traf.
Dôgen sagt im Folgenden:

"Was ich hier die Sûtras nenne, ist das ganze Universum der zehn Richtungen, denn wie könnte es irgendeine Zeit oder irgendeinen Ort geben, der nicht dasselbe wäre wie die Sûtras."

Schriften bestehen aus Worten und Sätzen, diese sind sozusagen die Einzelelemente der Texte. In gleicher Weise gibt es eine Vielzahl von Dingen und Phänomenen im Universum, die als Teile oder Elemente der Sûtras für den lernenden Buddhisten wirksam sind. Als Beispiele werden die "Grashalme und zehntausend Bäume" genannt. Dôgen zählt in diesem Zusammenhang die vielfältigen Formen, Farben, Gerüche usw. auf, welche unsere Lebenswelt und das Universum kennzeichnen. Alle diese Dinge und Phänomene gehören zu den Sûtras. Er erläutert, dass sie die Fähigkeit haben, das große Tor des Buddhismus zu öffnen,

"um die Menschen zu unterweisen, und sie schließen dabei keinen einzigen Menschen und keine einzige Familie auf der ganzen Erde aus."

Damit spricht er den wichtigen Gedanken an, dass auch die Menschen, denen leider der Zugang zu einem guten Lehrer verwehrt ist, die Sûtras lesen und erfahren können. Sie sind also wirklich jedem Menschen zugänglich, wenn er den Bodhi-Geist erweckt hat und auf der Suche nach der Wahrheit ist. Gerade im Westen sind die Bücher und Sûtras zur buddhistischen Lehre oft der ´Tür-Öffner´ zum Buddha-Dharma und markieren die ersten wichtigen Schritte auf dem Buddha-Weg. Dies ist umso wichtiger, da es sicher im Westen noch nicht viele gute und verlässliche Lehrer und Meister gibt.

Nach Dôgen ist die Buddha-Weisheit keine künstlich erdachte Theorie, sondern beschreibt die wahre Natur des Menschen und des Universums. Es ist also kein Glasperlenspiel der Fantasie und keine utopische Welt von Idealisten, sondern die Wirklichkeit in ihrer Farbigkeit und Vielfalt selbst, in der wir täglich leben, arbeiten und lieben. Für alle diese vielfältigen Formen der Sûtras gilt, dass man sie ganzheitlich empfängt, bewahrt, liest und auch rezitiert und "dass sie uns ganz in sich aufnehmen und völlig verzehren."

Dôgen weist auf die Praxis des Handelns und Arbeitens gerade im Zusammenhang mit den Sûtras hin. Er erinnert daran, dass zum Beispiel der große Meister Daikan Enô ´nur´ ein Arbeiter im Kloster war und durch sein Handeln und durch seine Arbeit die große Lehre des Dharma und der Sûtras im Einflussbereich eines Meisters erlernte. Die Begegnung mit seinem eigenen Meister und die Dharma-Übertragung wurden weitgehend ohne Worte und im Handeln selbst vollzogen. Dôgen sagt weiter:

"Sich mit anderen Praktizierenden um die Wahrheit zu bemühen und sich beim Zazen anzustrengen, war seit alten Zeiten das Sûtra, das am Anfang und am Ende Recht ist. Es ist das Sûtra, das auf die Blätter des Bodhi-Baums und in den leeren Raum geschrieben wird."

Es gibt viele Geschichten, wie die Sûtras von großen Meistern gelehrt werden, ohne dass viele Worte benutzt und Texte rezitiert werden. Dies wird im ersten Kapitel von "Buddhas Lehren" im Einzelnen wiedergegeben.

Er zitiert seinen eigenen Meister Tendô Nyojô, der großen Wert darauf gelegt hatte, dass das Sûtra-Lesen nicht ein formaler äußerlicher Vorgang bleibt, sondern den ganzen Menschen erfasst. Die Zazen-Praxis sei daher bei vielen Mönchen das wahre Sûtra-Lesen, während das Studium der Schriften bei vielen leider zu oberflächlich und losgelöst von der eigenen Erfahrung sei.

"Da die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, die sich jetzt verwirklicht, nichts anderes als Buddhas Sûtra ist, ist alles was jetzt als Buddhas Sûtra existiert, die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges."

Er warnt uns allerdings davor, dass wir zu schnell und zu selbstgerecht glauben, dass wir die Sûtras allein mit dem Denken völlig ergründen können. Hier wird die von ihm aufgezeigte Grenze der Lehre, des Schrifttums und der Texte der Sûtras deutlich.

Im Folgenden kritisiert Dôgen in aller Deutlichkeit, dass selbst damals in China nur wenige Meister lebten, die die ganze Wahrheit des Sûtra-Lesens verstanden und praktiziert hätten. Er gibt dafür einen Zeitraum von etwa zweihundert Jahren vor seiner Ankunft an und macht damit deutlich, dass der Buddhismus in China etwa um Eintausend nach unserer Zeitrechnung bereits im Niedergang begriffen war. Diese Einschätzung wird auch von seinem eigenen Lehrer Tendô Nyojô geteilt und ist uns von ihm überliefert. Dôgen sagt:

"Solche nicht vertrauenswürdigen Menschen gibt es (so zahlreich) wie Reis, Flachs, Bambus und Schilf. Dennoch steigen sie auf den Löwensitz (des Meisters), gründen Klöster im ganzen Land und werden die Lehrer der Menschen und Götter“.

Er sieht es als schwerwiegendes Problem an, dass die Schüler dieser Lehrer nicht den wahren Dharma erlernen können und nicht wissen, was die Sûtras wirklich bedeuten. Derartige Meister könnten zwar imponierende Gesten erzeugen und schöne Sätze formulieren, die sie zum Beispiel der Geschichte des Zen-Buddhismus entnehmen. Die wahre Bedeutung der Sûtras bleibt ihnen aber verborgen, da sie den Sinn und die Wahrheit dieser Gesten und Sätze überhaupt nicht erfahren haben und daher auch nicht übermitteln können.

Für Dôgen ist die Weitergabe des Buddha-Dharma von Angesicht zu Angesicht in einem lebendigen Augenblick zwischen Lehrer und Schüler von zentraler Bedeutung. Dadurch entsteht ein ganzheitlicher wahrer Zustand, den es nur im Augenblick der Anwesenheit und wie er sagt, im „Angesicht der beiden Menschen“ geben kann. In vielen Zen-Geschichten wird zum Beispiel von dem tiefen Verständnis gesprochen, wenn sich Meister und Schüler in die Augen sehen und sich mit intuitiver Klarheit ´erkennen´. Er betont, dass die Weitergabe von Angesicht zu Angesicht notwendig war, um den wahren Buddha-Dharma in den authentischen Übertragungslinien weiterzugeben.
Er hebt hervor, dass sonst die wahre buddhistische Lehre, also die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, überhaupt nicht bis in seine Zeit gelangt wäre. Für falsche Lehrer sei es unmöglich, "die Wirklichkeit des ganzen Universums auf der Grundlage der Grenzenlosigkeit des gegenwärtigen Augenblicks zu klären".
Dies sei die großartige Kraft der buddhistischen Lehre und unterscheide sich von den Philosophien des Konfuzius und Laotse, die von solchen Lehrern fälschlich als gleichwertig angesehen würden. Dôgen berichtet in diesem Zusammenhang von einem selbst ernannten Meister, der sich sogar als Nachfolger eines längst verstorbenen Meisters fühlte und auch so auftrat.
Dôgen sagt gegen Ende dieses Kapitels:

"Jenen nicht vertrauenswürdigen Menschen möchte ich folgendes sagen: Wenn es so ist, wie ihr sagt, dass man Buddhas Sûtras ablehnen müsse, muss man auch Buddhas Geist und Körper ablehnen. Wenn man Buddhas Körper und Geist verwirft, muss man auch Buddhas Schüler verwerfen. Buddhas Schüler zu verwerfen bedeutet, Buddhas Wahrheit zu verwerfen."

Schließlich warnt er davor, falschen Lehrern unbedingt zu glauben, die aus fremden Ländern kommen und von sich behaupten, dass sie den wahren Buddha-Dharma lehren und die Sûtras tiefgründig verstanden hätten. Er spricht dabei sicher Reisende aus Indien und China an, die nicht einer authentischen Übertragungslinie angehören und daher keine wahren Lehrer sind. Er erinnert daran, dass Daikan Enô Arbeiter in einem Kloster war und ihm der wahre Dharma übertragen wurde, weil er die wahren lebenden Sûtras ergründet hatte und nicht nur schriftliche Texte studierte. Dôgen sagt am Ende des Kapitels:

"Ihr solltet die großen und weiten Buchstaben des Sûtras und ihren tiefen Sinn wie die Berge und Ozeane erfahren und erforschen und sie als Richtlinien für euer Bemühen um die Wahrheit ansehen."